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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

über den Fluß in den glorreichen Staat Alt-Kentucky, bevor ein Haftbefehl zu
Ihrer Einspündung erwirkt werden kann. Dachte niemals daran, daß man
Sie einmal einspünden würde. Aber eilet zum Frieden und säumt nicht, wie
die Prediger sagen. Die Zeit ist kurz, und das menschliche Herz ist verzweifelt
gottlos und voll Tücke und Unsicherheit.

So weit Jonas Augusts Weg verfolgte, nahm er ihn anf dem Schimmel
mit. Dann eilte Weste über die Felder nach der Hütte seines Vaters. Die
kleine Wilhelmine saß mit dem Gesichte dem Fenster zugekehrt dort und wartete
anf seine Rückkunft.

Wo bist dn gewesen, August? Hast du das hübsche Mädchen bei Auder-
svns gesehen?

Er blieb stehen und küßte sie, aber ohne ein Wort mit ihr zu sprechen,
ging er hinüber, wo seine Mutter saß und den letzten eines ganzes Korbes voll
Strümpfe stopfte. Alle andern schliefen schon, und als er sich dessen versichert
hatte, nahm er sich einen niedrigen Stuhl, stemmte seinen Ellbogen auf seiue Knie,
legte den Kopf uns feine Hand und erzählte das ganze Abenteuer des Abends
seiner Mutter. Dann ließ er den Kopf auf ihren Schooß sinken und weinte
still vor sich hin. Und die Mutter, die müde herruhuterischc Mutter mit den
schönen, sanften Augen, legte ihre beiden Hände auf sein Haupt und betete, und
Wilhelmine kniete instinktmäßig neben ihren Bruder hiu.

Vielleicht giebt es keinen Gott. Oder vielleicht ist er fo groß, daß unser
Beten keine Wirkung hat. Vielleicht ist dieser laute, innige Aufschrei unsrer
Herzen in unsrer äußersten Not kein Beweis dafür, daß er bereit ist, uns zu
erhören. Möge der, welcher in Zweifel dahinleben kann, so dahinleben! Lasse
man mich glauben, daß das zärtliche Mutterherz und das liebende Schwester¬
herz in jener kleinen Hütte wirklich hinausdrängen zu dem großen Herzen, das
über uns in väterlicher Liebe schlägt, daß sie echten Trost für sich fanden, und
daß sie wirklich ein stärkendes und heiligendes Etwas auf das Haupt des jungen
Mannes herabflehten, der nunmehr ftrncks erquickt aufstand und in die Nacht
hinauseilte. Hinter ihm blieben Mutter und Schwester zurück und strengten
ihre Auge" an, ihm nnchznschanen in der schwarzen Finsternis, während er Ge¬
danken und Erinnerungen mit sich nahm und -- wer wird daran zweifeln? --
eine echte himmlische Eingebung, die ihn in den Prüfungen rettete, in denen wir
ihm demnächst begegne" werden.

Um zwei Uhr in dieser Nacht stand August Weste in Gesellschaft Andrew
Andersons, des Hinterlvaldsphilosophen, am Ufer des Ohio. Andrew schwenkte
einen Feuerbrand nach dem Dampfboot "Jsaak Shelby," welches eben um die
Krümmung herumkam. Und der Kapitän schlug dreimal mit seiner Glocke um
und stoppte seiue Maschine. Dann führte das Boot die beiden Männer um
Bord, und zwei Tage später kehrte Andrew allein zurück.




Der jüngste Tag.

über den Fluß in den glorreichen Staat Alt-Kentucky, bevor ein Haftbefehl zu
Ihrer Einspündung erwirkt werden kann. Dachte niemals daran, daß man
Sie einmal einspünden würde. Aber eilet zum Frieden und säumt nicht, wie
die Prediger sagen. Die Zeit ist kurz, und das menschliche Herz ist verzweifelt
gottlos und voll Tücke und Unsicherheit.

So weit Jonas Augusts Weg verfolgte, nahm er ihn anf dem Schimmel
mit. Dann eilte Weste über die Felder nach der Hütte seines Vaters. Die
kleine Wilhelmine saß mit dem Gesichte dem Fenster zugekehrt dort und wartete
anf seine Rückkunft.

Wo bist dn gewesen, August? Hast du das hübsche Mädchen bei Auder-
svns gesehen?

Er blieb stehen und küßte sie, aber ohne ein Wort mit ihr zu sprechen,
ging er hinüber, wo seine Mutter saß und den letzten eines ganzes Korbes voll
Strümpfe stopfte. Alle andern schliefen schon, und als er sich dessen versichert
hatte, nahm er sich einen niedrigen Stuhl, stemmte seinen Ellbogen auf seiue Knie,
legte den Kopf uns feine Hand und erzählte das ganze Abenteuer des Abends
seiner Mutter. Dann ließ er den Kopf auf ihren Schooß sinken und weinte
still vor sich hin. Und die Mutter, die müde herruhuterischc Mutter mit den
schönen, sanften Augen, legte ihre beiden Hände auf sein Haupt und betete, und
Wilhelmine kniete instinktmäßig neben ihren Bruder hiu.

Vielleicht giebt es keinen Gott. Oder vielleicht ist er fo groß, daß unser
Beten keine Wirkung hat. Vielleicht ist dieser laute, innige Aufschrei unsrer
Herzen in unsrer äußersten Not kein Beweis dafür, daß er bereit ist, uns zu
erhören. Möge der, welcher in Zweifel dahinleben kann, so dahinleben! Lasse
man mich glauben, daß das zärtliche Mutterherz und das liebende Schwester¬
herz in jener kleinen Hütte wirklich hinausdrängen zu dem großen Herzen, das
über uns in väterlicher Liebe schlägt, daß sie echten Trost für sich fanden, und
daß sie wirklich ein stärkendes und heiligendes Etwas auf das Haupt des jungen
Mannes herabflehten, der nunmehr ftrncks erquickt aufstand und in die Nacht
hinauseilte. Hinter ihm blieben Mutter und Schwester zurück und strengten
ihre Auge« an, ihm nnchznschanen in der schwarzen Finsternis, während er Ge¬
danken und Erinnerungen mit sich nahm und — wer wird daran zweifeln? —
eine echte himmlische Eingebung, die ihn in den Prüfungen rettete, in denen wir
ihm demnächst begegne» werden.

Um zwei Uhr in dieser Nacht stand August Weste in Gesellschaft Andrew
Andersons, des Hinterlvaldsphilosophen, am Ufer des Ohio. Andrew schwenkte
einen Feuerbrand nach dem Dampfboot „Jsaak Shelby," welches eben um die
Krümmung herumkam. Und der Kapitän schlug dreimal mit seiner Glocke um
und stoppte seiue Maschine. Dann führte das Boot die beiden Männer um
Bord, und zwei Tage später kehrte Andrew allein zurück.




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[0533] Der jüngste Tag. über den Fluß in den glorreichen Staat Alt-Kentucky, bevor ein Haftbefehl zu Ihrer Einspündung erwirkt werden kann. Dachte niemals daran, daß man Sie einmal einspünden würde. Aber eilet zum Frieden und säumt nicht, wie die Prediger sagen. Die Zeit ist kurz, und das menschliche Herz ist verzweifelt gottlos und voll Tücke und Unsicherheit. So weit Jonas Augusts Weg verfolgte, nahm er ihn anf dem Schimmel mit. Dann eilte Weste über die Felder nach der Hütte seines Vaters. Die kleine Wilhelmine saß mit dem Gesichte dem Fenster zugekehrt dort und wartete anf seine Rückkunft. Wo bist dn gewesen, August? Hast du das hübsche Mädchen bei Auder- svns gesehen? Er blieb stehen und küßte sie, aber ohne ein Wort mit ihr zu sprechen, ging er hinüber, wo seine Mutter saß und den letzten eines ganzes Korbes voll Strümpfe stopfte. Alle andern schliefen schon, und als er sich dessen versichert hatte, nahm er sich einen niedrigen Stuhl, stemmte seinen Ellbogen auf seiue Knie, legte den Kopf uns feine Hand und erzählte das ganze Abenteuer des Abends seiner Mutter. Dann ließ er den Kopf auf ihren Schooß sinken und weinte still vor sich hin. Und die Mutter, die müde herruhuterischc Mutter mit den schönen, sanften Augen, legte ihre beiden Hände auf sein Haupt und betete, und Wilhelmine kniete instinktmäßig neben ihren Bruder hiu. Vielleicht giebt es keinen Gott. Oder vielleicht ist er fo groß, daß unser Beten keine Wirkung hat. Vielleicht ist dieser laute, innige Aufschrei unsrer Herzen in unsrer äußersten Not kein Beweis dafür, daß er bereit ist, uns zu erhören. Möge der, welcher in Zweifel dahinleben kann, so dahinleben! Lasse man mich glauben, daß das zärtliche Mutterherz und das liebende Schwester¬ herz in jener kleinen Hütte wirklich hinausdrängen zu dem großen Herzen, das über uns in väterlicher Liebe schlägt, daß sie echten Trost für sich fanden, und daß sie wirklich ein stärkendes und heiligendes Etwas auf das Haupt des jungen Mannes herabflehten, der nunmehr ftrncks erquickt aufstand und in die Nacht hinauseilte. Hinter ihm blieben Mutter und Schwester zurück und strengten ihre Auge« an, ihm nnchznschanen in der schwarzen Finsternis, während er Ge¬ danken und Erinnerungen mit sich nahm und — wer wird daran zweifeln? — eine echte himmlische Eingebung, die ihn in den Prüfungen rettete, in denen wir ihm demnächst begegne» werden. Um zwei Uhr in dieser Nacht stand August Weste in Gesellschaft Andrew Andersons, des Hinterlvaldsphilosophen, am Ufer des Ohio. Andrew schwenkte einen Feuerbrand nach dem Dampfboot „Jsaak Shelby," welches eben um die Krümmung herumkam. Und der Kapitän schlug dreimal mit seiner Glocke um und stoppte seiue Maschine. Dann führte das Boot die beiden Männer um Bord, und zwei Tage später kehrte Andrew allein zurück.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/533>, abgerufen am 22.07.2024.