Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Charlotte von Kalb "ut IZean Paul.

Goethes und Schillers zusammenschloß, nicht zufällig, wenn sie Jean Paul und
seinen Freund von Örtel mit Herders, Vvtticher und Knebel zur Mittagstafel
lud, nicht zufällig, wenn sie Jean Paul den bildenden Eindrücken Weimars zu
entziehen trachtete und ihm dafür das damalige -- Leipzig empfahl. Für Jean
Paul war es offenbar ein Mißgeschick, daß er zwischen die kleinen Parteiungen
von "Weimar-Jena der großen Stadt" hineingeriet. Goethe und Schiller kaun
dabei viel weniger ein begründeter Vorwurf treffen, als die allzueifrigeu, allzu¬
geschäftigen Freunde und Freundinnen, die Richter fand. Unter den letztern
war Charlotte von Kalb die bedeutendste, gewiß aber anch diejenige, welche den
unglücklichsten Einfluß auf Jean Paul ausübte.

Während die Sammlung und Veröffentlichung der Briefe andrer Persön¬
lichkeiten völligem Aufschluß über ihren Charakter und ihr Wesen giebt, erscheint
Charlotte von Kalb mich nach den neuesten zum Teil höchst vertraulichen Mit¬
teilungen,^) deu interessantesten Selbstschildernngen, als eine vielfach rätselvolle,
in sich so wenig zur Klarheit wie zum Glücke gedieheue Frauennatur. Ganz
abgesehen von der ruck- und sprungweisen Art ihrer Empfindung und ihres Aus¬
drucks, dein bald sibyllinischen, bald kapriziösen, zuletzt aber doch mehr kapriziösen
Verhalten zu ihren Umgebungen, dem seltsam hastigen Wechsel zwischen dem
leichten Ton der Weltdame und dem gewichtigen der poetischen Seherin, scheint
sich Fron von Kalb selbst über ihre äußern Verhältnisse die Wahrheit jederzeit
verhehlt und verhüllt zu haben. Es ist Jenn Paul gegenüber unendlich viel
von der bedenklichen Lage einer der beklagenswerteste" Frauen in diesen Briefen
die Rede, aber niemand, der nicht anderweit über die Situation unterrichtet wäre,
würde je aus diesen Briefen eine Einsicht in die schweren Bedrängnisse der
Ärmsten gewinnen können.

Charlotte von Kalb als Tochter der alten fränkischen Familie Marschnlk
von Ostheim am 25. Juli 1761 geboren, war ein Opfer der gesellschaftlichen
Zustände am Ende des vorigen Jahrhunderts. Ein paar Generationen hindurch
hatte der deutsche Adel im großen Stil in immer zunehmender Nerschwenduugs-
sucht gelebt, der Maßstab für die Ausgaben wurde durchaus den standesmäßigen
Anforderungen und einem unsrer Zeit schier unglaublich dünkenden Selbstgefühl,
beinahe nie aber deu thatsächlichen VermögeusverlMtuisseu entnommen. Bor
einem raschen wirtschaftliche!? Bankrott war man in der Regel durch tausend
Privilegien. Begünstigungen, die Rechtsgewohuheitcu und die Lebensanschauung
der ganzen Zeit gewahrt, aber tausende von hochadlichen Familien waren seit
Jahrzehnten ruinirt und wußten es noch nicht, andre tausende suchten mit allen,
oft auch den schlimmsten Mitteln die Katastrophe hintanzuhalten und hiuaus-



Briefe, von Charlotte von Kalb an Jean Paul und dessen Gattin. Heraus¬
gegeben von Dr. Paul Nerrlich. Mit zwei Faesiiniles. Berlin, Weidmaunsche Buchhand¬
lung, 1382.
Charlotte von Kalb »ut IZean Paul.

Goethes und Schillers zusammenschloß, nicht zufällig, wenn sie Jean Paul und
seinen Freund von Örtel mit Herders, Vvtticher und Knebel zur Mittagstafel
lud, nicht zufällig, wenn sie Jean Paul den bildenden Eindrücken Weimars zu
entziehen trachtete und ihm dafür das damalige — Leipzig empfahl. Für Jean
Paul war es offenbar ein Mißgeschick, daß er zwischen die kleinen Parteiungen
von „Weimar-Jena der großen Stadt" hineingeriet. Goethe und Schiller kaun
dabei viel weniger ein begründeter Vorwurf treffen, als die allzueifrigeu, allzu¬
geschäftigen Freunde und Freundinnen, die Richter fand. Unter den letztern
war Charlotte von Kalb die bedeutendste, gewiß aber anch diejenige, welche den
unglücklichsten Einfluß auf Jean Paul ausübte.

Während die Sammlung und Veröffentlichung der Briefe andrer Persön¬
lichkeiten völligem Aufschluß über ihren Charakter und ihr Wesen giebt, erscheint
Charlotte von Kalb mich nach den neuesten zum Teil höchst vertraulichen Mit¬
teilungen,^) deu interessantesten Selbstschildernngen, als eine vielfach rätselvolle,
in sich so wenig zur Klarheit wie zum Glücke gedieheue Frauennatur. Ganz
abgesehen von der ruck- und sprungweisen Art ihrer Empfindung und ihres Aus¬
drucks, dein bald sibyllinischen, bald kapriziösen, zuletzt aber doch mehr kapriziösen
Verhalten zu ihren Umgebungen, dem seltsam hastigen Wechsel zwischen dem
leichten Ton der Weltdame und dem gewichtigen der poetischen Seherin, scheint
sich Fron von Kalb selbst über ihre äußern Verhältnisse die Wahrheit jederzeit
verhehlt und verhüllt zu haben. Es ist Jenn Paul gegenüber unendlich viel
von der bedenklichen Lage einer der beklagenswerteste» Frauen in diesen Briefen
die Rede, aber niemand, der nicht anderweit über die Situation unterrichtet wäre,
würde je aus diesen Briefen eine Einsicht in die schweren Bedrängnisse der
Ärmsten gewinnen können.

Charlotte von Kalb als Tochter der alten fränkischen Familie Marschnlk
von Ostheim am 25. Juli 1761 geboren, war ein Opfer der gesellschaftlichen
Zustände am Ende des vorigen Jahrhunderts. Ein paar Generationen hindurch
hatte der deutsche Adel im großen Stil in immer zunehmender Nerschwenduugs-
sucht gelebt, der Maßstab für die Ausgaben wurde durchaus den standesmäßigen
Anforderungen und einem unsrer Zeit schier unglaublich dünkenden Selbstgefühl,
beinahe nie aber deu thatsächlichen VermögeusverlMtuisseu entnommen. Bor
einem raschen wirtschaftliche!? Bankrott war man in der Regel durch tausend
Privilegien. Begünstigungen, die Rechtsgewohuheitcu und die Lebensanschauung
der ganzen Zeit gewahrt, aber tausende von hochadlichen Familien waren seit
Jahrzehnten ruinirt und wußten es noch nicht, andre tausende suchten mit allen,
oft auch den schlimmsten Mitteln die Katastrophe hintanzuhalten und hiuaus-



Briefe, von Charlotte von Kalb an Jean Paul und dessen Gattin. Heraus¬
gegeben von Dr. Paul Nerrlich. Mit zwei Faesiiniles. Berlin, Weidmaunsche Buchhand¬
lung, 1382.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0517" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193858"/>
          <fw type="header" place="top"> Charlotte von Kalb »ut IZean Paul.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1760" prev="#ID_1759"> Goethes und Schillers zusammenschloß, nicht zufällig, wenn sie Jean Paul und<lb/>
seinen Freund von Örtel mit Herders, Vvtticher und Knebel zur Mittagstafel<lb/>
lud, nicht zufällig, wenn sie Jean Paul den bildenden Eindrücken Weimars zu<lb/>
entziehen trachtete und ihm dafür das damalige &#x2014; Leipzig empfahl. Für Jean<lb/>
Paul war es offenbar ein Mißgeschick, daß er zwischen die kleinen Parteiungen<lb/>
von &#x201E;Weimar-Jena der großen Stadt" hineingeriet. Goethe und Schiller kaun<lb/>
dabei viel weniger ein begründeter Vorwurf treffen, als die allzueifrigeu, allzu¬<lb/>
geschäftigen Freunde und Freundinnen, die Richter fand. Unter den letztern<lb/>
war Charlotte von Kalb die bedeutendste, gewiß aber anch diejenige, welche den<lb/>
unglücklichsten Einfluß auf Jean Paul ausübte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1761"> Während die Sammlung und Veröffentlichung der Briefe andrer Persön¬<lb/>
lichkeiten völligem Aufschluß über ihren Charakter und ihr Wesen giebt, erscheint<lb/>
Charlotte von Kalb mich nach den neuesten zum Teil höchst vertraulichen Mit¬<lb/>
teilungen,^) deu interessantesten Selbstschildernngen, als eine vielfach rätselvolle,<lb/>
in sich so wenig zur Klarheit wie zum Glücke gedieheue Frauennatur. Ganz<lb/>
abgesehen von der ruck- und sprungweisen Art ihrer Empfindung und ihres Aus¬<lb/>
drucks, dein bald sibyllinischen, bald kapriziösen, zuletzt aber doch mehr kapriziösen<lb/>
Verhalten zu ihren Umgebungen, dem seltsam hastigen Wechsel zwischen dem<lb/>
leichten Ton der Weltdame und dem gewichtigen der poetischen Seherin, scheint<lb/>
sich Fron von Kalb selbst über ihre äußern Verhältnisse die Wahrheit jederzeit<lb/>
verhehlt und verhüllt zu haben. Es ist Jenn Paul gegenüber unendlich viel<lb/>
von der bedenklichen Lage einer der beklagenswerteste» Frauen in diesen Briefen<lb/>
die Rede, aber niemand, der nicht anderweit über die Situation unterrichtet wäre,<lb/>
würde je aus diesen Briefen eine Einsicht in die schweren Bedrängnisse der<lb/>
Ärmsten gewinnen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1762" next="#ID_1763"> Charlotte von Kalb als Tochter der alten fränkischen Familie Marschnlk<lb/>
von Ostheim am 25. Juli 1761 geboren, war ein Opfer der gesellschaftlichen<lb/>
Zustände am Ende des vorigen Jahrhunderts. Ein paar Generationen hindurch<lb/>
hatte der deutsche Adel im großen Stil in immer zunehmender Nerschwenduugs-<lb/>
sucht gelebt, der Maßstab für die Ausgaben wurde durchaus den standesmäßigen<lb/>
Anforderungen und einem unsrer Zeit schier unglaublich dünkenden Selbstgefühl,<lb/>
beinahe nie aber deu thatsächlichen VermögeusverlMtuisseu entnommen. Bor<lb/>
einem raschen wirtschaftliche!? Bankrott war man in der Regel durch tausend<lb/>
Privilegien. Begünstigungen, die Rechtsgewohuheitcu und die Lebensanschauung<lb/>
der ganzen Zeit gewahrt, aber tausende von hochadlichen Familien waren seit<lb/>
Jahrzehnten ruinirt und wußten es noch nicht, andre tausende suchten mit allen,<lb/>
oft auch den schlimmsten Mitteln die Katastrophe hintanzuhalten und hiuaus-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_42" place="foot"> Briefe, von Charlotte von Kalb an Jean Paul und dessen Gattin. Heraus¬<lb/>
gegeben von Dr. Paul Nerrlich. Mit zwei Faesiiniles. Berlin, Weidmaunsche Buchhand¬<lb/>
lung, 1382.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0517] Charlotte von Kalb »ut IZean Paul. Goethes und Schillers zusammenschloß, nicht zufällig, wenn sie Jean Paul und seinen Freund von Örtel mit Herders, Vvtticher und Knebel zur Mittagstafel lud, nicht zufällig, wenn sie Jean Paul den bildenden Eindrücken Weimars zu entziehen trachtete und ihm dafür das damalige — Leipzig empfahl. Für Jean Paul war es offenbar ein Mißgeschick, daß er zwischen die kleinen Parteiungen von „Weimar-Jena der großen Stadt" hineingeriet. Goethe und Schiller kaun dabei viel weniger ein begründeter Vorwurf treffen, als die allzueifrigeu, allzu¬ geschäftigen Freunde und Freundinnen, die Richter fand. Unter den letztern war Charlotte von Kalb die bedeutendste, gewiß aber anch diejenige, welche den unglücklichsten Einfluß auf Jean Paul ausübte. Während die Sammlung und Veröffentlichung der Briefe andrer Persön¬ lichkeiten völligem Aufschluß über ihren Charakter und ihr Wesen giebt, erscheint Charlotte von Kalb mich nach den neuesten zum Teil höchst vertraulichen Mit¬ teilungen,^) deu interessantesten Selbstschildernngen, als eine vielfach rätselvolle, in sich so wenig zur Klarheit wie zum Glücke gedieheue Frauennatur. Ganz abgesehen von der ruck- und sprungweisen Art ihrer Empfindung und ihres Aus¬ drucks, dein bald sibyllinischen, bald kapriziösen, zuletzt aber doch mehr kapriziösen Verhalten zu ihren Umgebungen, dem seltsam hastigen Wechsel zwischen dem leichten Ton der Weltdame und dem gewichtigen der poetischen Seherin, scheint sich Fron von Kalb selbst über ihre äußern Verhältnisse die Wahrheit jederzeit verhehlt und verhüllt zu haben. Es ist Jenn Paul gegenüber unendlich viel von der bedenklichen Lage einer der beklagenswerteste» Frauen in diesen Briefen die Rede, aber niemand, der nicht anderweit über die Situation unterrichtet wäre, würde je aus diesen Briefen eine Einsicht in die schweren Bedrängnisse der Ärmsten gewinnen können. Charlotte von Kalb als Tochter der alten fränkischen Familie Marschnlk von Ostheim am 25. Juli 1761 geboren, war ein Opfer der gesellschaftlichen Zustände am Ende des vorigen Jahrhunderts. Ein paar Generationen hindurch hatte der deutsche Adel im großen Stil in immer zunehmender Nerschwenduugs- sucht gelebt, der Maßstab für die Ausgaben wurde durchaus den standesmäßigen Anforderungen und einem unsrer Zeit schier unglaublich dünkenden Selbstgefühl, beinahe nie aber deu thatsächlichen VermögeusverlMtuisseu entnommen. Bor einem raschen wirtschaftliche!? Bankrott war man in der Regel durch tausend Privilegien. Begünstigungen, die Rechtsgewohuheitcu und die Lebensanschauung der ganzen Zeit gewahrt, aber tausende von hochadlichen Familien waren seit Jahrzehnten ruinirt und wußten es noch nicht, andre tausende suchten mit allen, oft auch den schlimmsten Mitteln die Katastrophe hintanzuhalten und hiuaus- Briefe, von Charlotte von Kalb an Jean Paul und dessen Gattin. Heraus¬ gegeben von Dr. Paul Nerrlich. Mit zwei Faesiiniles. Berlin, Weidmaunsche Buchhand¬ lung, 1382.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/517
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/517>, abgerufen am 24.07.2024.