Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Mädchen von Tisza-Gszlar,

verbreitet wurde die Nachricht von Dr. Heymami, dem Verteidiger der angeklagten
Juden. Aber die herbeigerufene Mutter behauptete fest, das sei nicht ihre
Tochter, und blieb auch dann dabei, als man ihr die Kleider der Esther zeigte,
die sie auf das bestimmteste als die ihrer Tochter agnoszirte; das gleiche sagte
die Dienstherrin der Esther aus. Die Ärzte tonstatirten, die aufgefundene Leiche
sei die eines vollkommen entwickelten, 18--24jährigen Frauenzimmers und habe
höchstens zehn bis vierzehn Tage im Wasser gelegen.

Da das Frauenzimmer die Kleider Esthers anhatte, ihr auch das Tuch
mit der eingekauften Farbe an die Hand gebunden war, ohne daß sie mit Esther
Solymosi identisch war, so mußte man schließen, daß hier ein neues Verbrechen,
eine Leichenschändung, vorliege und die Urheber desselben in den Mord einge¬
weiht seien. Auch deutete die große Zahl der meilenweit herbeigekommenen
Juden und die Sicherheit, mit der sie die Auffindung der Esther laut in alle
Welt verkündete", darauf, daß diese Auffindung förmlich inszenirt und wohlbe¬
rechnet sei. Der Untersuchungsrichter von Barry ließ anch den Moritz Scharf
kommen und sagte zu ihm: "Die Leiche Esthers ist aufgefunden worden, und
es ist konstatirt, daß dieselbe gar keine Wunde am Halse hat. Was sagst dn
nun?" Der Gefragte lächelte kopfschüttelnd und gab zur Antwort: "Das kann
nicht die Leiche Esthers sein, denn ich sah es, daß ihr der Schuaster Schwarz
einen so gewaltigen Schnitt am Halse machte, daß der Kopf fast abgeschnitten
wurde und sich sofort senkte. . . . Nach einem solchen Schnitte wächst niemandem
mehr der Hals zusammen."

Gleichzeitig hatte man die sechzehn Floßknechte verhaften lassen, die die
Leiche aus dem Theiß gezogen hatten, und fand unter ihnen zwei verkappte
Polnische Juden. Die von den Floßknechten gemachten Aussagen waren, wie sich
bald herausstellte, verabredet und tendenziös; als Haupturheber der ganzen
Leichenkomödie erschien der verhaftete Jude Joll Smilowitsch. Aus seinen
Aussagen ging hervor, daß ihn Mitte Juni fünf, angeblich unbekannte Juden
aufgesucht und beredet hatten, gegen einen Lohn von zweimal 300 Gulden die
Leichenmiffindnng in Szene zu setzen. Darnach hatte man die mißbrauchte Leiche
ein großes Stück an einem Stricke nnter dem Wasser fortgeschleift; unterhalb
Tisza-Eszlar Hütte ein Jude und eine Jüdin das Floß erwartet, letztere hätte
die Kleider der Esther gehabt, die nun der Leiche angelegt worden wären; die
Frnn wäre den Flößern als Christin bezeichnet worden.

Was die aus dein Theiß gefischte Leiche anlangt, so sagte der im Marma-
roser Komitat wohnhafte Fischer Johann Gawrill ans, die gefundene Leiche sei
höchst wahrscheinlich diejenige seiner im Juni verstorbenen Nichte Flora Gawrill;
dieselbe habe in der letzten Zeit ein lüderliches Leben geführt und sich in Mar-
marvs-Sziget in einem Bordell aufgehalten. Im Mai sei sie schwer erkrankt
und habe sich zu ihm auf das Land bringen lassen, wo sie bald darauf ver¬
storben sei. Einige Tage nach ihrem Tode habe er von seinen Dienstleuten er-


Das Mädchen von Tisza-Gszlar,

verbreitet wurde die Nachricht von Dr. Heymami, dem Verteidiger der angeklagten
Juden. Aber die herbeigerufene Mutter behauptete fest, das sei nicht ihre
Tochter, und blieb auch dann dabei, als man ihr die Kleider der Esther zeigte,
die sie auf das bestimmteste als die ihrer Tochter agnoszirte; das gleiche sagte
die Dienstherrin der Esther aus. Die Ärzte tonstatirten, die aufgefundene Leiche
sei die eines vollkommen entwickelten, 18—24jährigen Frauenzimmers und habe
höchstens zehn bis vierzehn Tage im Wasser gelegen.

Da das Frauenzimmer die Kleider Esthers anhatte, ihr auch das Tuch
mit der eingekauften Farbe an die Hand gebunden war, ohne daß sie mit Esther
Solymosi identisch war, so mußte man schließen, daß hier ein neues Verbrechen,
eine Leichenschändung, vorliege und die Urheber desselben in den Mord einge¬
weiht seien. Auch deutete die große Zahl der meilenweit herbeigekommenen
Juden und die Sicherheit, mit der sie die Auffindung der Esther laut in alle
Welt verkündete«, darauf, daß diese Auffindung förmlich inszenirt und wohlbe¬
rechnet sei. Der Untersuchungsrichter von Barry ließ anch den Moritz Scharf
kommen und sagte zu ihm: „Die Leiche Esthers ist aufgefunden worden, und
es ist konstatirt, daß dieselbe gar keine Wunde am Halse hat. Was sagst dn
nun?" Der Gefragte lächelte kopfschüttelnd und gab zur Antwort: „Das kann
nicht die Leiche Esthers sein, denn ich sah es, daß ihr der Schuaster Schwarz
einen so gewaltigen Schnitt am Halse machte, daß der Kopf fast abgeschnitten
wurde und sich sofort senkte. . . . Nach einem solchen Schnitte wächst niemandem
mehr der Hals zusammen."

Gleichzeitig hatte man die sechzehn Floßknechte verhaften lassen, die die
Leiche aus dem Theiß gezogen hatten, und fand unter ihnen zwei verkappte
Polnische Juden. Die von den Floßknechten gemachten Aussagen waren, wie sich
bald herausstellte, verabredet und tendenziös; als Haupturheber der ganzen
Leichenkomödie erschien der verhaftete Jude Joll Smilowitsch. Aus seinen
Aussagen ging hervor, daß ihn Mitte Juni fünf, angeblich unbekannte Juden
aufgesucht und beredet hatten, gegen einen Lohn von zweimal 300 Gulden die
Leichenmiffindnng in Szene zu setzen. Darnach hatte man die mißbrauchte Leiche
ein großes Stück an einem Stricke nnter dem Wasser fortgeschleift; unterhalb
Tisza-Eszlar Hütte ein Jude und eine Jüdin das Floß erwartet, letztere hätte
die Kleider der Esther gehabt, die nun der Leiche angelegt worden wären; die
Frnn wäre den Flößern als Christin bezeichnet worden.

Was die aus dein Theiß gefischte Leiche anlangt, so sagte der im Marma-
roser Komitat wohnhafte Fischer Johann Gawrill ans, die gefundene Leiche sei
höchst wahrscheinlich diejenige seiner im Juni verstorbenen Nichte Flora Gawrill;
dieselbe habe in der letzten Zeit ein lüderliches Leben geführt und sich in Mar-
marvs-Sziget in einem Bordell aufgehalten. Im Mai sei sie schwer erkrankt
und habe sich zu ihm auf das Land bringen lassen, wo sie bald darauf ver¬
storben sei. Einige Tage nach ihrem Tode habe er von seinen Dienstleuten er-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0167" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194145"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Mädchen von Tisza-Gszlar,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_569" prev="#ID_568"> verbreitet wurde die Nachricht von Dr. Heymami, dem Verteidiger der angeklagten<lb/>
Juden. Aber die herbeigerufene Mutter behauptete fest, das sei nicht ihre<lb/>
Tochter, und blieb auch dann dabei, als man ihr die Kleider der Esther zeigte,<lb/>
die sie auf das bestimmteste als die ihrer Tochter agnoszirte; das gleiche sagte<lb/>
die Dienstherrin der Esther aus. Die Ärzte tonstatirten, die aufgefundene Leiche<lb/>
sei die eines vollkommen entwickelten, 18&#x2014;24jährigen Frauenzimmers und habe<lb/>
höchstens zehn bis vierzehn Tage im Wasser gelegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_570"> Da das Frauenzimmer die Kleider Esthers anhatte, ihr auch das Tuch<lb/>
mit der eingekauften Farbe an die Hand gebunden war, ohne daß sie mit Esther<lb/>
Solymosi identisch war, so mußte man schließen, daß hier ein neues Verbrechen,<lb/>
eine Leichenschändung, vorliege und die Urheber desselben in den Mord einge¬<lb/>
weiht seien. Auch deutete die große Zahl der meilenweit herbeigekommenen<lb/>
Juden und die Sicherheit, mit der sie die Auffindung der Esther laut in alle<lb/>
Welt verkündete«, darauf, daß diese Auffindung förmlich inszenirt und wohlbe¬<lb/>
rechnet sei. Der Untersuchungsrichter von Barry ließ anch den Moritz Scharf<lb/>
kommen und sagte zu ihm: &#x201E;Die Leiche Esthers ist aufgefunden worden, und<lb/>
es ist konstatirt, daß dieselbe gar keine Wunde am Halse hat. Was sagst dn<lb/>
nun?" Der Gefragte lächelte kopfschüttelnd und gab zur Antwort: &#x201E;Das kann<lb/>
nicht die Leiche Esthers sein, denn ich sah es, daß ihr der Schuaster Schwarz<lb/>
einen so gewaltigen Schnitt am Halse machte, daß der Kopf fast abgeschnitten<lb/>
wurde und sich sofort senkte. . . . Nach einem solchen Schnitte wächst niemandem<lb/>
mehr der Hals zusammen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_571"> Gleichzeitig hatte man die sechzehn Floßknechte verhaften lassen, die die<lb/>
Leiche aus dem Theiß gezogen hatten, und fand unter ihnen zwei verkappte<lb/>
Polnische Juden. Die von den Floßknechten gemachten Aussagen waren, wie sich<lb/>
bald herausstellte, verabredet und tendenziös; als Haupturheber der ganzen<lb/>
Leichenkomödie erschien der verhaftete Jude Joll Smilowitsch. Aus seinen<lb/>
Aussagen ging hervor, daß ihn Mitte Juni fünf, angeblich unbekannte Juden<lb/>
aufgesucht und beredet hatten, gegen einen Lohn von zweimal 300 Gulden die<lb/>
Leichenmiffindnng in Szene zu setzen. Darnach hatte man die mißbrauchte Leiche<lb/>
ein großes Stück an einem Stricke nnter dem Wasser fortgeschleift; unterhalb<lb/>
Tisza-Eszlar Hütte ein Jude und eine Jüdin das Floß erwartet, letztere hätte<lb/>
die Kleider der Esther gehabt, die nun der Leiche angelegt worden wären; die<lb/>
Frnn wäre den Flößern als Christin bezeichnet worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_572" next="#ID_573"> Was die aus dein Theiß gefischte Leiche anlangt, so sagte der im Marma-<lb/>
roser Komitat wohnhafte Fischer Johann Gawrill ans, die gefundene Leiche sei<lb/>
höchst wahrscheinlich diejenige seiner im Juni verstorbenen Nichte Flora Gawrill;<lb/>
dieselbe habe in der letzten Zeit ein lüderliches Leben geführt und sich in Mar-<lb/>
marvs-Sziget in einem Bordell aufgehalten. Im Mai sei sie schwer erkrankt<lb/>
und habe sich zu ihm auf das Land bringen lassen, wo sie bald darauf ver¬<lb/>
storben sei.  Einige Tage nach ihrem Tode habe er von seinen Dienstleuten er-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0167] Das Mädchen von Tisza-Gszlar, verbreitet wurde die Nachricht von Dr. Heymami, dem Verteidiger der angeklagten Juden. Aber die herbeigerufene Mutter behauptete fest, das sei nicht ihre Tochter, und blieb auch dann dabei, als man ihr die Kleider der Esther zeigte, die sie auf das bestimmteste als die ihrer Tochter agnoszirte; das gleiche sagte die Dienstherrin der Esther aus. Die Ärzte tonstatirten, die aufgefundene Leiche sei die eines vollkommen entwickelten, 18—24jährigen Frauenzimmers und habe höchstens zehn bis vierzehn Tage im Wasser gelegen. Da das Frauenzimmer die Kleider Esthers anhatte, ihr auch das Tuch mit der eingekauften Farbe an die Hand gebunden war, ohne daß sie mit Esther Solymosi identisch war, so mußte man schließen, daß hier ein neues Verbrechen, eine Leichenschändung, vorliege und die Urheber desselben in den Mord einge¬ weiht seien. Auch deutete die große Zahl der meilenweit herbeigekommenen Juden und die Sicherheit, mit der sie die Auffindung der Esther laut in alle Welt verkündete«, darauf, daß diese Auffindung förmlich inszenirt und wohlbe¬ rechnet sei. Der Untersuchungsrichter von Barry ließ anch den Moritz Scharf kommen und sagte zu ihm: „Die Leiche Esthers ist aufgefunden worden, und es ist konstatirt, daß dieselbe gar keine Wunde am Halse hat. Was sagst dn nun?" Der Gefragte lächelte kopfschüttelnd und gab zur Antwort: „Das kann nicht die Leiche Esthers sein, denn ich sah es, daß ihr der Schuaster Schwarz einen so gewaltigen Schnitt am Halse machte, daß der Kopf fast abgeschnitten wurde und sich sofort senkte. . . . Nach einem solchen Schnitte wächst niemandem mehr der Hals zusammen." Gleichzeitig hatte man die sechzehn Floßknechte verhaften lassen, die die Leiche aus dem Theiß gezogen hatten, und fand unter ihnen zwei verkappte Polnische Juden. Die von den Floßknechten gemachten Aussagen waren, wie sich bald herausstellte, verabredet und tendenziös; als Haupturheber der ganzen Leichenkomödie erschien der verhaftete Jude Joll Smilowitsch. Aus seinen Aussagen ging hervor, daß ihn Mitte Juni fünf, angeblich unbekannte Juden aufgesucht und beredet hatten, gegen einen Lohn von zweimal 300 Gulden die Leichenmiffindnng in Szene zu setzen. Darnach hatte man die mißbrauchte Leiche ein großes Stück an einem Stricke nnter dem Wasser fortgeschleift; unterhalb Tisza-Eszlar Hütte ein Jude und eine Jüdin das Floß erwartet, letztere hätte die Kleider der Esther gehabt, die nun der Leiche angelegt worden wären; die Frnn wäre den Flößern als Christin bezeichnet worden. Was die aus dein Theiß gefischte Leiche anlangt, so sagte der im Marma- roser Komitat wohnhafte Fischer Johann Gawrill ans, die gefundene Leiche sei höchst wahrscheinlich diejenige seiner im Juni verstorbenen Nichte Flora Gawrill; dieselbe habe in der letzten Zeit ein lüderliches Leben geführt und sich in Mar- marvs-Sziget in einem Bordell aufgehalten. Im Mai sei sie schwer erkrankt und habe sich zu ihm auf das Land bringen lassen, wo sie bald darauf ver¬ storben sei. Einige Tage nach ihrem Tode habe er von seinen Dienstleuten er-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/167
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/167>, abgerufen am 26.06.2024.