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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Ameisenleben.

Peking, und in diesen wohlgeordneten Kommunen, die sämmtlich in der äußersten
Harmonie arbeiten, weiß jede Ameise ihre Mitbürger genau von den Fremden
zu unterscheiden. Ein solcher mag den Einwohnern eines Nestes noch so sehr
an Gestalt und Farbe gleichen, er wird sofort als Ausländer erkannt und Ver¬
trieben oder umgebracht. Von der Ameisenstadt führen oft Straßen nach Orten,
wo Nahrung zu sammeln ist oder Larven gesonnt werden können. Auf den¬
selben weichen die gehenden und die kommenden, nachdem sie sich als Landsleute
erkannt, einander höflich aus, nachdem eine Art Begrüßung dnrch Betasten
mit den Fühlern stattgefunden hat. Bisweilen füttern auch die zurückkehrenden
die von zu Hause kommenden mit einem Teile dessen, was sie an Nahrung bei
sich führen. Eine fremde Ameise dagegen, die eine solche Straße betritt, wird
ohne Verzug augegriffen und getötet. Sir John sperrte einige Ameisen, die zu
einem seiner Nester gehörte:?, in eine kleine Flasche, die er mit Muslin zuband,
und in eine andre Flasche, die ähnlich verschlossen war, eine Anzahl Ameisen
von derselben Gattung, aber aus einem andern Neste. Die Bekanntschaften er¬
weckten keine Aufmerksamkeit, obwohl sie gesehen und berührt werden konnten;
dagegen wurden die Fremden in ihrer Flasche hartnäckig belagert, bis man in
die Flasche eindrang und die Verhaßten totbeißen konnte. Nach diesem nud
vielen andern Experimenten schließt der Verfasser unsers Buches, daß bei den
Ameisen der Haß eine stärkere Leidenschaft als die Liebe sei. Selbst im Zu¬
stande der Berauschtheit erkennen sie ihre Mitbürger, obwohl in einer ihrer
Republiken eine halbe Million wohnen können. Niemals hat Lubbvck einen
Streit zwischen Ameisenschwestern aus einer und derselben Gemeinde entstehen
sehen. Wir sagen Schwestern; denn man muß sich erinnern, daß alle Arbei¬
tenden in einer solchen Stadt eigentlich unentwickelte Weibchen sind, die keine
Flügel bekommen und keine Eier legen. Sehr sonderbar ist die Thatsache, daß
Mitbürger sich sofort als solche erkennen, auch wenn sie einander monatelang
nicht begegnet sind. Bei einem Experiment unsers Beobachters geschah es, daß
die einheimischen Ameisen nach einer Trennung von einundzwanzig Monaten
ihre Freunde willkommen hießen, während sie die dieselben begleitenden Fremden
mit Wut anfielen und niedermachten.

Wir fragen: wie mag sich jenes Wiedererkennen vollziehen? Einige Forscher
haben an ein Zeichen oder Paßwort gedacht, das die Ameisen besäßen, andre
an einen eigentümlichen lokalen Geruch, der befreundeten anhafte und bei der
Begegnung gespürt würde. Dagegen spricht aber die Beobachtung, daß selbst
Puppen, die Lubbock aus den Nestern genommen, außerhalb derselben entwickelt
und dann wieder hineingesetzt hatte, als gute Freunde behandelt wurden. In
durchaus ernster und doch zugleich sehr anmutiger Weise aber führt unser Autor
den Beweis, daß an ein Paßwort bei den hier besprochenen Erkennungsszenen
unter den Ameisen nicht wohl zu denken ist. Er seinerseits gelangt zu dem
Schlüsse, daß jede Ameise eines Haufens durch eine besondre Weise des Ver-


Ameisenleben.

Peking, und in diesen wohlgeordneten Kommunen, die sämmtlich in der äußersten
Harmonie arbeiten, weiß jede Ameise ihre Mitbürger genau von den Fremden
zu unterscheiden. Ein solcher mag den Einwohnern eines Nestes noch so sehr
an Gestalt und Farbe gleichen, er wird sofort als Ausländer erkannt und Ver¬
trieben oder umgebracht. Von der Ameisenstadt führen oft Straßen nach Orten,
wo Nahrung zu sammeln ist oder Larven gesonnt werden können. Auf den¬
selben weichen die gehenden und die kommenden, nachdem sie sich als Landsleute
erkannt, einander höflich aus, nachdem eine Art Begrüßung dnrch Betasten
mit den Fühlern stattgefunden hat. Bisweilen füttern auch die zurückkehrenden
die von zu Hause kommenden mit einem Teile dessen, was sie an Nahrung bei
sich führen. Eine fremde Ameise dagegen, die eine solche Straße betritt, wird
ohne Verzug augegriffen und getötet. Sir John sperrte einige Ameisen, die zu
einem seiner Nester gehörte:?, in eine kleine Flasche, die er mit Muslin zuband,
und in eine andre Flasche, die ähnlich verschlossen war, eine Anzahl Ameisen
von derselben Gattung, aber aus einem andern Neste. Die Bekanntschaften er¬
weckten keine Aufmerksamkeit, obwohl sie gesehen und berührt werden konnten;
dagegen wurden die Fremden in ihrer Flasche hartnäckig belagert, bis man in
die Flasche eindrang und die Verhaßten totbeißen konnte. Nach diesem nud
vielen andern Experimenten schließt der Verfasser unsers Buches, daß bei den
Ameisen der Haß eine stärkere Leidenschaft als die Liebe sei. Selbst im Zu¬
stande der Berauschtheit erkennen sie ihre Mitbürger, obwohl in einer ihrer
Republiken eine halbe Million wohnen können. Niemals hat Lubbvck einen
Streit zwischen Ameisenschwestern aus einer und derselben Gemeinde entstehen
sehen. Wir sagen Schwestern; denn man muß sich erinnern, daß alle Arbei¬
tenden in einer solchen Stadt eigentlich unentwickelte Weibchen sind, die keine
Flügel bekommen und keine Eier legen. Sehr sonderbar ist die Thatsache, daß
Mitbürger sich sofort als solche erkennen, auch wenn sie einander monatelang
nicht begegnet sind. Bei einem Experiment unsers Beobachters geschah es, daß
die einheimischen Ameisen nach einer Trennung von einundzwanzig Monaten
ihre Freunde willkommen hießen, während sie die dieselben begleitenden Fremden
mit Wut anfielen und niedermachten.

Wir fragen: wie mag sich jenes Wiedererkennen vollziehen? Einige Forscher
haben an ein Zeichen oder Paßwort gedacht, das die Ameisen besäßen, andre
an einen eigentümlichen lokalen Geruch, der befreundeten anhafte und bei der
Begegnung gespürt würde. Dagegen spricht aber die Beobachtung, daß selbst
Puppen, die Lubbock aus den Nestern genommen, außerhalb derselben entwickelt
und dann wieder hineingesetzt hatte, als gute Freunde behandelt wurden. In
durchaus ernster und doch zugleich sehr anmutiger Weise aber führt unser Autor
den Beweis, daß an ein Paßwort bei den hier besprochenen Erkennungsszenen
unter den Ameisen nicht wohl zu denken ist. Er seinerseits gelangt zu dem
Schlüsse, daß jede Ameise eines Haufens durch eine besondre Weise des Ver-


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[0260] Ameisenleben. Peking, und in diesen wohlgeordneten Kommunen, die sämmtlich in der äußersten Harmonie arbeiten, weiß jede Ameise ihre Mitbürger genau von den Fremden zu unterscheiden. Ein solcher mag den Einwohnern eines Nestes noch so sehr an Gestalt und Farbe gleichen, er wird sofort als Ausländer erkannt und Ver¬ trieben oder umgebracht. Von der Ameisenstadt führen oft Straßen nach Orten, wo Nahrung zu sammeln ist oder Larven gesonnt werden können. Auf den¬ selben weichen die gehenden und die kommenden, nachdem sie sich als Landsleute erkannt, einander höflich aus, nachdem eine Art Begrüßung dnrch Betasten mit den Fühlern stattgefunden hat. Bisweilen füttern auch die zurückkehrenden die von zu Hause kommenden mit einem Teile dessen, was sie an Nahrung bei sich führen. Eine fremde Ameise dagegen, die eine solche Straße betritt, wird ohne Verzug augegriffen und getötet. Sir John sperrte einige Ameisen, die zu einem seiner Nester gehörte:?, in eine kleine Flasche, die er mit Muslin zuband, und in eine andre Flasche, die ähnlich verschlossen war, eine Anzahl Ameisen von derselben Gattung, aber aus einem andern Neste. Die Bekanntschaften er¬ weckten keine Aufmerksamkeit, obwohl sie gesehen und berührt werden konnten; dagegen wurden die Fremden in ihrer Flasche hartnäckig belagert, bis man in die Flasche eindrang und die Verhaßten totbeißen konnte. Nach diesem nud vielen andern Experimenten schließt der Verfasser unsers Buches, daß bei den Ameisen der Haß eine stärkere Leidenschaft als die Liebe sei. Selbst im Zu¬ stande der Berauschtheit erkennen sie ihre Mitbürger, obwohl in einer ihrer Republiken eine halbe Million wohnen können. Niemals hat Lubbvck einen Streit zwischen Ameisenschwestern aus einer und derselben Gemeinde entstehen sehen. Wir sagen Schwestern; denn man muß sich erinnern, daß alle Arbei¬ tenden in einer solchen Stadt eigentlich unentwickelte Weibchen sind, die keine Flügel bekommen und keine Eier legen. Sehr sonderbar ist die Thatsache, daß Mitbürger sich sofort als solche erkennen, auch wenn sie einander monatelang nicht begegnet sind. Bei einem Experiment unsers Beobachters geschah es, daß die einheimischen Ameisen nach einer Trennung von einundzwanzig Monaten ihre Freunde willkommen hießen, während sie die dieselben begleitenden Fremden mit Wut anfielen und niedermachten. Wir fragen: wie mag sich jenes Wiedererkennen vollziehen? Einige Forscher haben an ein Zeichen oder Paßwort gedacht, das die Ameisen besäßen, andre an einen eigentümlichen lokalen Geruch, der befreundeten anhafte und bei der Begegnung gespürt würde. Dagegen spricht aber die Beobachtung, daß selbst Puppen, die Lubbock aus den Nestern genommen, außerhalb derselben entwickelt und dann wieder hineingesetzt hatte, als gute Freunde behandelt wurden. In durchaus ernster und doch zugleich sehr anmutiger Weise aber führt unser Autor den Beweis, daß an ein Paßwort bei den hier besprochenen Erkennungsszenen unter den Ameisen nicht wohl zu denken ist. Er seinerseits gelangt zu dem Schlüsse, daß jede Ameise eines Haufens durch eine besondre Weise des Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/260>, abgerufen am 25.08.2024.