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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Anlage eine grundverschiedene. Bei Schiller sind Hero und Leander von Anfang
an durch Liebe verbunden; Musävs schildert ausführlich, bei welcher Veranlassung
sie sich zum erstenmale sehen, und das bildet mit ihrem ersten Zusammentreffen
und der Verabredung ihrer Vermählung zwei Drittel des ganzen Gedichts.
Schiller schildert eingehend das Liebesglück beider, ohne einen einzelnen Fall
herauszugreifen, Musäos dagegen nur die Brautnacht. Schiller verweilt bei der
letzten Nacht und dein jähen Riß des Bundes durch die Naturgewalt, -- die
ganze zweite Hälfte seines Gedichts wird damit ausgefüllt --; Musäos schildert
nur kurz den Sturm, die Not Leanders, das Verlöschen der Fackel, seinen Unter¬
gang "ut Heros Ahnung. Das Ende der Hero klingt bei Schiller voll ans,
und sie giebt ihren letzten Empfindungen beim Anblick von Leanders Leiche in
einer vollen Strophe Ausdruck; Musäos hat für diesen Ausgang nur wenige
Worte und schließt sehr kurz ab. Überhaupt aber ist bei Schiller viel mehr Re¬
flexion als Handlung, und auch diese nicht konkret entfaltet; bei Musävs ist,
abgesehen von Proömium und den beiden Schlußverseu, fast uur Handlung in
epischer Ausführlichkeit. Für Schiller bietet das Liebespaar mehr Interesse als
Träger einer allgemeinen Idee, und idealer Schwung giebt seinem Gedichte den
Hauptreiz; für Musäos hat dasselbe an und für sich Interesse, es ist ihm
Selbstzweck; die Erzählung, wie sich beide finden, vereinigen und untergehen,
ist mit konkreter Ausführlichkeit entfaltet, aber hierin liegt auch ausschließlich
die Stärke des Gedichtes; genialen Schwung kann man ihm nicht zuer¬
kennen.

Die Übersetzung OelsehlägerS ist sorgfältig und im gauzeu treu und wohl-
geeiguet, dem Freunde des Altertums die Dichtung zugänglich zu machen."')
Die Verse sind meistens gefällig und fließend, wen" sie anch selbstverständlich
den Reiz des Originals nicht erreichen. Die Einleitung, ans der wir die Haupt¬
sätze oben angegeben haben, erhöht den Wert des Büchleins, das hiermit bestens
empfohlen sei.





*) In Vers 5 ist die Beziehung des otz"/"""'"^ auch auf ävxvov nicht ausgedrückt, auch die
Übersetzung von 36 f. nicht gut; Vers 76 ist die Übersetzung des Adjektivs veyv
durch Jungfrau ungenau; die drei Attribute werden dadurch auf zwei beschränkt. Ebenso
waren für "^-"^^vos 90 f., Fo/loco-r" 103, "v"z,"<?v nos'vo 140 entsprechendere Übersetzungen,
zu wählen.

Anlage eine grundverschiedene. Bei Schiller sind Hero und Leander von Anfang
an durch Liebe verbunden; Musävs schildert ausführlich, bei welcher Veranlassung
sie sich zum erstenmale sehen, und das bildet mit ihrem ersten Zusammentreffen
und der Verabredung ihrer Vermählung zwei Drittel des ganzen Gedichts.
Schiller schildert eingehend das Liebesglück beider, ohne einen einzelnen Fall
herauszugreifen, Musäos dagegen nur die Brautnacht. Schiller verweilt bei der
letzten Nacht und dein jähen Riß des Bundes durch die Naturgewalt, — die
ganze zweite Hälfte seines Gedichts wird damit ausgefüllt —; Musäos schildert
nur kurz den Sturm, die Not Leanders, das Verlöschen der Fackel, seinen Unter¬
gang »ut Heros Ahnung. Das Ende der Hero klingt bei Schiller voll ans,
und sie giebt ihren letzten Empfindungen beim Anblick von Leanders Leiche in
einer vollen Strophe Ausdruck; Musäos hat für diesen Ausgang nur wenige
Worte und schließt sehr kurz ab. Überhaupt aber ist bei Schiller viel mehr Re¬
flexion als Handlung, und auch diese nicht konkret entfaltet; bei Musävs ist,
abgesehen von Proömium und den beiden Schlußverseu, fast uur Handlung in
epischer Ausführlichkeit. Für Schiller bietet das Liebespaar mehr Interesse als
Träger einer allgemeinen Idee, und idealer Schwung giebt seinem Gedichte den
Hauptreiz; für Musäos hat dasselbe an und für sich Interesse, es ist ihm
Selbstzweck; die Erzählung, wie sich beide finden, vereinigen und untergehen,
ist mit konkreter Ausführlichkeit entfaltet, aber hierin liegt auch ausschließlich
die Stärke des Gedichtes; genialen Schwung kann man ihm nicht zuer¬
kennen.

Die Übersetzung OelsehlägerS ist sorgfältig und im gauzeu treu und wohl-
geeiguet, dem Freunde des Altertums die Dichtung zugänglich zu machen."')
Die Verse sind meistens gefällig und fließend, wen» sie anch selbstverständlich
den Reiz des Originals nicht erreichen. Die Einleitung, ans der wir die Haupt¬
sätze oben angegeben haben, erhöht den Wert des Büchleins, das hiermit bestens
empfohlen sei.





*) In Vers 5 ist die Beziehung des otz»/««»'»^ auch auf ävxvov nicht ausgedrückt, auch die
Übersetzung von 36 f. nicht gut; Vers 76 ist die Übersetzung des Adjektivs veyv
durch Jungfrau ungenau; die drei Attribute werden dadurch auf zwei beschränkt. Ebenso
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[0428] Anlage eine grundverschiedene. Bei Schiller sind Hero und Leander von Anfang an durch Liebe verbunden; Musävs schildert ausführlich, bei welcher Veranlassung sie sich zum erstenmale sehen, und das bildet mit ihrem ersten Zusammentreffen und der Verabredung ihrer Vermählung zwei Drittel des ganzen Gedichts. Schiller schildert eingehend das Liebesglück beider, ohne einen einzelnen Fall herauszugreifen, Musäos dagegen nur die Brautnacht. Schiller verweilt bei der letzten Nacht und dein jähen Riß des Bundes durch die Naturgewalt, — die ganze zweite Hälfte seines Gedichts wird damit ausgefüllt —; Musäos schildert nur kurz den Sturm, die Not Leanders, das Verlöschen der Fackel, seinen Unter¬ gang »ut Heros Ahnung. Das Ende der Hero klingt bei Schiller voll ans, und sie giebt ihren letzten Empfindungen beim Anblick von Leanders Leiche in einer vollen Strophe Ausdruck; Musäos hat für diesen Ausgang nur wenige Worte und schließt sehr kurz ab. Überhaupt aber ist bei Schiller viel mehr Re¬ flexion als Handlung, und auch diese nicht konkret entfaltet; bei Musävs ist, abgesehen von Proömium und den beiden Schlußverseu, fast uur Handlung in epischer Ausführlichkeit. Für Schiller bietet das Liebespaar mehr Interesse als Träger einer allgemeinen Idee, und idealer Schwung giebt seinem Gedichte den Hauptreiz; für Musäos hat dasselbe an und für sich Interesse, es ist ihm Selbstzweck; die Erzählung, wie sich beide finden, vereinigen und untergehen, ist mit konkreter Ausführlichkeit entfaltet, aber hierin liegt auch ausschließlich die Stärke des Gedichtes; genialen Schwung kann man ihm nicht zuer¬ kennen. Die Übersetzung OelsehlägerS ist sorgfältig und im gauzeu treu und wohl- geeiguet, dem Freunde des Altertums die Dichtung zugänglich zu machen."') Die Verse sind meistens gefällig und fließend, wen» sie anch selbstverständlich den Reiz des Originals nicht erreichen. Die Einleitung, ans der wir die Haupt¬ sätze oben angegeben haben, erhöht den Wert des Büchleins, das hiermit bestens empfohlen sei. *) In Vers 5 ist die Beziehung des otz»/««»'»^ auch auf ävxvov nicht ausgedrückt, auch die Übersetzung von 36 f. nicht gut; Vers 76 ist die Übersetzung des Adjektivs veyv durch Jungfrau ungenau; die drei Attribute werden dadurch auf zwei beschränkt. Ebenso waren für «^-»^^vos 90 f., Fo/loco-r« 103, «v«z,«<?v nos'vo 140 entsprechendere Übersetzungen, zu wählen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/428>, abgerufen am 01.07.2024.