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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

So kletterte sie denn von Getreideschicht zu Getreidcschicht, um Eier zu
sammeln. Kein Ort ist angenehmer als eine solche Getreideschicht, keine Be¬
schäftigung erfreulicher als die, Eier zusammenzulesen -- diese großen, prächtigen
Perlen, die schöner als alle sind, nach welchen die Menschen ins Meer tauchen,
und die man nur gering achtet, weil sie so gewöhnlich und so nützlich sind.
Aber Julia dachte, als sie so geräuschlos herumglitt, nicht viel an die Eier und
gab wenig Acht auf die Hennen, die unter dem Stroh nach Weizenkörnchen
scharrten, und ebensowenig ans die Schwalben, die über deu Lehmwohnungen
zirpten und zwitscherten, welche sie zwischen die Deckbalken über ihr bauten. Oft
hatte sie deu Liebesgesprächen der Schwalben gelauscht, aber jetzt war ihr das
Herz zu schwer, als daß sie darauf hätte hören können. Sie rutschte am Rande
einer der Getreideschichten herunter und blieb da einige Fuß über der Dresch-
tenne sitzen, ihren Hut in der Hand und traurig hinaus ins Leere starrend.
Es war so behaglich, allein hier zu sitzen und vor sich hin zu sinnen, ohne das
Gefühl, daß ihre Mutter sich in ihre Gedanken hineindrängte.

Ein Geraschel brachte sie zum Bewußtsein. Ihr Gesicht war im Angen-
blick wie mit Feuerschein übergössen. Dort, in der einen Ecke der Dreschtenne,
stand August und blickte sie an. Er war in die Scheune gekommen, um sich
an die Stelle einer ihm zerbrochenen Griessänle eine andre zu suchen. Wäh¬
rend er sich darnach umgesehen, war Julia gekommen, und er hatte dagestanden
und vor sich hingeblickt, unfähig, sich zu entscheiden, ob er sprechen oder nicht
sprechen sollte, ungewiß, wie tief sie verletzt sein möchte, da sie bei Tische nicht
ein einzigesmal ihre Angen aus ihm hatte ruhen lassen. Und als sie an den
Rand der Getreideschicht gekommen war und dort Halt gemacht und trünmerisch
vor sich hingeblickt hatte, war August starr wie verzaubert stehen geblieben.

Einen Angenblick war sie errötet. Dann ließ sie sich, die Gelegenheit wahr¬
nehmend, ans den Boden hinab und ging auf August zu.

August, du sollst morgen Abend fortgeschickt werden.

Was habe ich denn gethan? Irgend etwas Unrechtes?

Nein.

Warum schicken sie mich denn weg?

Weil -- nun weil -- Julia hielt inne.

Aber Schweigen ist oft besser als Reden. Plötzlich sah man in den binnen
Augen Augusts das Verständnis der Sache aufblitzen. Sie stoßen mich ans
dem Hanse, weil ich Julia Anderson liebe, sagte er.

Julia errötete ein wenig.

Ich werde sie ganz ebenso lieben, wenn ich fort bin. Ich werde sie ewig
lieben.

Julia wußte uicht, was sie zu dieser leidenschaftlichen Rede sagen sollte,
und so begnügte sie sich, ein wenig dankbar nud sehr einfältig auszusehen-


Der jüngste Tag.

So kletterte sie denn von Getreideschicht zu Getreidcschicht, um Eier zu
sammeln. Kein Ort ist angenehmer als eine solche Getreideschicht, keine Be¬
schäftigung erfreulicher als die, Eier zusammenzulesen — diese großen, prächtigen
Perlen, die schöner als alle sind, nach welchen die Menschen ins Meer tauchen,
und die man nur gering achtet, weil sie so gewöhnlich und so nützlich sind.
Aber Julia dachte, als sie so geräuschlos herumglitt, nicht viel an die Eier und
gab wenig Acht auf die Hennen, die unter dem Stroh nach Weizenkörnchen
scharrten, und ebensowenig ans die Schwalben, die über deu Lehmwohnungen
zirpten und zwitscherten, welche sie zwischen die Deckbalken über ihr bauten. Oft
hatte sie deu Liebesgesprächen der Schwalben gelauscht, aber jetzt war ihr das
Herz zu schwer, als daß sie darauf hätte hören können. Sie rutschte am Rande
einer der Getreideschichten herunter und blieb da einige Fuß über der Dresch-
tenne sitzen, ihren Hut in der Hand und traurig hinaus ins Leere starrend.
Es war so behaglich, allein hier zu sitzen und vor sich hin zu sinnen, ohne das
Gefühl, daß ihre Mutter sich in ihre Gedanken hineindrängte.

Ein Geraschel brachte sie zum Bewußtsein. Ihr Gesicht war im Angen-
blick wie mit Feuerschein übergössen. Dort, in der einen Ecke der Dreschtenne,
stand August und blickte sie an. Er war in die Scheune gekommen, um sich
an die Stelle einer ihm zerbrochenen Griessänle eine andre zu suchen. Wäh¬
rend er sich darnach umgesehen, war Julia gekommen, und er hatte dagestanden
und vor sich hingeblickt, unfähig, sich zu entscheiden, ob er sprechen oder nicht
sprechen sollte, ungewiß, wie tief sie verletzt sein möchte, da sie bei Tische nicht
ein einzigesmal ihre Angen aus ihm hatte ruhen lassen. Und als sie an den
Rand der Getreideschicht gekommen war und dort Halt gemacht und trünmerisch
vor sich hingeblickt hatte, war August starr wie verzaubert stehen geblieben.

Einen Angenblick war sie errötet. Dann ließ sie sich, die Gelegenheit wahr¬
nehmend, ans den Boden hinab und ging auf August zu.

August, du sollst morgen Abend fortgeschickt werden.

Was habe ich denn gethan? Irgend etwas Unrechtes?

Nein.

Warum schicken sie mich denn weg?

Weil — nun weil — Julia hielt inne.

Aber Schweigen ist oft besser als Reden. Plötzlich sah man in den binnen
Augen Augusts das Verständnis der Sache aufblitzen. Sie stoßen mich ans
dem Hanse, weil ich Julia Anderson liebe, sagte er.

Julia errötete ein wenig.

Ich werde sie ganz ebenso lieben, wenn ich fort bin. Ich werde sie ewig
lieben.

Julia wußte uicht, was sie zu dieser leidenschaftlichen Rede sagen sollte,
und so begnügte sie sich, ein wenig dankbar nud sehr einfältig auszusehen-


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[0286] Der jüngste Tag. So kletterte sie denn von Getreideschicht zu Getreidcschicht, um Eier zu sammeln. Kein Ort ist angenehmer als eine solche Getreideschicht, keine Be¬ schäftigung erfreulicher als die, Eier zusammenzulesen — diese großen, prächtigen Perlen, die schöner als alle sind, nach welchen die Menschen ins Meer tauchen, und die man nur gering achtet, weil sie so gewöhnlich und so nützlich sind. Aber Julia dachte, als sie so geräuschlos herumglitt, nicht viel an die Eier und gab wenig Acht auf die Hennen, die unter dem Stroh nach Weizenkörnchen scharrten, und ebensowenig ans die Schwalben, die über deu Lehmwohnungen zirpten und zwitscherten, welche sie zwischen die Deckbalken über ihr bauten. Oft hatte sie deu Liebesgesprächen der Schwalben gelauscht, aber jetzt war ihr das Herz zu schwer, als daß sie darauf hätte hören können. Sie rutschte am Rande einer der Getreideschichten herunter und blieb da einige Fuß über der Dresch- tenne sitzen, ihren Hut in der Hand und traurig hinaus ins Leere starrend. Es war so behaglich, allein hier zu sitzen und vor sich hin zu sinnen, ohne das Gefühl, daß ihre Mutter sich in ihre Gedanken hineindrängte. Ein Geraschel brachte sie zum Bewußtsein. Ihr Gesicht war im Angen- blick wie mit Feuerschein übergössen. Dort, in der einen Ecke der Dreschtenne, stand August und blickte sie an. Er war in die Scheune gekommen, um sich an die Stelle einer ihm zerbrochenen Griessänle eine andre zu suchen. Wäh¬ rend er sich darnach umgesehen, war Julia gekommen, und er hatte dagestanden und vor sich hingeblickt, unfähig, sich zu entscheiden, ob er sprechen oder nicht sprechen sollte, ungewiß, wie tief sie verletzt sein möchte, da sie bei Tische nicht ein einzigesmal ihre Angen aus ihm hatte ruhen lassen. Und als sie an den Rand der Getreideschicht gekommen war und dort Halt gemacht und trünmerisch vor sich hingeblickt hatte, war August starr wie verzaubert stehen geblieben. Einen Angenblick war sie errötet. Dann ließ sie sich, die Gelegenheit wahr¬ nehmend, ans den Boden hinab und ging auf August zu. August, du sollst morgen Abend fortgeschickt werden. Was habe ich denn gethan? Irgend etwas Unrechtes? Nein. Warum schicken sie mich denn weg? Weil — nun weil — Julia hielt inne. Aber Schweigen ist oft besser als Reden. Plötzlich sah man in den binnen Augen Augusts das Verständnis der Sache aufblitzen. Sie stoßen mich ans dem Hanse, weil ich Julia Anderson liebe, sagte er. Julia errötete ein wenig. Ich werde sie ganz ebenso lieben, wenn ich fort bin. Ich werde sie ewig lieben. Julia wußte uicht, was sie zu dieser leidenschaftlichen Rede sagen sollte, und so begnügte sie sich, ein wenig dankbar nud sehr einfältig auszusehen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/286>, abgerufen am 01.07.2024.