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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die deutsche Bühne der Gegenwart.

dessen, was uns bei der ersten Bekanntschaft mit der Welt der Bretter ergriff,
so werden wir noch weit öfter durch andre getäuscht, die, vielleicht ein langes
Leben hindurch mit dem vielgestaltigen und buntscheckigen Organismus des Theaters
vertraut, kurz vor Sonnenuntergang zur Feder greifen und in ausgiebigen Me¬
moiren der entschwundenen Zeit und sich selbst ein Denkmal setzen. Gehen solche
Aufzeichnungen von Theaterleitern und Kritikern aus, so mag ihnen immer noch
eine gewisse Sachlichkeit eignen; giebt aber der Schauspieler selbst einen Abriß
seines Wirkens, eine Schilderung der Charaktere, mit denen er in Berührung
gekommen, der Kreise, in denen er gelebt, so kann man sicher sein, daß das
Standesbewußtsein sich in selbstgefälligstem Lichte bespiegelt und anch das Un¬
bedeutendste interessant zu färben und zu etwas Wichtigem aufzubauscheu bemüht
ist. Die "Kvmödiantenfahrten" der Karoline Bauer sind noch in aller Erin¬
nerung: gewandt geschriebene Feuilletons, aber so aufgeblasen, so durch und durch
romanhaft, unecht und unwahr, daß es des Nachspiels, das auf dem Grabe
dieser alte", intriganten Person bedauerlicherweise aufgeführt wurde, für das
aufmerksame Auge nicht bedurft hätte, um sie als das, was sie sind, zu kenn¬
zeichnen. Und mit solchen Schauspielereien wurde ein großer Teil unseres
lesenden Publikums unterhalten und über die künstlerische Bedeutung der guten
alten Zeit belehrt! Auch besser gesinnte Autoren nützen der Kunst mit dem
Schwelgen in den Reminiscenzen großer Genüsse wenig. Eine schauspielerische
Meisterleistung ist leider weder mit dem Griffel noch mit der Feder zu bannen,
und die Gegenwärtigen immer und immer auf Ludwig Devrient und Seydel-
mann, auf Anschütz und Josef Wagner verweisen, müßte diese ganz und gar
verwirren nud verbittern, wenn sie nicht gelegentlich in den Zeitungen der zwan¬
ziger, dreißiger und vierziger Jahre nachblätterten und sich überzeugten, daß die
damalige" Recensenten auch an diesen Meistern das Siegfriedsmal zu finden
gewußt haben.

Alles in allem, scheint um zwar so viel gewiß zu sein, daß die eigentlich
tragischen Schauspieler heutzutage ausgestorben sind. Wenigstens existiren meines
Wissens keine, die auf dem großen Kothurn nicht irgendwie strauchelten. In
dieser Beziehung war das vielangefeindete und in der Vorbereitung und der
Ensemblclcistuug entschieden ungenügende Münchener Gesammtgastspiel vom
Sommer 1880 überaus lehrreich. Sei es, daß eine gewisse Befangenheit, deren
sich auch der vollendetste Nvntinier vor einem neuen, kritisch gestimmten Publikum
uicht zu erwehren vermag, die schauspielerischen Gaben der berufenen Künstler
beeinträchtigte -- gewiß war doch, daß neben vielem Vortrefflichen, das beson¬
ders auf dein zweiten und dritten Plan geleistet wurde, die ersten tragische"
Aufgaben keineswegs ohne Rest in die Erscheinung traten. Frau Wvlter, die
doch für die erste Traglldiu der Deutschen gelten soll, ist zwar in den Momenten
der fessellvsen Leidenschaft von einer hinreißenden naturalistischen Gewalt, aber
die vollendete Ausmeißelung des Formellen ihres Spiels läßt sie fast immer ver-


Die deutsche Bühne der Gegenwart.

dessen, was uns bei der ersten Bekanntschaft mit der Welt der Bretter ergriff,
so werden wir noch weit öfter durch andre getäuscht, die, vielleicht ein langes
Leben hindurch mit dem vielgestaltigen und buntscheckigen Organismus des Theaters
vertraut, kurz vor Sonnenuntergang zur Feder greifen und in ausgiebigen Me¬
moiren der entschwundenen Zeit und sich selbst ein Denkmal setzen. Gehen solche
Aufzeichnungen von Theaterleitern und Kritikern aus, so mag ihnen immer noch
eine gewisse Sachlichkeit eignen; giebt aber der Schauspieler selbst einen Abriß
seines Wirkens, eine Schilderung der Charaktere, mit denen er in Berührung
gekommen, der Kreise, in denen er gelebt, so kann man sicher sein, daß das
Standesbewußtsein sich in selbstgefälligstem Lichte bespiegelt und anch das Un¬
bedeutendste interessant zu färben und zu etwas Wichtigem aufzubauscheu bemüht
ist. Die „Kvmödiantenfahrten" der Karoline Bauer sind noch in aller Erin¬
nerung: gewandt geschriebene Feuilletons, aber so aufgeblasen, so durch und durch
romanhaft, unecht und unwahr, daß es des Nachspiels, das auf dem Grabe
dieser alte», intriganten Person bedauerlicherweise aufgeführt wurde, für das
aufmerksame Auge nicht bedurft hätte, um sie als das, was sie sind, zu kenn¬
zeichnen. Und mit solchen Schauspielereien wurde ein großer Teil unseres
lesenden Publikums unterhalten und über die künstlerische Bedeutung der guten
alten Zeit belehrt! Auch besser gesinnte Autoren nützen der Kunst mit dem
Schwelgen in den Reminiscenzen großer Genüsse wenig. Eine schauspielerische
Meisterleistung ist leider weder mit dem Griffel noch mit der Feder zu bannen,
und die Gegenwärtigen immer und immer auf Ludwig Devrient und Seydel-
mann, auf Anschütz und Josef Wagner verweisen, müßte diese ganz und gar
verwirren nud verbittern, wenn sie nicht gelegentlich in den Zeitungen der zwan¬
ziger, dreißiger und vierziger Jahre nachblätterten und sich überzeugten, daß die
damalige» Recensenten auch an diesen Meistern das Siegfriedsmal zu finden
gewußt haben.

Alles in allem, scheint um zwar so viel gewiß zu sein, daß die eigentlich
tragischen Schauspieler heutzutage ausgestorben sind. Wenigstens existiren meines
Wissens keine, die auf dem großen Kothurn nicht irgendwie strauchelten. In
dieser Beziehung war das vielangefeindete und in der Vorbereitung und der
Ensemblclcistuug entschieden ungenügende Münchener Gesammtgastspiel vom
Sommer 1880 überaus lehrreich. Sei es, daß eine gewisse Befangenheit, deren
sich auch der vollendetste Nvntinier vor einem neuen, kritisch gestimmten Publikum
uicht zu erwehren vermag, die schauspielerischen Gaben der berufenen Künstler
beeinträchtigte — gewiß war doch, daß neben vielem Vortrefflichen, das beson¬
ders auf dein zweiten und dritten Plan geleistet wurde, die ersten tragische»
Aufgaben keineswegs ohne Rest in die Erscheinung traten. Frau Wvlter, die
doch für die erste Traglldiu der Deutschen gelten soll, ist zwar in den Momenten
der fessellvsen Leidenschaft von einer hinreißenden naturalistischen Gewalt, aber
die vollendete Ausmeißelung des Formellen ihres Spiels läßt sie fast immer ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/32>, abgerufen am 26.06.2024.