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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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politische Briefe.

haft ist. Aber er vergaß doch, daß im Joche der Notdurft keine geistige Frei¬
heit und keine geistige Vollkommenheit möglich ist, daß der einzelne, der sich in
der Zivilisation die Bedürfnislosigkeit auferlegt, alle geistigen Vcfriedignngs-
mittel in seinem Innern behält, die er nur dem Boden der Zivilisation ent¬
nehmen konnte. Nur in Athen war ein Sokrates möglich, und nur in der
Durchdringung alles geistigen Erwerbs, den einerseits das Judentum, andrer¬
seits die römisch-hellenistische Bildung gemacht, konnte das Christentum -- nur
wollen die Anssendnng des ersten .Keimes durch den göttlichen Stifter unberührt
lassen -- sich zur Weltreligiol? entwickeln. Wer wird behaupten, daß die Evan¬
gelien, wenn sie in die Hände von Negern gefallen wären, mich Ausrottung
aller Erben der alten Zivilisation die christliche Religion hervorgerufen haben
würden? Ans einer gewissen Stufe materieller Kultur erbaut sich überall die
intellektuelle, sittliche und ästhetische Kultur, lind jeder innere Fortschritt wiederum,
geeignet, deu soziale" Zustand zu veredeln, vermag dies erst durch eine vollkomm-
nere technisch materielle Organisation.

Diese Dinge sind bereits so in das allgemeine Verständnis gedrungen, daß
selbst die Sozialdemokratin nicht daran denken, der Menschheit das Kapital zu
entreißen und seine Produktion zu verbieten. Arr das zu thun, muß mau schou
mit Rousseau die Zivilisation an sich für ein Übel erkläre". Die Sozialdemo¬
kraten aber bekämpfen nur die Institution des individuellen Kapitalbesitzes, weil
nach ihrer Meinung diese Institution verhindert, daß der Segen des Kapitals
allen zu Teil werde. Um letzteres zu erreichen, wollen sie, daß das Kapital
in Kollektivbcsitz und Kvllektivverwaltnng übergehe.

Die Forderung wäre richtig, wenn sie nicht auf einer völligen Verkennung
des Wesens des Kapitals beruhte. Das .Kapital entsteht uur in und mit eiuer
begrenzten Sphäre individueller Freiheit. Nicht mit einer absoluten Freiheit,
welche sich sofort als ihr eignes Gegenteil darstellen würde, als Hilflosigkeit und
Knechtschaft. Aber der Staat muß deu Boden der individuellen Freiheit erobern
und organisiren, um aus ihm die beste Kraft, die besten Jmpulse für sich zu
entnehmen, die er allein nicht hervorbringen, nicht ersetzen kann. Die vielfachen
Zentren der individuellen Sphären einerseits und das allgeiueine Zentrum andrer¬
seits, welches letztere die ersteren in regulirten Bahnen hält, aber uicht sie als
passive Masse in sich hineinzieht, bedingen alle materielle und sittliche Kultur.
Aber wenn der Staat mit Verkennung dieser Wahrheit einmal den Versuch
wagen wollte, das Kapital, d. h. den ganzen zur Produktion verfügbaren Kraft¬
überschuß eines Volkes, vou sich aus unmittelbar zu lenken, so würde er sofort
die Erfahrung machen, daß dieser Versuch mehr als phaethouisch ist. Zur ein¬
heitlichen Disposition gehört ein alles leitender Kopf oder eine Vereinigung
vou Köpfen, welche sich zu verständigen und das Ganze zu überblicken vermöge".
Das Phantastische des Versuches springt sogleich in die Angen, wenn man sich
vorstellt, daß die Unendlichkeit der individuellen Jmpulse, Versuche, Erfahrungen


politische Briefe.

haft ist. Aber er vergaß doch, daß im Joche der Notdurft keine geistige Frei¬
heit und keine geistige Vollkommenheit möglich ist, daß der einzelne, der sich in
der Zivilisation die Bedürfnislosigkeit auferlegt, alle geistigen Vcfriedignngs-
mittel in seinem Innern behält, die er nur dem Boden der Zivilisation ent¬
nehmen konnte. Nur in Athen war ein Sokrates möglich, und nur in der
Durchdringung alles geistigen Erwerbs, den einerseits das Judentum, andrer¬
seits die römisch-hellenistische Bildung gemacht, konnte das Christentum — nur
wollen die Anssendnng des ersten .Keimes durch den göttlichen Stifter unberührt
lassen — sich zur Weltreligiol? entwickeln. Wer wird behaupten, daß die Evan¬
gelien, wenn sie in die Hände von Negern gefallen wären, mich Ausrottung
aller Erben der alten Zivilisation die christliche Religion hervorgerufen haben
würden? Ans einer gewissen Stufe materieller Kultur erbaut sich überall die
intellektuelle, sittliche und ästhetische Kultur, lind jeder innere Fortschritt wiederum,
geeignet, deu soziale» Zustand zu veredeln, vermag dies erst durch eine vollkomm-
nere technisch materielle Organisation.

Diese Dinge sind bereits so in das allgemeine Verständnis gedrungen, daß
selbst die Sozialdemokratin nicht daran denken, der Menschheit das Kapital zu
entreißen und seine Produktion zu verbieten. Arr das zu thun, muß mau schou
mit Rousseau die Zivilisation an sich für ein Übel erkläre». Die Sozialdemo¬
kraten aber bekämpfen nur die Institution des individuellen Kapitalbesitzes, weil
nach ihrer Meinung diese Institution verhindert, daß der Segen des Kapitals
allen zu Teil werde. Um letzteres zu erreichen, wollen sie, daß das Kapital
in Kollektivbcsitz und Kvllektivverwaltnng übergehe.

Die Forderung wäre richtig, wenn sie nicht auf einer völligen Verkennung
des Wesens des Kapitals beruhte. Das .Kapital entsteht uur in und mit eiuer
begrenzten Sphäre individueller Freiheit. Nicht mit einer absoluten Freiheit,
welche sich sofort als ihr eignes Gegenteil darstellen würde, als Hilflosigkeit und
Knechtschaft. Aber der Staat muß deu Boden der individuellen Freiheit erobern
und organisiren, um aus ihm die beste Kraft, die besten Jmpulse für sich zu
entnehmen, die er allein nicht hervorbringen, nicht ersetzen kann. Die vielfachen
Zentren der individuellen Sphären einerseits und das allgeiueine Zentrum andrer¬
seits, welches letztere die ersteren in regulirten Bahnen hält, aber uicht sie als
passive Masse in sich hineinzieht, bedingen alle materielle und sittliche Kultur.
Aber wenn der Staat mit Verkennung dieser Wahrheit einmal den Versuch
wagen wollte, das Kapital, d. h. den ganzen zur Produktion verfügbaren Kraft¬
überschuß eines Volkes, vou sich aus unmittelbar zu lenken, so würde er sofort
die Erfahrung machen, daß dieser Versuch mehr als phaethouisch ist. Zur ein¬
heitlichen Disposition gehört ein alles leitender Kopf oder eine Vereinigung
vou Köpfen, welche sich zu verständigen und das Ganze zu überblicken vermöge».
Das Phantastische des Versuches springt sogleich in die Angen, wenn man sich
vorstellt, daß die Unendlichkeit der individuellen Jmpulse, Versuche, Erfahrungen


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[0006] politische Briefe. haft ist. Aber er vergaß doch, daß im Joche der Notdurft keine geistige Frei¬ heit und keine geistige Vollkommenheit möglich ist, daß der einzelne, der sich in der Zivilisation die Bedürfnislosigkeit auferlegt, alle geistigen Vcfriedignngs- mittel in seinem Innern behält, die er nur dem Boden der Zivilisation ent¬ nehmen konnte. Nur in Athen war ein Sokrates möglich, und nur in der Durchdringung alles geistigen Erwerbs, den einerseits das Judentum, andrer¬ seits die römisch-hellenistische Bildung gemacht, konnte das Christentum — nur wollen die Anssendnng des ersten .Keimes durch den göttlichen Stifter unberührt lassen — sich zur Weltreligiol? entwickeln. Wer wird behaupten, daß die Evan¬ gelien, wenn sie in die Hände von Negern gefallen wären, mich Ausrottung aller Erben der alten Zivilisation die christliche Religion hervorgerufen haben würden? Ans einer gewissen Stufe materieller Kultur erbaut sich überall die intellektuelle, sittliche und ästhetische Kultur, lind jeder innere Fortschritt wiederum, geeignet, deu soziale» Zustand zu veredeln, vermag dies erst durch eine vollkomm- nere technisch materielle Organisation. Diese Dinge sind bereits so in das allgemeine Verständnis gedrungen, daß selbst die Sozialdemokratin nicht daran denken, der Menschheit das Kapital zu entreißen und seine Produktion zu verbieten. Arr das zu thun, muß mau schou mit Rousseau die Zivilisation an sich für ein Übel erkläre». Die Sozialdemo¬ kraten aber bekämpfen nur die Institution des individuellen Kapitalbesitzes, weil nach ihrer Meinung diese Institution verhindert, daß der Segen des Kapitals allen zu Teil werde. Um letzteres zu erreichen, wollen sie, daß das Kapital in Kollektivbcsitz und Kvllektivverwaltnng übergehe. Die Forderung wäre richtig, wenn sie nicht auf einer völligen Verkennung des Wesens des Kapitals beruhte. Das .Kapital entsteht uur in und mit eiuer begrenzten Sphäre individueller Freiheit. Nicht mit einer absoluten Freiheit, welche sich sofort als ihr eignes Gegenteil darstellen würde, als Hilflosigkeit und Knechtschaft. Aber der Staat muß deu Boden der individuellen Freiheit erobern und organisiren, um aus ihm die beste Kraft, die besten Jmpulse für sich zu entnehmen, die er allein nicht hervorbringen, nicht ersetzen kann. Die vielfachen Zentren der individuellen Sphären einerseits und das allgeiueine Zentrum andrer¬ seits, welches letztere die ersteren in regulirten Bahnen hält, aber uicht sie als passive Masse in sich hineinzieht, bedingen alle materielle und sittliche Kultur. Aber wenn der Staat mit Verkennung dieser Wahrheit einmal den Versuch wagen wollte, das Kapital, d. h. den ganzen zur Produktion verfügbaren Kraft¬ überschuß eines Volkes, vou sich aus unmittelbar zu lenken, so würde er sofort die Erfahrung machen, daß dieser Versuch mehr als phaethouisch ist. Zur ein¬ heitlichen Disposition gehört ein alles leitender Kopf oder eine Vereinigung vou Köpfen, welche sich zu verständigen und das Ganze zu überblicken vermöge». Das Phantastische des Versuches springt sogleich in die Angen, wenn man sich vorstellt, daß die Unendlichkeit der individuellen Jmpulse, Versuche, Erfahrungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/6>, abgerufen am 26.06.2024.