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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Thomas "Larlyte.

die schlimmsten Befürchtungen wachzurufen. Carlyle gehörte nicht zu den Lob-
rednern der Erscheinungen, welche er um sich sah. Wie die Propheten des alten
Bundes, liebte er die Kehrseite der Dinge hervorzukehren und hatte Visionen
vom Sturz und Untergang gepriesener Herrlichkeiten der Welt. Wie es ihm
erschien, war "das Publikum in einen riesenhaften Esel verwandelt, Literatur
eine gleißende Lüge. Wissenschaft tastet zweck- und ziellos herum unter dem
trocknen toten Geklapper der Maschine, worunter man das Weltall versteht;
Kunst malt mit schwachem, wässerigem Pinsel; Geschichte stolpert über trockne
Knochen, aber nicht mehr im Thale der Gesichte; Philosophie lispelt und schwatzt
über längst verbrauchte Dummheiten und mengt noch neuen Unsinn über das
Unendliche, das Absolute und das Ewige bei; unsre Religion, die große Wahr¬
heit, liegt in den letzten Zügen; Wahrheit, Gerechtigkeit, Gott sind große, leere,
uns anstarrende Worte geworden, wie der Name auf dem Schilde, nachdem das
Haus schon verlassen war, oder wie das Kouvert, mit dem der Wind spielt,
nachdem der Brief herausgenommen. Alles zusammen ist Schein und Betrug,
eine Riesenlüge -- die das höllische Feuer wahrscheinlich bald verzehren wird."

Daß ein Mann mit solchen Anschauungen (die nur die eitle und leere Fri¬
volität ohne weiteres und unbedingt Lügen strafen kann) in der Literatur keinen
leichten Stand hatte, braucht kaum noch gesagt zu werden. Die kampflustige
Natur Carlyles fand eine Art Genügen darin, unter den bezeichneten Voraus¬
setzungen nach allen Seiten hin zu schlagen und zu treffen, vernichtende Kritik
aller Art von Lügen, geselliger, literarischer, politischer erfüllten Carlyles Schriften,
die "Kritischen und Vermischten Aufsätze" (London 1839 und 1840), die denk¬
würdige "Vergangenheit und Gegenwart" (London 1843), "Chartismus" (1840)
Und die "Flugschriften des jüngsten Tages" (London 1850). Das positive
Moment in denselben ist viel minder klar erkennbar als seine Geringschätzung
Und Entrüstung über die Tagesmeinung und den Größenwahnsinn der modernen
Bildung. Mit ingrimmigen Schmerz fühlt der Puritaner, daß selbst ein Cromwell
Alast imstande sein würde, dies Zeitalter ohne weiteres mit dein Schwerte zur
Gottseligkeit zurückzuzwingen. Deal Fragen sind inzwischen empvrgetaucht, Ver¬
hältnisse haben sich ausgebildet, denen gegenüber die Weisheit und Thatkraft des
Lwßen Protektors erlahmen würde. Carlyle sieht -- hierin wiederum deu
Propheten des alten Testaments gleichend und wie sie unablässig, wenn auch
Ul wechselnden Bildern, eine Weissagung wiederholend -- zunächst die Not¬
wendigkeit, daß alle Götzenbilder zerschlagen, alle Illusionen zerstreut werden
'Nüssen. Soll und will die Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts nicht
Untergehen (und es dünkt unserm Schriftsteller zu Zeiten, daß sie wohl leben
will, aber nicht leben sollte), so ist eine moralische Wiedergeburt, ein gewisses
Maß gesunder Einsicht, starken Pflichtgefühls, unbedingter Bescheidung bei allen
"ölig. Mit visionärer Gewalt wiederholt Carlyle diese einfache Wahrheit und
wendet sich mit einer Art von Wildheit gegen diejenigen seiner Gegner, welche'


Grenzlwlcn IV. 1882. 4
Thomas «Larlyte.

die schlimmsten Befürchtungen wachzurufen. Carlyle gehörte nicht zu den Lob-
rednern der Erscheinungen, welche er um sich sah. Wie die Propheten des alten
Bundes, liebte er die Kehrseite der Dinge hervorzukehren und hatte Visionen
vom Sturz und Untergang gepriesener Herrlichkeiten der Welt. Wie es ihm
erschien, war „das Publikum in einen riesenhaften Esel verwandelt, Literatur
eine gleißende Lüge. Wissenschaft tastet zweck- und ziellos herum unter dem
trocknen toten Geklapper der Maschine, worunter man das Weltall versteht;
Kunst malt mit schwachem, wässerigem Pinsel; Geschichte stolpert über trockne
Knochen, aber nicht mehr im Thale der Gesichte; Philosophie lispelt und schwatzt
über längst verbrauchte Dummheiten und mengt noch neuen Unsinn über das
Unendliche, das Absolute und das Ewige bei; unsre Religion, die große Wahr¬
heit, liegt in den letzten Zügen; Wahrheit, Gerechtigkeit, Gott sind große, leere,
uns anstarrende Worte geworden, wie der Name auf dem Schilde, nachdem das
Haus schon verlassen war, oder wie das Kouvert, mit dem der Wind spielt,
nachdem der Brief herausgenommen. Alles zusammen ist Schein und Betrug,
eine Riesenlüge — die das höllische Feuer wahrscheinlich bald verzehren wird."

Daß ein Mann mit solchen Anschauungen (die nur die eitle und leere Fri¬
volität ohne weiteres und unbedingt Lügen strafen kann) in der Literatur keinen
leichten Stand hatte, braucht kaum noch gesagt zu werden. Die kampflustige
Natur Carlyles fand eine Art Genügen darin, unter den bezeichneten Voraus¬
setzungen nach allen Seiten hin zu schlagen und zu treffen, vernichtende Kritik
aller Art von Lügen, geselliger, literarischer, politischer erfüllten Carlyles Schriften,
die „Kritischen und Vermischten Aufsätze" (London 1839 und 1840), die denk¬
würdige „Vergangenheit und Gegenwart" (London 1843), „Chartismus" (1840)
Und die „Flugschriften des jüngsten Tages" (London 1850). Das positive
Moment in denselben ist viel minder klar erkennbar als seine Geringschätzung
Und Entrüstung über die Tagesmeinung und den Größenwahnsinn der modernen
Bildung. Mit ingrimmigen Schmerz fühlt der Puritaner, daß selbst ein Cromwell
Alast imstande sein würde, dies Zeitalter ohne weiteres mit dein Schwerte zur
Gottseligkeit zurückzuzwingen. Deal Fragen sind inzwischen empvrgetaucht, Ver¬
hältnisse haben sich ausgebildet, denen gegenüber die Weisheit und Thatkraft des
Lwßen Protektors erlahmen würde. Carlyle sieht — hierin wiederum deu
Propheten des alten Testaments gleichend und wie sie unablässig, wenn auch
Ul wechselnden Bildern, eine Weissagung wiederholend — zunächst die Not¬
wendigkeit, daß alle Götzenbilder zerschlagen, alle Illusionen zerstreut werden
'Nüssen. Soll und will die Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts nicht
Untergehen (und es dünkt unserm Schriftsteller zu Zeiten, daß sie wohl leben
will, aber nicht leben sollte), so ist eine moralische Wiedergeburt, ein gewisses
Maß gesunder Einsicht, starken Pflichtgefühls, unbedingter Bescheidung bei allen
"ölig. Mit visionärer Gewalt wiederholt Carlyle diese einfache Wahrheit und
wendet sich mit einer Art von Wildheit gegen diejenigen seiner Gegner, welche'


Grenzlwlcn IV. 1882. 4
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/29>, abgerufen am 28.09.2024.