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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Die angekündigte Reform im Lehrplane der Gymnasien.

Stunden der Unterricht in der Physik anschliest. So fällt mitten in die Klassen,
in denen der Unterricht in den beschreibenden Naturwissenschaften ertheilt wird,
die Quarta hinein, welche diesen Unterricht ganz entbehrt, weil für ihn kein
Raum ist. Welche Störung der Unterrichtsgang durch diese Unterbrechung er¬
leidet, wird jedem einleuchten. Ein methodisches Fortschreiten ist dadurch fast
zur Unmöglichkeit geworden. Eine Beseitigung dieses Uebelstandes wird jeder
erfahrene Schulmann fiir wünschenswerth erklären. Es fragt sich nur, ob das
vorgeschlagene Mittel das rechte ist.

Häufig und nicht ohne Grund wird die Klage laut, daß die Leistungen
unsrer Gymnasien im Griechischen nicht dem entsprechen, was mit Recht gefor¬
dert werde und worauf der Unterricht hinausgehen müsse. Freilich was Um<
fang und Sicherheit der grammatischen Kenntniß betrifft, so sind die Schüler
jetzt im ganze" gleichmäßiger und im Durchschnitt wohl sicherer vorgebildet als
in früherer Zeit; aber sie lesen von den Autoren zu wenig und erlangen nicht
die Sicherheit und Leichtigkeit im Verständniß derselben, die wünschenswerth
wäre. Wie gering ist die Zahl derer, welche ohne den Zwang des Brotstudiums
nach ihrer Schulzeit noch ihren Homer und Sophokles, ihren Herodot oder
Demosthenes zur Hand nehmen! Hat ihnen die Schule zu wenig das Ver¬
ständniß und Interesse für diese Autoren geweckt, welche doch alle Zeiten als
mustergiltig gepriesen haben, oder schreckt sie die Mühe ab, daß sie Vokabeln
aufschlagen und bei dem Verständniß der einzelnen Sätze sich abquälen müssen
und so zu einem Genuß des Ganzen nicht gelangen? Die große Mehrzahl ist
wenige Semester, nachdem sie die Schule verlassen, nicht einmal mehr imstande,
das noch zu verstehen, was sie einst auf der Schule gelesen haben. Sie habe"
mit einer so bewundernswerthen Elasticität des Geistes vergessen, daß außer der
Kenntniß der krausen Buchstaben, einiger Wunderlichkeiten der Formenlehre und
vielleicht der Etymologie des einen oder andern Wortes als positives Resultat
des griechischen Unterrichts ihnen nur das erhebende Bewußtsein geblieben ist,
daß auch sie einst den Homer im Urtext mit Hilfe der Vossischen Uebersetzung
gelesen haben. Solche Leute, die nie an einem griechischen Autor sich erwärmt
haben, deuen nie die Schönheit eines griechischen Dichters zum deutlichen Be¬
wußtsein gekommen ist, sind zwar zu allen Zeiten von den Gymnasien entlassen
worden; wollen wir aber auch ferner die Kenntniß des Griechischen und Latei-
nischen als Vorbedingung für akademische Studien gelten lassen, so müssen wir
dafür sorgen, daß ihre Zahl eine möglichst geringe sei.

Die Bedeutung, welche die Betreibung der logisch so scharfen und bestimmten
lateinischen Sprache für die formale Bildung des Geistes hat, wird keiner unter¬
schätzen, der sich mit den einschlagenden Fragen genauer beschäftigt hat, und
nicht leicht wird deshalb ein Sachverständiger vorschlagen, daß dem Griechischen
das Uebergewicht im Gymnasialunterricht zugewiesen werde, welches jetzt das La¬
teinische hat, Andrerseits können wir uns aber doch dem nicht verschließen, daß


Die angekündigte Reform im Lehrplane der Gymnasien.

Stunden der Unterricht in der Physik anschliest. So fällt mitten in die Klassen,
in denen der Unterricht in den beschreibenden Naturwissenschaften ertheilt wird,
die Quarta hinein, welche diesen Unterricht ganz entbehrt, weil für ihn kein
Raum ist. Welche Störung der Unterrichtsgang durch diese Unterbrechung er¬
leidet, wird jedem einleuchten. Ein methodisches Fortschreiten ist dadurch fast
zur Unmöglichkeit geworden. Eine Beseitigung dieses Uebelstandes wird jeder
erfahrene Schulmann fiir wünschenswerth erklären. Es fragt sich nur, ob das
vorgeschlagene Mittel das rechte ist.

Häufig und nicht ohne Grund wird die Klage laut, daß die Leistungen
unsrer Gymnasien im Griechischen nicht dem entsprechen, was mit Recht gefor¬
dert werde und worauf der Unterricht hinausgehen müsse. Freilich was Um<
fang und Sicherheit der grammatischen Kenntniß betrifft, so sind die Schüler
jetzt im ganze» gleichmäßiger und im Durchschnitt wohl sicherer vorgebildet als
in früherer Zeit; aber sie lesen von den Autoren zu wenig und erlangen nicht
die Sicherheit und Leichtigkeit im Verständniß derselben, die wünschenswerth
wäre. Wie gering ist die Zahl derer, welche ohne den Zwang des Brotstudiums
nach ihrer Schulzeit noch ihren Homer und Sophokles, ihren Herodot oder
Demosthenes zur Hand nehmen! Hat ihnen die Schule zu wenig das Ver¬
ständniß und Interesse für diese Autoren geweckt, welche doch alle Zeiten als
mustergiltig gepriesen haben, oder schreckt sie die Mühe ab, daß sie Vokabeln
aufschlagen und bei dem Verständniß der einzelnen Sätze sich abquälen müssen
und so zu einem Genuß des Ganzen nicht gelangen? Die große Mehrzahl ist
wenige Semester, nachdem sie die Schule verlassen, nicht einmal mehr imstande,
das noch zu verstehen, was sie einst auf der Schule gelesen haben. Sie habe»
mit einer so bewundernswerthen Elasticität des Geistes vergessen, daß außer der
Kenntniß der krausen Buchstaben, einiger Wunderlichkeiten der Formenlehre und
vielleicht der Etymologie des einen oder andern Wortes als positives Resultat
des griechischen Unterrichts ihnen nur das erhebende Bewußtsein geblieben ist,
daß auch sie einst den Homer im Urtext mit Hilfe der Vossischen Uebersetzung
gelesen haben. Solche Leute, die nie an einem griechischen Autor sich erwärmt
haben, deuen nie die Schönheit eines griechischen Dichters zum deutlichen Be¬
wußtsein gekommen ist, sind zwar zu allen Zeiten von den Gymnasien entlassen
worden; wollen wir aber auch ferner die Kenntniß des Griechischen und Latei-
nischen als Vorbedingung für akademische Studien gelten lassen, so müssen wir
dafür sorgen, daß ihre Zahl eine möglichst geringe sei.

Die Bedeutung, welche die Betreibung der logisch so scharfen und bestimmten
lateinischen Sprache für die formale Bildung des Geistes hat, wird keiner unter¬
schätzen, der sich mit den einschlagenden Fragen genauer beschäftigt hat, und
nicht leicht wird deshalb ein Sachverständiger vorschlagen, daß dem Griechischen
das Uebergewicht im Gymnasialunterricht zugewiesen werde, welches jetzt das La¬
teinische hat, Andrerseits können wir uns aber doch dem nicht verschließen, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/557>, abgerufen am 15.01.2025.