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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Reichstag und Landtag im neuen Jahre.

Fälle umfassen. Sie der Aufsicht des Staates unterwerfen, heißt, sie in ihren
Lebensbedingungen stören. Die Aufgabe endlich, die den Unfallskommissären zu¬
gewiesen ist, und die in Ermittelung der Größe des Schadens und des Ersatzes
sowie in Herbeiführung eines Vergleichs zwischen den Beteiligten besteht, wird
sich in vielen Fällen nicht lösen lassen, und dann muß der Anspruch des Ver¬
unglückten wieder wie beim alten Haftpflichtgesetze auf dem Wege eines Prozesses
festgestellt werden. So aber ist es unumgänglich, an dem Gedanken des Buudcs-
ratsentwnrf festzuhalten, der den Schaden nach einem bestimmten Tarife ersetzt
und ausgeglichen wisse" will, ohne peinliches und langwieriges Untersuchen der
Umstünde, welche ihn veranlaßt haben.

Der Antrag Windthorsts wegen Aufhebung des Juteruiruugs- und Ver-
baunungsgcsetzes von 1874, der nach der Hertlingschen Jnterpellation den Reichs¬
tag beschäftigte und mit starker Majorität angenommen wurde, weil auch ein
großer Teil der Liberale" für ihn stimmte, führte zu Debatten, die kaum etwas
neues zu Tage förderten, und der Bundesrat wird ihm jetzt schwerlich Folge
geben, da sein zweiter Paragraph rückwirkende Kraft haben würde, und da man
von den Verhandlungen, die im preußischen Landtage über das neue kirchen-
politischc Gesetz bevorstehen, entscheidende Klärungen erwarten darf. Von dem
großen Siege, den das Zentrum in dieser Abstimmung erfochten haben soll, bleibt
also wenig mehr übrig, als die Thatsache, daß die Fortschrittspartei aus Haß
gegen den Reichskanzler und um dessen Politik zu stören, den "Weg nach Canossa"
betrete" hat, deu sie bisher mit so kräftigen Ausdrücken perhvrreszirte. Wenn
der Erfinder des Ausdrucks "Kulturkampf" bei seiner Rechtfertigung dieser Um¬
kehr erklärte, was seine Partei als frischen, fröhlichen Strauß für die Freiheit
der Geister gehalten, sei für den Kanzler mir ein Feldzug für die Omnipotenz
der Regierung gewesen, so sind solche Redensarten nicht geeignet, jene That¬
sachen zu bemänteln.

Unter den Vorlagen, die dem am 14. eröffneten preußischen Landtage
zugegangen sind, nimmt der kirchenpolitische Gesetzentwurf den ersten Rang ein.
Derselbe beruht auf deu gleichen Gedanke" und Absichten wie die Vorlage vom
19. Mai 1880 über Abänderung der Maigcsctzgebnug. Er setzt die rin Anfang
des laufenden Jahres ungiltig gewordenen Artikel 2, 3 und 4 des Gesetzes
vom 14. Juli 1880 wieder in Kraft, er nimmt aus der Maivorlage von 1880
den bekannten Bischvfsparagraphen und die Bestimmung über die Entbindung
der Geistlichen von den Bedingungen der Vorbildung wieder auf, und er geht
schließlich in zwei Punkten weiter als jene Vorlage: er weist die gegen eine
Anstellung erhobene" Einsprüche, die bisher dem Gerichtshöfe für kirchliche An¬
gelegenheiten übertragen war, dein Kultusminister zu und ermächtigt das Staats-
miiüstcrium, für bestimmte Bezirke widerruflich zu gestatten, daß Geistliche, welche
im übrigen die gesetzlichen Erfordernisse für die Ausübung kirchlicher Amtshand¬
lungen erfülle" oder von denselben dispensirt sind, zur Hilfeleistung im geiht-


Reichstag und Landtag im neuen Jahre.

Fälle umfassen. Sie der Aufsicht des Staates unterwerfen, heißt, sie in ihren
Lebensbedingungen stören. Die Aufgabe endlich, die den Unfallskommissären zu¬
gewiesen ist, und die in Ermittelung der Größe des Schadens und des Ersatzes
sowie in Herbeiführung eines Vergleichs zwischen den Beteiligten besteht, wird
sich in vielen Fällen nicht lösen lassen, und dann muß der Anspruch des Ver¬
unglückten wieder wie beim alten Haftpflichtgesetze auf dem Wege eines Prozesses
festgestellt werden. So aber ist es unumgänglich, an dem Gedanken des Buudcs-
ratsentwnrf festzuhalten, der den Schaden nach einem bestimmten Tarife ersetzt
und ausgeglichen wisse» will, ohne peinliches und langwieriges Untersuchen der
Umstünde, welche ihn veranlaßt haben.

Der Antrag Windthorsts wegen Aufhebung des Juteruiruugs- und Ver-
baunungsgcsetzes von 1874, der nach der Hertlingschen Jnterpellation den Reichs¬
tag beschäftigte und mit starker Majorität angenommen wurde, weil auch ein
großer Teil der Liberale» für ihn stimmte, führte zu Debatten, die kaum etwas
neues zu Tage förderten, und der Bundesrat wird ihm jetzt schwerlich Folge
geben, da sein zweiter Paragraph rückwirkende Kraft haben würde, und da man
von den Verhandlungen, die im preußischen Landtage über das neue kirchen-
politischc Gesetz bevorstehen, entscheidende Klärungen erwarten darf. Von dem
großen Siege, den das Zentrum in dieser Abstimmung erfochten haben soll, bleibt
also wenig mehr übrig, als die Thatsache, daß die Fortschrittspartei aus Haß
gegen den Reichskanzler und um dessen Politik zu stören, den „Weg nach Canossa"
betrete» hat, deu sie bisher mit so kräftigen Ausdrücken perhvrreszirte. Wenn
der Erfinder des Ausdrucks „Kulturkampf" bei seiner Rechtfertigung dieser Um¬
kehr erklärte, was seine Partei als frischen, fröhlichen Strauß für die Freiheit
der Geister gehalten, sei für den Kanzler mir ein Feldzug für die Omnipotenz
der Regierung gewesen, so sind solche Redensarten nicht geeignet, jene That¬
sachen zu bemänteln.

Unter den Vorlagen, die dem am 14. eröffneten preußischen Landtage
zugegangen sind, nimmt der kirchenpolitische Gesetzentwurf den ersten Rang ein.
Derselbe beruht auf deu gleichen Gedanke» und Absichten wie die Vorlage vom
19. Mai 1880 über Abänderung der Maigcsctzgebnug. Er setzt die rin Anfang
des laufenden Jahres ungiltig gewordenen Artikel 2, 3 und 4 des Gesetzes
vom 14. Juli 1880 wieder in Kraft, er nimmt aus der Maivorlage von 1880
den bekannten Bischvfsparagraphen und die Bestimmung über die Entbindung
der Geistlichen von den Bedingungen der Vorbildung wieder auf, und er geht
schließlich in zwei Punkten weiter als jene Vorlage: er weist die gegen eine
Anstellung erhobene» Einsprüche, die bisher dem Gerichtshöfe für kirchliche An¬
gelegenheiten übertragen war, dein Kultusminister zu und ermächtigt das Staats-
miiüstcrium, für bestimmte Bezirke widerruflich zu gestatten, daß Geistliche, welche
im übrigen die gesetzlichen Erfordernisse für die Ausübung kirchlicher Amtshand¬
lungen erfülle» oder von denselben dispensirt sind, zur Hilfeleistung im geiht-


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[0215] Reichstag und Landtag im neuen Jahre. Fälle umfassen. Sie der Aufsicht des Staates unterwerfen, heißt, sie in ihren Lebensbedingungen stören. Die Aufgabe endlich, die den Unfallskommissären zu¬ gewiesen ist, und die in Ermittelung der Größe des Schadens und des Ersatzes sowie in Herbeiführung eines Vergleichs zwischen den Beteiligten besteht, wird sich in vielen Fällen nicht lösen lassen, und dann muß der Anspruch des Ver¬ unglückten wieder wie beim alten Haftpflichtgesetze auf dem Wege eines Prozesses festgestellt werden. So aber ist es unumgänglich, an dem Gedanken des Buudcs- ratsentwnrf festzuhalten, der den Schaden nach einem bestimmten Tarife ersetzt und ausgeglichen wisse» will, ohne peinliches und langwieriges Untersuchen der Umstünde, welche ihn veranlaßt haben. Der Antrag Windthorsts wegen Aufhebung des Juteruiruugs- und Ver- baunungsgcsetzes von 1874, der nach der Hertlingschen Jnterpellation den Reichs¬ tag beschäftigte und mit starker Majorität angenommen wurde, weil auch ein großer Teil der Liberale» für ihn stimmte, führte zu Debatten, die kaum etwas neues zu Tage förderten, und der Bundesrat wird ihm jetzt schwerlich Folge geben, da sein zweiter Paragraph rückwirkende Kraft haben würde, und da man von den Verhandlungen, die im preußischen Landtage über das neue kirchen- politischc Gesetz bevorstehen, entscheidende Klärungen erwarten darf. Von dem großen Siege, den das Zentrum in dieser Abstimmung erfochten haben soll, bleibt also wenig mehr übrig, als die Thatsache, daß die Fortschrittspartei aus Haß gegen den Reichskanzler und um dessen Politik zu stören, den „Weg nach Canossa" betrete» hat, deu sie bisher mit so kräftigen Ausdrücken perhvrreszirte. Wenn der Erfinder des Ausdrucks „Kulturkampf" bei seiner Rechtfertigung dieser Um¬ kehr erklärte, was seine Partei als frischen, fröhlichen Strauß für die Freiheit der Geister gehalten, sei für den Kanzler mir ein Feldzug für die Omnipotenz der Regierung gewesen, so sind solche Redensarten nicht geeignet, jene That¬ sachen zu bemänteln. Unter den Vorlagen, die dem am 14. eröffneten preußischen Landtage zugegangen sind, nimmt der kirchenpolitische Gesetzentwurf den ersten Rang ein. Derselbe beruht auf deu gleichen Gedanke» und Absichten wie die Vorlage vom 19. Mai 1880 über Abänderung der Maigcsctzgebnug. Er setzt die rin Anfang des laufenden Jahres ungiltig gewordenen Artikel 2, 3 und 4 des Gesetzes vom 14. Juli 1880 wieder in Kraft, er nimmt aus der Maivorlage von 1880 den bekannten Bischvfsparagraphen und die Bestimmung über die Entbindung der Geistlichen von den Bedingungen der Vorbildung wieder auf, und er geht schließlich in zwei Punkten weiter als jene Vorlage: er weist die gegen eine Anstellung erhobene» Einsprüche, die bisher dem Gerichtshöfe für kirchliche An¬ gelegenheiten übertragen war, dein Kultusminister zu und ermächtigt das Staats- miiüstcrium, für bestimmte Bezirke widerruflich zu gestatten, daß Geistliche, welche im übrigen die gesetzlichen Erfordernisse für die Ausübung kirchlicher Amtshand¬ lungen erfülle» oder von denselben dispensirt sind, zur Hilfeleistung im geiht-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/215>, abgerufen am 22.07.2024.