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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Gin halbasiatischer Roaian.

nicht nur auf diesem hie und da grellbunte" Hintergründe spielten, sondern deren
Hauptmotive aus deu Landes- und Volkscigenthümlichkeiten von Halbasicu er¬
wuchsen. Hier durste demnach das Gvethische "Wer den Dichter will verstehen,
muß in Dichters Lande gehen" keinen Augenblick vergessen werden, um weder
ungerecht gegen den Poeten und seine Erfindung zu werden, wo sie auf der
Eigenart des Landes und Volkes beruhte, noch sich vom Schimmer der Ori¬
ginalität täuschen zu lassen, welcher nothwendig überall eintritt, wo einer
Erzählung fremdartige Elemente beigemischt sind. Und in noch höherm Grade
als bei den kleinern Erzählungen wird man einer großen Composition gegenüber,
welche der Alltor in dem Romane "Ein Kampf ums Recht" darbietet/') zu
prüfen haben, wie weit die Wirkung der poetischen Gestaltung reicht, wo die¬
selbe von den ethnographischen Zuthaten des Buches unterstützt, wo sie andrer¬
seits von eben diesen beeinträchtigt wird. Wer sich begnügt, von einem Roman
zu begehren, daß er ein interessantes, fesselndes Buch sei, dem kann "Ein Kampf
ums Recht" ohne jede Kritik empfohlen werden. Wer andre höhere Maßstäbe
anlegt und einen Roman, der über die gewöhnliche Unterhaltllngsliteratur hinaus¬
ragt, als ein poetisches Kunstwerk ansieht, der hat sich mit dem "Kampf ums
Recht" in verschiednen Punkten auseinanderzusetzen und muß namentlich das
eigenthümliche Verhältniß betrachten, in welchem dieser Roman aus Halbasien
zu einem ältern Meisterwerke unsrer Literatur, zu Heinrich von Kleists Erzäh¬
lung "Michael Kvhlhas" steht. Die Jheringschen Worte: "Der Kampf ums
Recht ist die Poesie des Charakters. Jeder, der beim Anblick der Vergewal¬
tigung des Rechts durch die Willkür Entrüstung, sittlichen Zorn empfindet, be¬
sitzt diesen idealen Sinn. Während sich dem Gefühl, welches die selbsterlittenc
Nechtskränkuilg hervorruft, ein egoistisches Motiv beimischt, hat jenes Gefühl
ausschließlich seinen Grund in der Macht der sittlichen Idee über das mensch¬
liche Gemüth; es ist der Protest der kräftigen sittlichen Natur gegen den Frevel
um Recht, ein sittlicher Vorgang, gleich anziehend und ergiebig für die Betrach¬
tung des Psychologen wie für die Gestaltungskraft des Dichters. Meines Wissens
giebt es keinen andern Affect, der so plötzlich eine so gewaltige Umwandlung
im Menschen hervorzurufen vermag, denn es ist bekannt, daß gerade die mil¬
desten versöhnlichsten Naturen dadurch in einen Zustand der Leidenschaft ver¬
setzt werden können, der ihnen sonst völlig fremd ist, ein Beweis, daß sie in
dem Edelsten, das sie in sich tragen, in ihrem innersten Mark getroffen find" --
diese Worte stehen dem Franzosschcn Buche als Motto voran. Da nun jeder,
der je den Klcistschen "Kvhlhas" gelesen hat, auf der Stelle empfinden wird,
daß dies Motto auch vor jener Erzählung stehen könnte, so ergiebt sich von
vornherein eine eigenthümliche Gleichheit des Motivs. Darin liegt an sich kein



Ein Kampf ums Roche. Roman von Karl Emil Franzos. Zwei Bände.
VrcSlcm und Leipzig, S. Schottlaender, 1882.
Gin halbasiatischer Roaian.

nicht nur auf diesem hie und da grellbunte» Hintergründe spielten, sondern deren
Hauptmotive aus deu Landes- und Volkscigenthümlichkeiten von Halbasicu er¬
wuchsen. Hier durste demnach das Gvethische „Wer den Dichter will verstehen,
muß in Dichters Lande gehen" keinen Augenblick vergessen werden, um weder
ungerecht gegen den Poeten und seine Erfindung zu werden, wo sie auf der
Eigenart des Landes und Volkes beruhte, noch sich vom Schimmer der Ori¬
ginalität täuschen zu lassen, welcher nothwendig überall eintritt, wo einer
Erzählung fremdartige Elemente beigemischt sind. Und in noch höherm Grade
als bei den kleinern Erzählungen wird man einer großen Composition gegenüber,
welche der Alltor in dem Romane „Ein Kampf ums Recht" darbietet/') zu
prüfen haben, wie weit die Wirkung der poetischen Gestaltung reicht, wo die¬
selbe von den ethnographischen Zuthaten des Buches unterstützt, wo sie andrer¬
seits von eben diesen beeinträchtigt wird. Wer sich begnügt, von einem Roman
zu begehren, daß er ein interessantes, fesselndes Buch sei, dem kann „Ein Kampf
ums Recht" ohne jede Kritik empfohlen werden. Wer andre höhere Maßstäbe
anlegt und einen Roman, der über die gewöhnliche Unterhaltllngsliteratur hinaus¬
ragt, als ein poetisches Kunstwerk ansieht, der hat sich mit dem „Kampf ums
Recht" in verschiednen Punkten auseinanderzusetzen und muß namentlich das
eigenthümliche Verhältniß betrachten, in welchem dieser Roman aus Halbasien
zu einem ältern Meisterwerke unsrer Literatur, zu Heinrich von Kleists Erzäh¬
lung „Michael Kvhlhas" steht. Die Jheringschen Worte: „Der Kampf ums
Recht ist die Poesie des Charakters. Jeder, der beim Anblick der Vergewal¬
tigung des Rechts durch die Willkür Entrüstung, sittlichen Zorn empfindet, be¬
sitzt diesen idealen Sinn. Während sich dem Gefühl, welches die selbsterlittenc
Nechtskränkuilg hervorruft, ein egoistisches Motiv beimischt, hat jenes Gefühl
ausschließlich seinen Grund in der Macht der sittlichen Idee über das mensch¬
liche Gemüth; es ist der Protest der kräftigen sittlichen Natur gegen den Frevel
um Recht, ein sittlicher Vorgang, gleich anziehend und ergiebig für die Betrach¬
tung des Psychologen wie für die Gestaltungskraft des Dichters. Meines Wissens
giebt es keinen andern Affect, der so plötzlich eine so gewaltige Umwandlung
im Menschen hervorzurufen vermag, denn es ist bekannt, daß gerade die mil¬
desten versöhnlichsten Naturen dadurch in einen Zustand der Leidenschaft ver¬
setzt werden können, der ihnen sonst völlig fremd ist, ein Beweis, daß sie in
dem Edelsten, das sie in sich tragen, in ihrem innersten Mark getroffen find" —
diese Worte stehen dem Franzosschcn Buche als Motto voran. Da nun jeder,
der je den Klcistschen „Kvhlhas" gelesen hat, auf der Stelle empfinden wird,
daß dies Motto auch vor jener Erzählung stehen könnte, so ergiebt sich von
vornherein eine eigenthümliche Gleichheit des Motivs. Darin liegt an sich kein



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VrcSlcm und Leipzig, S. Schottlaender, 1882.
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[0421] Gin halbasiatischer Roaian. nicht nur auf diesem hie und da grellbunte» Hintergründe spielten, sondern deren Hauptmotive aus deu Landes- und Volkscigenthümlichkeiten von Halbasicu er¬ wuchsen. Hier durste demnach das Gvethische „Wer den Dichter will verstehen, muß in Dichters Lande gehen" keinen Augenblick vergessen werden, um weder ungerecht gegen den Poeten und seine Erfindung zu werden, wo sie auf der Eigenart des Landes und Volkes beruhte, noch sich vom Schimmer der Ori¬ ginalität täuschen zu lassen, welcher nothwendig überall eintritt, wo einer Erzählung fremdartige Elemente beigemischt sind. Und in noch höherm Grade als bei den kleinern Erzählungen wird man einer großen Composition gegenüber, welche der Alltor in dem Romane „Ein Kampf ums Recht" darbietet/') zu prüfen haben, wie weit die Wirkung der poetischen Gestaltung reicht, wo die¬ selbe von den ethnographischen Zuthaten des Buches unterstützt, wo sie andrer¬ seits von eben diesen beeinträchtigt wird. Wer sich begnügt, von einem Roman zu begehren, daß er ein interessantes, fesselndes Buch sei, dem kann „Ein Kampf ums Recht" ohne jede Kritik empfohlen werden. Wer andre höhere Maßstäbe anlegt und einen Roman, der über die gewöhnliche Unterhaltllngsliteratur hinaus¬ ragt, als ein poetisches Kunstwerk ansieht, der hat sich mit dem „Kampf ums Recht" in verschiednen Punkten auseinanderzusetzen und muß namentlich das eigenthümliche Verhältniß betrachten, in welchem dieser Roman aus Halbasien zu einem ältern Meisterwerke unsrer Literatur, zu Heinrich von Kleists Erzäh¬ lung „Michael Kvhlhas" steht. Die Jheringschen Worte: „Der Kampf ums Recht ist die Poesie des Charakters. Jeder, der beim Anblick der Vergewal¬ tigung des Rechts durch die Willkür Entrüstung, sittlichen Zorn empfindet, be¬ sitzt diesen idealen Sinn. Während sich dem Gefühl, welches die selbsterlittenc Nechtskränkuilg hervorruft, ein egoistisches Motiv beimischt, hat jenes Gefühl ausschließlich seinen Grund in der Macht der sittlichen Idee über das mensch¬ liche Gemüth; es ist der Protest der kräftigen sittlichen Natur gegen den Frevel um Recht, ein sittlicher Vorgang, gleich anziehend und ergiebig für die Betrach¬ tung des Psychologen wie für die Gestaltungskraft des Dichters. Meines Wissens giebt es keinen andern Affect, der so plötzlich eine so gewaltige Umwandlung im Menschen hervorzurufen vermag, denn es ist bekannt, daß gerade die mil¬ desten versöhnlichsten Naturen dadurch in einen Zustand der Leidenschaft ver¬ setzt werden können, der ihnen sonst völlig fremd ist, ein Beweis, daß sie in dem Edelsten, das sie in sich tragen, in ihrem innersten Mark getroffen find" — diese Worte stehen dem Franzosschcn Buche als Motto voran. Da nun jeder, der je den Klcistschen „Kvhlhas" gelesen hat, auf der Stelle empfinden wird, daß dies Motto auch vor jener Erzählung stehen könnte, so ergiebt sich von vornherein eine eigenthümliche Gleichheit des Motivs. Darin liegt an sich kein Ein Kampf ums Roche. Roman von Karl Emil Franzos. Zwei Bände. VrcSlcm und Leipzig, S. Schottlaender, 1882.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/421>, abgerufen am 15.01.2025.