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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Zur Geschichte des deutschen Liberalismus.

wirkliche Grundrechte des deutschen Volkstums zur Opfer zu bringe". So
wurden in den Beschlüssen über Freizügigkeit, Gewerbe- und Wucherfreiheit dem
freiheitlichen Jndividnnlismns die Gebote ländlicher Sitte, gewerblicher Glie¬
derung und öffentlicher Moral, in den Beschlüssen gegen Schutzzoll und indi¬
rekte Besteuerung ebeu diesem Individualismus, sowie zugleich dem (psendo-
wisseuschastlichen) internationalen Materialismus die Tugend eigner Kunst- und
Gewaltthätigkeit, das nationale Zusnmmenhangsgefühl des einzelnen Lebens-
anfwandes und das finanzielle Selbstäudigwerdeu des Reiches, in der (auch
uach 1871 unverändert beibehaltenen) Einführung französischer Maße und (be¬
sonders) Maßbenennnngen der internationalen Bequemlichkeit das volkstümliche
Gewissen des alten deutschen Worts und Gebrauchs,'") in den vielfachen Mil¬
derungen des Strafrechts (nebst versuchter Abschaffung der Todesstrafe) dem
individualistischen Humnilismus das volkstümliche Rechts- und selbstrichterliche
Gemeindebewußtseiu zum doktrinären Opfer gebracht; ja und auch das Heerwesen,
dieser zwiefache Grundpfeiler unsrer nationalen Sicherheit und Erziehung, ist
für deu fortschrittlichen Teil der liberalen Majorität nur ein Gegenstand fort¬
gesetzter materialistisch-demokratischer Angriffe und Veinängelnngen geblieben.

Nicht minder reichsgeführlich aber als diese fortschrittliche Opposition gegen
das Heerwesen war die den gestimmten reichstäglichen Liberalismus beherrschende
und unmeutlich bei dem legislativen Widerstände gegen Schutzzoll und indirekte
Besteuerung mitwirkende Doktrin von dem sogenannten wirklichen Konstitutionn-
lismus. d. h. von einem dem Reichstage grundsätzlich zustehenden Mitnusübuugs-
rechte nicht nur der legislativen, sondern auch, vermittelst parlamentarischer
Majoritätsminister, der exekutiven und regierenden Gewalt, von welcher dem
eigentliche" Inhaber derselben, dem Monarchen, außer der Heeresführuug nichts
verbleiben dürfe als ein unpersönlicher Name und unverantwortlicher Schein-



") Auf eine vom Reichstag (20. Juli 1L70) abgekehrte Petition für Beibehaltung der
alten Maße (oder wenigstens Maßbeucuuuugen) bezieht sich das folgende (tags darauf in
der Spenerschen Zeitung veröffentlichte) "Geharnischte Sonett":
Heil dir, o Reichstag, der als Reichsgericht
Für deutsches Recht du kiihu dein Wort verpfändet,
Entschlossen Hilf' und Weihe hast gespendet
Dem Tag, der blutig durch die Wolken bricht!
Des; nur dir zürn' ich, daß, vom falschen Licht
Gemeiner Wissenschaft auch heut verblendet,
Du dein Protest dein Ohr uicht zugewendet
Gegen französisches Maß und Gewicht!
Wie Pilz und Raupe frißt am deutscheu Hain
Solch fremder Nam' und Brauch: säß' er seit Jahren
Dem Volke schon, Gott schütz' es, im Gebein,
Nicht könnt' es, angefressen von Hektaren,
Metern und Lidern, heut so stark und rein
Sich messen mit dem Witze der Barbaren.
Zur Geschichte des deutschen Liberalismus.

wirkliche Grundrechte des deutschen Volkstums zur Opfer zu bringe». So
wurden in den Beschlüssen über Freizügigkeit, Gewerbe- und Wucherfreiheit dem
freiheitlichen Jndividnnlismns die Gebote ländlicher Sitte, gewerblicher Glie¬
derung und öffentlicher Moral, in den Beschlüssen gegen Schutzzoll und indi¬
rekte Besteuerung ebeu diesem Individualismus, sowie zugleich dem (psendo-
wisseuschastlichen) internationalen Materialismus die Tugend eigner Kunst- und
Gewaltthätigkeit, das nationale Zusnmmenhangsgefühl des einzelnen Lebens-
anfwandes und das finanzielle Selbstäudigwerdeu des Reiches, in der (auch
uach 1871 unverändert beibehaltenen) Einführung französischer Maße und (be¬
sonders) Maßbenennnngen der internationalen Bequemlichkeit das volkstümliche
Gewissen des alten deutschen Worts und Gebrauchs,'") in den vielfachen Mil¬
derungen des Strafrechts (nebst versuchter Abschaffung der Todesstrafe) dem
individualistischen Humnilismus das volkstümliche Rechts- und selbstrichterliche
Gemeindebewußtseiu zum doktrinären Opfer gebracht; ja und auch das Heerwesen,
dieser zwiefache Grundpfeiler unsrer nationalen Sicherheit und Erziehung, ist
für deu fortschrittlichen Teil der liberalen Majorität nur ein Gegenstand fort¬
gesetzter materialistisch-demokratischer Angriffe und Veinängelnngen geblieben.

Nicht minder reichsgeführlich aber als diese fortschrittliche Opposition gegen
das Heerwesen war die den gestimmten reichstäglichen Liberalismus beherrschende
und unmeutlich bei dem legislativen Widerstände gegen Schutzzoll und indirekte
Besteuerung mitwirkende Doktrin von dem sogenannten wirklichen Konstitutionn-
lismus. d. h. von einem dem Reichstage grundsätzlich zustehenden Mitnusübuugs-
rechte nicht nur der legislativen, sondern auch, vermittelst parlamentarischer
Majoritätsminister, der exekutiven und regierenden Gewalt, von welcher dem
eigentliche» Inhaber derselben, dem Monarchen, außer der Heeresführuug nichts
verbleiben dürfe als ein unpersönlicher Name und unverantwortlicher Schein-



") Auf eine vom Reichstag (20. Juli 1L70) abgekehrte Petition für Beibehaltung der
alten Maße (oder wenigstens Maßbeucuuuugen) bezieht sich das folgende (tags darauf in
der Spenerschen Zeitung veröffentlichte) „Geharnischte Sonett":
Heil dir, o Reichstag, der als Reichsgericht
Für deutsches Recht du kiihu dein Wort verpfändet,
Entschlossen Hilf' und Weihe hast gespendet
Dem Tag, der blutig durch die Wolken bricht!
Des; nur dir zürn' ich, daß, vom falschen Licht
Gemeiner Wissenschaft auch heut verblendet,
Du dein Protest dein Ohr uicht zugewendet
Gegen französisches Maß und Gewicht!
Wie Pilz und Raupe frißt am deutscheu Hain
Solch fremder Nam' und Brauch: säß' er seit Jahren
Dem Volke schon, Gott schütz' es, im Gebein,
Nicht könnt' es, angefressen von Hektaren,
Metern und Lidern, heut so stark und rein
Sich messen mit dem Witze der Barbaren.
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[0456] Zur Geschichte des deutschen Liberalismus. wirkliche Grundrechte des deutschen Volkstums zur Opfer zu bringe». So wurden in den Beschlüssen über Freizügigkeit, Gewerbe- und Wucherfreiheit dem freiheitlichen Jndividnnlismns die Gebote ländlicher Sitte, gewerblicher Glie¬ derung und öffentlicher Moral, in den Beschlüssen gegen Schutzzoll und indi¬ rekte Besteuerung ebeu diesem Individualismus, sowie zugleich dem (psendo- wisseuschastlichen) internationalen Materialismus die Tugend eigner Kunst- und Gewaltthätigkeit, das nationale Zusnmmenhangsgefühl des einzelnen Lebens- anfwandes und das finanzielle Selbstäudigwerdeu des Reiches, in der (auch uach 1871 unverändert beibehaltenen) Einführung französischer Maße und (be¬ sonders) Maßbenennnngen der internationalen Bequemlichkeit das volkstümliche Gewissen des alten deutschen Worts und Gebrauchs,'") in den vielfachen Mil¬ derungen des Strafrechts (nebst versuchter Abschaffung der Todesstrafe) dem individualistischen Humnilismus das volkstümliche Rechts- und selbstrichterliche Gemeindebewußtseiu zum doktrinären Opfer gebracht; ja und auch das Heerwesen, dieser zwiefache Grundpfeiler unsrer nationalen Sicherheit und Erziehung, ist für deu fortschrittlichen Teil der liberalen Majorität nur ein Gegenstand fort¬ gesetzter materialistisch-demokratischer Angriffe und Veinängelnngen geblieben. Nicht minder reichsgeführlich aber als diese fortschrittliche Opposition gegen das Heerwesen war die den gestimmten reichstäglichen Liberalismus beherrschende und unmeutlich bei dem legislativen Widerstände gegen Schutzzoll und indirekte Besteuerung mitwirkende Doktrin von dem sogenannten wirklichen Konstitutionn- lismus. d. h. von einem dem Reichstage grundsätzlich zustehenden Mitnusübuugs- rechte nicht nur der legislativen, sondern auch, vermittelst parlamentarischer Majoritätsminister, der exekutiven und regierenden Gewalt, von welcher dem eigentliche» Inhaber derselben, dem Monarchen, außer der Heeresführuug nichts verbleiben dürfe als ein unpersönlicher Name und unverantwortlicher Schein- ") Auf eine vom Reichstag (20. Juli 1L70) abgekehrte Petition für Beibehaltung der alten Maße (oder wenigstens Maßbeucuuuugen) bezieht sich das folgende (tags darauf in der Spenerschen Zeitung veröffentlichte) „Geharnischte Sonett": Heil dir, o Reichstag, der als Reichsgericht Für deutsches Recht du kiihu dein Wort verpfändet, Entschlossen Hilf' und Weihe hast gespendet Dem Tag, der blutig durch die Wolken bricht! Des; nur dir zürn' ich, daß, vom falschen Licht Gemeiner Wissenschaft auch heut verblendet, Du dein Protest dein Ohr uicht zugewendet Gegen französisches Maß und Gewicht! Wie Pilz und Raupe frißt am deutscheu Hain Solch fremder Nam' und Brauch: säß' er seit Jahren Dem Volke schon, Gott schütz' es, im Gebein, Nicht könnt' es, angefressen von Hektaren, Metern und Lidern, heut so stark und rein Sich messen mit dem Witze der Barbaren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/456>, abgerufen am 25.08.2024.