Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.Die journalistische Umistkritik, die Tageskritik ihr Augenmerk darauf richten sollen, daß sie unter Anerkennung Es wäre um eine sehr dankbare und geeignete Aufgabe für die journa¬ Die journalistische Umistkritik, die Tageskritik ihr Augenmerk darauf richten sollen, daß sie unter Anerkennung Es wäre um eine sehr dankbare und geeignete Aufgabe für die journa¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0155" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151620"/> <fw type="header" place="top"> Die journalistische Umistkritik,</fw><lb/> <p xml:id="ID_482" prev="#ID_481"> die Tageskritik ihr Augenmerk darauf richten sollen, daß sie unter Anerkennung<lb/> von Wagners persönlicher Genialität die Ideale dieses Mannes nicht zur Herr¬<lb/> schaft in der Kunst hätte kommen lassen, da sie als Normen für die künstlerische<lb/> Produktion fernerer Zeiten nur verderblich wirken können. Das Menschheitsideal<lb/> der Renaissancezeit war ein umfassendes, körperliche und seelische Schönheit und<lb/> Vollkommenheit in sich begreifendes. Dasselbe erkennen wir auch noch in der<lb/> klassischen Epoche unsrer nationalen Dichter und Musiker zu Ende des vorigen<lb/> und Anfang dieses Jahrhunderts, Dann kam eine Zeit faber Schöngeisterei,<lb/> in welcher die Berliner Theezirkcl den Ton in der Kunst angaben, und auf<lb/> diese folgte dann mit einer erklärlichen, von der Entrüstung einer kraftvoll<lb/> genialen Natur durchdrungnen Plötzlichkeit die Wagnersche Reaktion, die der<lb/> sinnlichen Menschennatur ihre Existenzberechtigung auch in der Kunst wieder<lb/> zurückverlangte. Aber leider ist Wagner über diesen vorwiegend negativen<lb/> Standpunkt nicht hinausgekommen, ähnlich wie die analogen Bestrebungen auf<lb/> sozialem Gebiete, soweit sie in den revolutionären, zunächst nur gegen die Über¬<lb/> macht ungerechter gesellschaftlicher Zustände gerichteten Bestrebungen ihren<lb/> Ausdruck gefunden haben. Wie ein positives Ideal der Sozialdemokratie,<lb/> wenigstens bei den Radikalen, nicht zu fassen war, so fehlte auch dem Wagnerschen<lb/> Menschheitsideale jeder Seelenadel, jeder höhere ethische Zug, durch den sich<lb/> das Menschheitsideal des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, soweit es<lb/> in italienischer und deutscher Kunst zum Ausdruck kommt, so harmonisch ver¬<lb/> vollständigte.</p><lb/> <p xml:id="ID_483" next="#ID_484"> Es wäre um eine sehr dankbare und geeignete Aufgabe für die journa¬<lb/> listische Kritik, wenn sie, statt über gleichgiltige Schönheitsfragen der Wagnerschen<lb/> Musik und Dichtung zu disputiren, deren Wirkungen doch nun einmal nicht<lb/> zu bestreiten sind, ihre Thätigkeit der ungleich wichtigern Frage nach der Be¬<lb/> schaffenheit des von Wagner aufgestellten und von seinen Anhängern gepredigten<lb/> Menschheitsideals zuwenden wollte, damit sich an ihr nicht bewahrheite, was<lb/> Mephistopheles von den Studenten sagte: „Das Völkchen spürt den Teufel<lb/> nie, und wenn er sie am Kragen hätte," Es gilt, ein Menschheitsideal auf<lb/> neuem Boden, aber in dem alten Sinne zu erfassen, in welchem sinnliche und<lb/> seelische Schönheit sich zu einem Gesamtbilde vereinigen. Ein solches Ideal<lb/> wird, unter neuen gesellschaftlichen und künstlerischen Voraussetzungen, natürlich<lb/> ein andres sein wie dasjenige früherer Zeiten, und dennoch im innersten Kern wieder<lb/> dasselbe, in eben dem Maße und mit eben den Einschränkungen, wie die mensch¬<lb/> liche Natur in wahrnehmbaren Zeiträumen immer dieselbe bleibt. Jetzt fehlt<lb/> uns ein solches Ideal, zu welchem alle emporblicken; zu einem Wagnerschen<lb/> Idealmenschen kann man doch nicht wohl emporblicken, denn das Reinmensch¬<lb/> liche im Sinne des Idealen kann nicht der ungeschliffene Naturmensch sein,<lb/> sondern nur der Kulturmensch, der sich auf dem höchsten Standpunkte seiner<lb/> Entwicklung der einfachen Natürlichkeit wieder bewußt wird. Nur die Seele</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0155]
Die journalistische Umistkritik,
die Tageskritik ihr Augenmerk darauf richten sollen, daß sie unter Anerkennung
von Wagners persönlicher Genialität die Ideale dieses Mannes nicht zur Herr¬
schaft in der Kunst hätte kommen lassen, da sie als Normen für die künstlerische
Produktion fernerer Zeiten nur verderblich wirken können. Das Menschheitsideal
der Renaissancezeit war ein umfassendes, körperliche und seelische Schönheit und
Vollkommenheit in sich begreifendes. Dasselbe erkennen wir auch noch in der
klassischen Epoche unsrer nationalen Dichter und Musiker zu Ende des vorigen
und Anfang dieses Jahrhunderts, Dann kam eine Zeit faber Schöngeisterei,
in welcher die Berliner Theezirkcl den Ton in der Kunst angaben, und auf
diese folgte dann mit einer erklärlichen, von der Entrüstung einer kraftvoll
genialen Natur durchdrungnen Plötzlichkeit die Wagnersche Reaktion, die der
sinnlichen Menschennatur ihre Existenzberechtigung auch in der Kunst wieder
zurückverlangte. Aber leider ist Wagner über diesen vorwiegend negativen
Standpunkt nicht hinausgekommen, ähnlich wie die analogen Bestrebungen auf
sozialem Gebiete, soweit sie in den revolutionären, zunächst nur gegen die Über¬
macht ungerechter gesellschaftlicher Zustände gerichteten Bestrebungen ihren
Ausdruck gefunden haben. Wie ein positives Ideal der Sozialdemokratie,
wenigstens bei den Radikalen, nicht zu fassen war, so fehlte auch dem Wagnerschen
Menschheitsideale jeder Seelenadel, jeder höhere ethische Zug, durch den sich
das Menschheitsideal des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, soweit es
in italienischer und deutscher Kunst zum Ausdruck kommt, so harmonisch ver¬
vollständigte.
Es wäre um eine sehr dankbare und geeignete Aufgabe für die journa¬
listische Kritik, wenn sie, statt über gleichgiltige Schönheitsfragen der Wagnerschen
Musik und Dichtung zu disputiren, deren Wirkungen doch nun einmal nicht
zu bestreiten sind, ihre Thätigkeit der ungleich wichtigern Frage nach der Be¬
schaffenheit des von Wagner aufgestellten und von seinen Anhängern gepredigten
Menschheitsideals zuwenden wollte, damit sich an ihr nicht bewahrheite, was
Mephistopheles von den Studenten sagte: „Das Völkchen spürt den Teufel
nie, und wenn er sie am Kragen hätte," Es gilt, ein Menschheitsideal auf
neuem Boden, aber in dem alten Sinne zu erfassen, in welchem sinnliche und
seelische Schönheit sich zu einem Gesamtbilde vereinigen. Ein solches Ideal
wird, unter neuen gesellschaftlichen und künstlerischen Voraussetzungen, natürlich
ein andres sein wie dasjenige früherer Zeiten, und dennoch im innersten Kern wieder
dasselbe, in eben dem Maße und mit eben den Einschränkungen, wie die mensch¬
liche Natur in wahrnehmbaren Zeiträumen immer dieselbe bleibt. Jetzt fehlt
uns ein solches Ideal, zu welchem alle emporblicken; zu einem Wagnerschen
Idealmenschen kann man doch nicht wohl emporblicken, denn das Reinmensch¬
liche im Sinne des Idealen kann nicht der ungeschliffene Naturmensch sein,
sondern nur der Kulturmensch, der sich auf dem höchsten Standpunkte seiner
Entwicklung der einfachen Natürlichkeit wieder bewußt wird. Nur die Seele
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