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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Kritiklosigkeit.

Welche nicht von dem Wunsche und dem Vermögen ausgeht, der Literatur im
höhern Sinne zu dienen, welche nicht mit festen, Wenns sein muß, strengen, aber
sich gleichbleibenden und überall angewandten Maßstäben die literarischen Pro¬
duktionen prüft, gar keine Kritik ist. kommt wenigen. Die Existenz einer Kritik,
welche für wissenschaftliche und literarische Leistungen aller außerhalb einer be¬
stimmten Clique stehenden die höchsten und für die Genossen des eignen Kreises
die niedersten Ansprüche stellt, einer Kritik, welche durch ihre Erörterungen und
Urteile weder die Wahrheit noch den guten Geschmack fördern, sondern einfach
verblüffen, Aufsehen erregen und dem Kritiker als Staffel in seinem Berufe und
seiner amtlichen Karriere' dienen soll, einer Kritik, bei welcher es sich wesentlich
darum handelt, eine Reihe von Vorgängern als "Ignoranten" oder "Dilettanten"
zu brandmarken oder einfach selbst nur als "verfluchter Kerl" zu erscheinen, einer
Kritik, welche die sämmtlichen Gehässigkeiten des politischen Parteikampfes aus
das Gebiet der Literatur und der Kunst überträgt, welche die gediegne Schöpfung
Pöbelhaft beschimpft, wenn sie vom Fraktionsgegner stammt, und das verächtliche
Machwerk angreift, wenn es aus dem Ringe der Gesinnungsgenossen kommt --
bessert am Übel der Kritiklosigkeit mahrlich nichts, sondern vermehrt dasselbe.
Es wäre unermeßlich viel gewonnen, wenn erst einmal die Verwechslung dieser
soeben kurz charakterisirten Kritik mit derjenigen aufhörte, der es noch wahrhaft
Ernst um die Dinge, um die Prinzipien (wohlgemerkt um die ästhetischen und
literarischen), um die Ehre und Würde der Literatur zu thun ist. Und es würde
noch viel mehr gewonnen sein, wenn innerhalb des gebildeten Publikums. dem
es doch an Selbstachtung nicht gebricht, zunächst so viel Besinnung erwachen
wollte, um sich Wahrheiten an solchen Stellen zu verbitte", wo sie einfach Un¬
wahrheiten, freche, gröbliche Unwahrheiten sind.

Da läuft zum Exempel durch eine ganze Reihe von Zeitungen ein Aufsatz:
.Die Toten des Jahres 1881," der in kurzer Uebersicht darüber belehrt, welche
Verluste Wissenschaft, Literatur und Kunst im Verlaufe des verflossenen Jahres
erlitten haben. Die Namen werden aufgezählt und kurze Charakteristiken hinzu¬
gefügt. Unter den namhaften Toten, welche die deutsche Literatur zu ver¬
zeichne" hat, steht der kosmopolitische Nachtwächter von einst, Franz Dingelstedt
obenan. Nachdem von ihm gerühmt worden, "daß er einer jener Dichter ge¬
wesen, welche mit Eifer und Erfolg für die Sache der Freiheit gegen die philister¬
hafte Alltäglichkeit eintraten," wird mit lakonischer Strenge hinzugefügt: "Als
Schriftsteller anregend, fesselnd und immer geistreich, fehlte ihm doch die sittliche
Würde, welche allein dauernde und große Erfolge zu erzielen vermag." Man
traut seinen Augen nicht, wenn man dergleichen in Feuilletons liest, in denen
für gewöhnlich doch jene "zeitgemäße" Literatur gepflegt wird, deren letzte Eigen¬
schaft sittliche Würde ist. Wir haben keinen Beruf, den verstorbenen Hofburg¬
theaterdirektor und Dichter um seiner Grundtendenzen willen hoch zu preisen.
Wo der Maßstab aus den großen Tagen unsrer Literatur oder auch nur der,


Kritiklosigkeit.

Welche nicht von dem Wunsche und dem Vermögen ausgeht, der Literatur im
höhern Sinne zu dienen, welche nicht mit festen, Wenns sein muß, strengen, aber
sich gleichbleibenden und überall angewandten Maßstäben die literarischen Pro¬
duktionen prüft, gar keine Kritik ist. kommt wenigen. Die Existenz einer Kritik,
welche für wissenschaftliche und literarische Leistungen aller außerhalb einer be¬
stimmten Clique stehenden die höchsten und für die Genossen des eignen Kreises
die niedersten Ansprüche stellt, einer Kritik, welche durch ihre Erörterungen und
Urteile weder die Wahrheit noch den guten Geschmack fördern, sondern einfach
verblüffen, Aufsehen erregen und dem Kritiker als Staffel in seinem Berufe und
seiner amtlichen Karriere' dienen soll, einer Kritik, bei welcher es sich wesentlich
darum handelt, eine Reihe von Vorgängern als „Ignoranten" oder „Dilettanten"
zu brandmarken oder einfach selbst nur als „verfluchter Kerl" zu erscheinen, einer
Kritik, welche die sämmtlichen Gehässigkeiten des politischen Parteikampfes aus
das Gebiet der Literatur und der Kunst überträgt, welche die gediegne Schöpfung
Pöbelhaft beschimpft, wenn sie vom Fraktionsgegner stammt, und das verächtliche
Machwerk angreift, wenn es aus dem Ringe der Gesinnungsgenossen kommt —
bessert am Übel der Kritiklosigkeit mahrlich nichts, sondern vermehrt dasselbe.
Es wäre unermeßlich viel gewonnen, wenn erst einmal die Verwechslung dieser
soeben kurz charakterisirten Kritik mit derjenigen aufhörte, der es noch wahrhaft
Ernst um die Dinge, um die Prinzipien (wohlgemerkt um die ästhetischen und
literarischen), um die Ehre und Würde der Literatur zu thun ist. Und es würde
noch viel mehr gewonnen sein, wenn innerhalb des gebildeten Publikums. dem
es doch an Selbstachtung nicht gebricht, zunächst so viel Besinnung erwachen
wollte, um sich Wahrheiten an solchen Stellen zu verbitte», wo sie einfach Un¬
wahrheiten, freche, gröbliche Unwahrheiten sind.

Da läuft zum Exempel durch eine ganze Reihe von Zeitungen ein Aufsatz:
.Die Toten des Jahres 1881," der in kurzer Uebersicht darüber belehrt, welche
Verluste Wissenschaft, Literatur und Kunst im Verlaufe des verflossenen Jahres
erlitten haben. Die Namen werden aufgezählt und kurze Charakteristiken hinzu¬
gefügt. Unter den namhaften Toten, welche die deutsche Literatur zu ver¬
zeichne» hat, steht der kosmopolitische Nachtwächter von einst, Franz Dingelstedt
obenan. Nachdem von ihm gerühmt worden, „daß er einer jener Dichter ge¬
wesen, welche mit Eifer und Erfolg für die Sache der Freiheit gegen die philister¬
hafte Alltäglichkeit eintraten," wird mit lakonischer Strenge hinzugefügt: „Als
Schriftsteller anregend, fesselnd und immer geistreich, fehlte ihm doch die sittliche
Würde, welche allein dauernde und große Erfolge zu erzielen vermag." Man
traut seinen Augen nicht, wenn man dergleichen in Feuilletons liest, in denen
für gewöhnlich doch jene „zeitgemäße" Literatur gepflegt wird, deren letzte Eigen¬
schaft sittliche Würde ist. Wir haben keinen Beruf, den verstorbenen Hofburg¬
theaterdirektor und Dichter um seiner Grundtendenzen willen hoch zu preisen.
Wo der Maßstab aus den großen Tagen unsrer Literatur oder auch nur der,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/47>, abgerufen am 22.07.2024.