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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Die Acmzlerkrisis.

haften Sinne "constitutionell," d. h. nach der jeweiligen Kammermajorität, zu
regieren, dürfte er doch der Ansicht zuneigen, daß es ihn in eine schiefe Stel¬
lung zum Reichstag und schließlich zum Volle bringen müßte, wenn er seine
Umgebung ausschließlich aus den Reihen der Conservativen wählte. Denn diese
sind nun einmal von den drei großen Reichstagsgruppen die kleinste. Mit
andern Worten: wir vermuthen, daß der Reichskanzler einige Ministerien oder
doch mindestens einige hohe Vertrauensposten in seiner Umgebung mit neuen
Männern besetzen werde, die ihm andre Stimmung, andern Wind aus dem
Lande zubringen könnten als den bisherigen conservativen Hauch, von dem ihm
wohl allzuviel berichtet wurde, und der allzuschnell verflog, statt zu der ge-
hofften kräftigen Brise anzuschwellen, mit welcher er das Staatsschiff auf die
See der Socialpolitik hätte treiben lassen können. Daß der Reichskanzler neue
Männer um seine Person berufen werde, entsprechend der unerwartet im Reichs-'
tage zum Ausdruck gekommenen Stimmung im Lande, schien uns auch aus der
Aeußerung eines regierungsfreundlichen Blattes hervorzugehen, er berathe mit
dem Kaiser, um die durch die Wahlen geschaffene Logik seinerseits durch That¬
sachen zu erhärten. Es geht das aber auch klar und unzweideutig hervor aus
den Nachrichten, wonach der Kaiser seineu Kanzler ermächtigt hat, der Zu¬
sammensetzung des neuen Reichstags entsprechend neue Minister neben sich zu
berufen."

Wir sagten uns in Betreff dieses Raisonnements folgendes. Vom Staats-
znschuß zu der Arbeiterversichcrung wird der Kanzler nicht abgehen, und ebenso¬
wenig wird er das Tabaksmonopol aus seiner Berechnung streichen. Jener ist
nöthig, weil die Arbeiter nicht bloß versorgt werden, sondern den Staat als
Versorger, als AbHelfer ihrer Noth, als Sichersteller ihrer Zukunft kennen lernen
und fortan werth halten sollen. Das Monopol allein aber kann die Mittel
zu solcher Versorgung liefern. Die Eonservativen sind allerdings durch die
Wahlen zur kleinsten der drei großen Gruppen im Reichstage geworden. Wenn
aber den Liberalen daraus, daß sie zahlreicher sind, ein Anspruch auf Besetzung
von Ministerposten erwachsen sein soll, so verlangen Logik und Billigkeit, daß
man der zahlreichsten Gruppe mindestens denselben Anspruch zuerkennt, und diese
zahlreichste ist das Centrum; denn an einen festen Zusammenschluß der drei liberalen
Fractionen zu einer großen liberalen Partei ist im Ernste nicht zu denken. Die
Fortschrittspartei und wahrscheinlich auch die Secessionisten werden bei den
meisten Actionen getrennt von den Nationalliberaleu marschiren. Das Mini¬
sterium, welches sich die oben zum Worte gekommene Stimme denkt, würde ein
Koalitionsministerium sein, ein Conglomerat aus Conservativen und Liberalen,
das den Zwiespalt und die Zerfahrenheit der Reichstagsparteien in die unmittel¬
bare Umgebung des Kanzlers, gleichsam in sein Haus und sein Zimmer ver¬
pflanzte. Zu allen Zeiten hat dieser ein homogenes Ministerium gewünscht und
erstrebt, und jetzt soll er sich von freien Stücken Collegen attachiren, die das


Die Acmzlerkrisis.

haften Sinne »constitutionell,« d. h. nach der jeweiligen Kammermajorität, zu
regieren, dürfte er doch der Ansicht zuneigen, daß es ihn in eine schiefe Stel¬
lung zum Reichstag und schließlich zum Volle bringen müßte, wenn er seine
Umgebung ausschließlich aus den Reihen der Conservativen wählte. Denn diese
sind nun einmal von den drei großen Reichstagsgruppen die kleinste. Mit
andern Worten: wir vermuthen, daß der Reichskanzler einige Ministerien oder
doch mindestens einige hohe Vertrauensposten in seiner Umgebung mit neuen
Männern besetzen werde, die ihm andre Stimmung, andern Wind aus dem
Lande zubringen könnten als den bisherigen conservativen Hauch, von dem ihm
wohl allzuviel berichtet wurde, und der allzuschnell verflog, statt zu der ge-
hofften kräftigen Brise anzuschwellen, mit welcher er das Staatsschiff auf die
See der Socialpolitik hätte treiben lassen können. Daß der Reichskanzler neue
Männer um seine Person berufen werde, entsprechend der unerwartet im Reichs-'
tage zum Ausdruck gekommenen Stimmung im Lande, schien uns auch aus der
Aeußerung eines regierungsfreundlichen Blattes hervorzugehen, er berathe mit
dem Kaiser, um die durch die Wahlen geschaffene Logik seinerseits durch That¬
sachen zu erhärten. Es geht das aber auch klar und unzweideutig hervor aus
den Nachrichten, wonach der Kaiser seineu Kanzler ermächtigt hat, der Zu¬
sammensetzung des neuen Reichstags entsprechend neue Minister neben sich zu
berufen."

Wir sagten uns in Betreff dieses Raisonnements folgendes. Vom Staats-
znschuß zu der Arbeiterversichcrung wird der Kanzler nicht abgehen, und ebenso¬
wenig wird er das Tabaksmonopol aus seiner Berechnung streichen. Jener ist
nöthig, weil die Arbeiter nicht bloß versorgt werden, sondern den Staat als
Versorger, als AbHelfer ihrer Noth, als Sichersteller ihrer Zukunft kennen lernen
und fortan werth halten sollen. Das Monopol allein aber kann die Mittel
zu solcher Versorgung liefern. Die Eonservativen sind allerdings durch die
Wahlen zur kleinsten der drei großen Gruppen im Reichstage geworden. Wenn
aber den Liberalen daraus, daß sie zahlreicher sind, ein Anspruch auf Besetzung
von Ministerposten erwachsen sein soll, so verlangen Logik und Billigkeit, daß
man der zahlreichsten Gruppe mindestens denselben Anspruch zuerkennt, und diese
zahlreichste ist das Centrum; denn an einen festen Zusammenschluß der drei liberalen
Fractionen zu einer großen liberalen Partei ist im Ernste nicht zu denken. Die
Fortschrittspartei und wahrscheinlich auch die Secessionisten werden bei den
meisten Actionen getrennt von den Nationalliberaleu marschiren. Das Mini¬
sterium, welches sich die oben zum Worte gekommene Stimme denkt, würde ein
Koalitionsministerium sein, ein Conglomerat aus Conservativen und Liberalen,
das den Zwiespalt und die Zerfahrenheit der Reichstagsparteien in die unmittel¬
bare Umgebung des Kanzlers, gleichsam in sein Haus und sein Zimmer ver¬
pflanzte. Zu allen Zeiten hat dieser ein homogenes Ministerium gewünscht und
erstrebt, und jetzt soll er sich von freien Stücken Collegen attachiren, die das


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[0349] Die Acmzlerkrisis. haften Sinne »constitutionell,« d. h. nach der jeweiligen Kammermajorität, zu regieren, dürfte er doch der Ansicht zuneigen, daß es ihn in eine schiefe Stel¬ lung zum Reichstag und schließlich zum Volle bringen müßte, wenn er seine Umgebung ausschließlich aus den Reihen der Conservativen wählte. Denn diese sind nun einmal von den drei großen Reichstagsgruppen die kleinste. Mit andern Worten: wir vermuthen, daß der Reichskanzler einige Ministerien oder doch mindestens einige hohe Vertrauensposten in seiner Umgebung mit neuen Männern besetzen werde, die ihm andre Stimmung, andern Wind aus dem Lande zubringen könnten als den bisherigen conservativen Hauch, von dem ihm wohl allzuviel berichtet wurde, und der allzuschnell verflog, statt zu der ge- hofften kräftigen Brise anzuschwellen, mit welcher er das Staatsschiff auf die See der Socialpolitik hätte treiben lassen können. Daß der Reichskanzler neue Männer um seine Person berufen werde, entsprechend der unerwartet im Reichs-' tage zum Ausdruck gekommenen Stimmung im Lande, schien uns auch aus der Aeußerung eines regierungsfreundlichen Blattes hervorzugehen, er berathe mit dem Kaiser, um die durch die Wahlen geschaffene Logik seinerseits durch That¬ sachen zu erhärten. Es geht das aber auch klar und unzweideutig hervor aus den Nachrichten, wonach der Kaiser seineu Kanzler ermächtigt hat, der Zu¬ sammensetzung des neuen Reichstags entsprechend neue Minister neben sich zu berufen." Wir sagten uns in Betreff dieses Raisonnements folgendes. Vom Staats- znschuß zu der Arbeiterversichcrung wird der Kanzler nicht abgehen, und ebenso¬ wenig wird er das Tabaksmonopol aus seiner Berechnung streichen. Jener ist nöthig, weil die Arbeiter nicht bloß versorgt werden, sondern den Staat als Versorger, als AbHelfer ihrer Noth, als Sichersteller ihrer Zukunft kennen lernen und fortan werth halten sollen. Das Monopol allein aber kann die Mittel zu solcher Versorgung liefern. Die Eonservativen sind allerdings durch die Wahlen zur kleinsten der drei großen Gruppen im Reichstage geworden. Wenn aber den Liberalen daraus, daß sie zahlreicher sind, ein Anspruch auf Besetzung von Ministerposten erwachsen sein soll, so verlangen Logik und Billigkeit, daß man der zahlreichsten Gruppe mindestens denselben Anspruch zuerkennt, und diese zahlreichste ist das Centrum; denn an einen festen Zusammenschluß der drei liberalen Fractionen zu einer großen liberalen Partei ist im Ernste nicht zu denken. Die Fortschrittspartei und wahrscheinlich auch die Secessionisten werden bei den meisten Actionen getrennt von den Nationalliberaleu marschiren. Das Mini¬ sterium, welches sich die oben zum Worte gekommene Stimme denkt, würde ein Koalitionsministerium sein, ein Conglomerat aus Conservativen und Liberalen, das den Zwiespalt und die Zerfahrenheit der Reichstagsparteien in die unmittel¬ bare Umgebung des Kanzlers, gleichsam in sein Haus und sein Zimmer ver¬ pflanzte. Zu allen Zeiten hat dieser ein homogenes Ministerium gewünscht und erstrebt, und jetzt soll er sich von freien Stücken Collegen attachiren, die das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/349>, abgerufen am 15.01.2025.