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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Zwei Shakespeare-Essays.

die sie in ihm wiederfinde" wollen und (wenn sie nicht gegen ihr eignes Fleisch
wüten wollen) wiederfinden müssen, und sehen um dieser Konstruktion willen
das allernächstliegende nicht. Der eine stellt eine These auf, die er mit einer
fast unbegreiflichen Verkennung der dramatischen Thatsachen durch alle Szenen
und Charaktere des Stückes versieht, der andre läßt das Drama selbst gleichsam
als "zur Statue entgeistert" unter sich liegen und sucht über seiner Stosfwelt
den dichterischen Gedanken auf. Was die Gestalten Shakespeares stich und thun,
ist ihm nichts gegen das, was sie bedeuten.

Der Hamlet-Interpret beginnt mit einem maßvollen Angriff gegen alle
diejenigen, welche die Ansicht vertreten, die dem Hamlet übertragene Mission
sei entweder überhaupt oder doch aus individuellen Gründen unlösbar, und rä-
sonnirt wie folgt: "Wie sollte auch -- von allem andern ganz abgesehen --
der Dichter so grausam gewesen sein, dem Helden seines Dramas eine ihrer
Natur nach unmögliche Leistung aufzuerlegen? Wie wäre ihm vollends der
wahrhaft tückische Hohn, ja die augenscheinliche Selbstvcrhöhnung zuzutrauen,
einem von ihm als sür die Aufgabe untauglich gedachten Hamlet dennoch schlie߬
lich die Tötung des Claudius zu übertragen, zumal sich ihm in dem von
letzterem zur Meuchelung des Prinzen verführten Laertes ein andrer, jenes
Falles geeigneter Vollstrecker der That völlig ungesucht darbot?" Welch ein
Standpunkt! Und wie geht aus diesen Worten die subjektive Befangenheit und
Willkür des Erklärers, die er sogar dem Dichter imputiren möchte, bis zur Ver¬
blüffung deutlich hervor! Was läge denn in aller Welt für eine Grausamkeit
des Dichters darin, wenn er das tragische Mißverhältnis zwischen Kraft und
Last, das uns das Leben, selbst in seinen alltäglichsten Erscheinungsformen, fast
stündlich vor Augen führt, in einem Typus künstlerisch erschütternd verkörperte?
Und wie versperrt sich der Erklärer selbst die Wege zur Erkenntnis, wenn er
aus diesem geradezu lächerlich philanthropischen Grunde (aus Rücksichten der
Billigkeit gegen eine dichterische Figur!) die Richtigkeit der bekämpften Deutung
von vornherein für ausgeschlossen hält! Wie kann der Dichter überhaupt
grausam gegen seine Geschöpfe sein! Und was will der den Lavrtes betreffende
Passus? Schon die bloße Möglichkeit, dieser könne, wenn es zur Entscheidung
kommt, statt des Hamlet den tätlichen Streich gegen den König führen, zerreißt
das Gewebe der Handlung. Wenn es nur gälte, einem Meuchelmörder das
Schwert in den Leib zu bohren, wenn in der Vollziehung der äußern Justiz
das A und O des Dramas läge, dann dürfte man mit demselben Rechte fragen:
Wenn Lavrtes -- warum nicht auch Horatio, oder Osrick oder irgend jemand
von den Höflingen? Dies Erwägen von Möglichkeiten ist ebenso müßig wie
uMnstlerisch und beweist nur, daß der Erklärer nicht imstande ist. dem
Drama von seinen Voraussetzungen aus nahezukommen. Daß, so oder so,
das Eingreifen des Lasrtes eine Albernheit wäre, braucht dabei garnicht einmal
besonders betont zu werden. Die Bemerkung ist anscheinend gleichgiltiger Natur,


Zwei Shakespeare-Essays.

die sie in ihm wiederfinde» wollen und (wenn sie nicht gegen ihr eignes Fleisch
wüten wollen) wiederfinden müssen, und sehen um dieser Konstruktion willen
das allernächstliegende nicht. Der eine stellt eine These auf, die er mit einer
fast unbegreiflichen Verkennung der dramatischen Thatsachen durch alle Szenen
und Charaktere des Stückes versieht, der andre läßt das Drama selbst gleichsam
als „zur Statue entgeistert" unter sich liegen und sucht über seiner Stosfwelt
den dichterischen Gedanken auf. Was die Gestalten Shakespeares stich und thun,
ist ihm nichts gegen das, was sie bedeuten.

Der Hamlet-Interpret beginnt mit einem maßvollen Angriff gegen alle
diejenigen, welche die Ansicht vertreten, die dem Hamlet übertragene Mission
sei entweder überhaupt oder doch aus individuellen Gründen unlösbar, und rä-
sonnirt wie folgt: „Wie sollte auch — von allem andern ganz abgesehen —
der Dichter so grausam gewesen sein, dem Helden seines Dramas eine ihrer
Natur nach unmögliche Leistung aufzuerlegen? Wie wäre ihm vollends der
wahrhaft tückische Hohn, ja die augenscheinliche Selbstvcrhöhnung zuzutrauen,
einem von ihm als sür die Aufgabe untauglich gedachten Hamlet dennoch schlie߬
lich die Tötung des Claudius zu übertragen, zumal sich ihm in dem von
letzterem zur Meuchelung des Prinzen verführten Laertes ein andrer, jenes
Falles geeigneter Vollstrecker der That völlig ungesucht darbot?" Welch ein
Standpunkt! Und wie geht aus diesen Worten die subjektive Befangenheit und
Willkür des Erklärers, die er sogar dem Dichter imputiren möchte, bis zur Ver¬
blüffung deutlich hervor! Was läge denn in aller Welt für eine Grausamkeit
des Dichters darin, wenn er das tragische Mißverhältnis zwischen Kraft und
Last, das uns das Leben, selbst in seinen alltäglichsten Erscheinungsformen, fast
stündlich vor Augen führt, in einem Typus künstlerisch erschütternd verkörperte?
Und wie versperrt sich der Erklärer selbst die Wege zur Erkenntnis, wenn er
aus diesem geradezu lächerlich philanthropischen Grunde (aus Rücksichten der
Billigkeit gegen eine dichterische Figur!) die Richtigkeit der bekämpften Deutung
von vornherein für ausgeschlossen hält! Wie kann der Dichter überhaupt
grausam gegen seine Geschöpfe sein! Und was will der den Lavrtes betreffende
Passus? Schon die bloße Möglichkeit, dieser könne, wenn es zur Entscheidung
kommt, statt des Hamlet den tätlichen Streich gegen den König führen, zerreißt
das Gewebe der Handlung. Wenn es nur gälte, einem Meuchelmörder das
Schwert in den Leib zu bohren, wenn in der Vollziehung der äußern Justiz
das A und O des Dramas läge, dann dürfte man mit demselben Rechte fragen:
Wenn Lavrtes — warum nicht auch Horatio, oder Osrick oder irgend jemand
von den Höflingen? Dies Erwägen von Möglichkeiten ist ebenso müßig wie
uMnstlerisch und beweist nur, daß der Erklärer nicht imstande ist. dem
Drama von seinen Voraussetzungen aus nahezukommen. Daß, so oder so,
das Eingreifen des Lasrtes eine Albernheit wäre, braucht dabei garnicht einmal
besonders betont zu werden. Die Bemerkung ist anscheinend gleichgiltiger Natur,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/141>, abgerufen am 23.07.2024.