Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.Literatur. giebt Menschen, die unglücklich sind, bloß weil sie sind/' Die Aufdringlichkeit Das Schivergewicht liegt in der psychologischen Entwicklung Oedins und Literatur. giebt Menschen, die unglücklich sind, bloß weil sie sind/' Die Aufdringlichkeit Das Schivergewicht liegt in der psychologischen Entwicklung Oedins und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0345" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151067"/> <fw type="header" place="top"> Literatur.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1153" prev="#ID_1152"> giebt Menschen, die unglücklich sind, bloß weil sie sind/' Die Aufdringlichkeit<lb/> dieses Contrastes sowie die Ueberspanntheit des Mottos sind charakteristisch für<lb/> das ganze Buch. Der Königssee und seine Umgebungen bilden den Schauplatz<lb/> einer Geschichte, deren Inhalt ein psychologischer Krankheitsproceß ist. Ocdin (soll<lb/> der Name andeuten, daß es in diesem Menschen öde ist, oder heißt er so, weil er<lb/> sich in die Einöde zurückgezogen hat?) hat sich voll Ekels an der Welt in die<lb/> Bergeinsamkeit vergraben. Dort sucht thu Alexandra auf, die er vor Jahren ver¬<lb/> führt und verlassen. Sie kommt in der Absicht, ihn unglücklich zu machen, sich<lb/> an ihm zu rächen; doch die finstern Geister weichen vor dem milden Einflüsse von<lb/> Oedins Mutter. Schon soll die neuentfachte Liebe beider zu einem neuen be¬<lb/> glückenden Bunde führen, da erfährt die Mutter, daß Alexandra das von ihr einst<lb/> dem Ocdin geborne Kind ermordet hat, und zwingt sie, zu fliehen. Oedin, dem<lb/> sie den Sachverhalt verbirgt, sagt sich von ihr los und geht in die Welt. Als er<lb/> nach wüsten fünf Jahren zurückkehrt, findet er die Mutter todt, schlendert in wilder<lb/> Verzweiflung den Feuerbrand in sein Hans und stürzt sich dann mit Alexandra,<lb/> die inzwischen in der Bergeinsamkeit gelebt hat, vom Felsen in den Obersee.</p><lb/> <p xml:id="ID_1154" next="#ID_1155"> Das Schivergewicht liegt in der psychologischen Entwicklung Oedins und<lb/> Alexandras. Freilich kann von einer Entwicklung eigentlich nnr bei Alexandra die Rede<lb/> sein, Oedin steht zu Ende auf demselben Standpunkte wie zu Anfang: er ist<lb/> „Wcltschmcrzler und Pessimist." Goethes Faust, Grabbe, Georg Büchner sind seine<lb/> litcrcirischcn Väter: er selbst nennt sich „eine Carricatur von Manfred und Faust,<lb/> Kam und Diogenes." Eigentlich ist er also schon ein bischen cmtiqnirt; darüber<lb/> tänscht auch der Aufputz mit Schopenhauer und Hartmann nicht hinweg, ganz ab¬<lb/> gesehen davon, daß Weltschmerz und Pessimismus sich durchaus nicht decken, ja im<lb/> Grunde sogar einander widerstreben. Bon den literarischen Vorbildern sind Grabbe<lb/> und Büchner nur noch literarhistorisch bedeutsam, auf die Gegenwart wirken sie<lb/> kaum noch unmittelbar ein; und aus Goethes „Faust," der in seiner ewigen Jugend<lb/> den Menschen und die Menschheit in ihrer Gesammtheit nmfcißt, entnimmt jede<lb/> Zeit, was ihr congenial ist; hat seiner Zeit der Weltschmerz ans dein ersten Theile<lb/> Nahrung gesogen, so wendet die Gegenwart mit neuerwachtem Interesse ihre Blicke<lb/> dein zweiten Theile zu und erquickt sich an der befreienden und erlösenden Kraft<lb/> der That, die dem deu Frieden giebt, den das Wissen im Stiche gelassen und das<lb/> Genießen in Sünde und Schuld verstrickt hat. Erscheint uns so Oedin als lite¬<lb/> rarischer Nachzügler einer überwundenen Epoche, so will uns sein letzter Wunsch,<lb/> „daß mit ihm das ganze Geschlecht dieser sogenannten Weltschmerzler in einen Ab¬<lb/> grund geschleudert werden, mit dem einen Wcrthlosen und Unnützen die ganze<lb/> Masse untergehen könnte" (S. 420), im ganzen gegenstandslos vorkomme. Fast<lb/> scheint es, als habe der Dichter, der seinen Helden in gewagten Spotte von sich<lb/> sagen läßt, er sei zeitlebens eine schlechte Copie großer Vorbilder gewesen, in dem<lb/> ganzen Buche eine Copie eines großen Vorbildes, nämlich des „Werther," geben<lb/> »vollen. Er glaubt deu Typus einer weitverbreiteten schleichenden Krankheit dar¬<lb/> zustellen und denkt damit deren Verlauf zu beschleunigen und so den Proceß der<lb/> Gesundung einzuleiten. Aber die Krankheit, die er schildert, ist uur die eiues ein¬<lb/> zelnen, und zwar seine eigne (denn die Identificirung seiner Person mit der seines<lb/> Helden wird von ihm geradezu herausgefordert), und so kann das Buch nur als<lb/> das gelten, was es nach Absicht des Dichters wohl zugleich auch sein soll, als ein<lb/> Act der Selbstbefreiung, als Versuch der Ueberwindung eines krankhaften Seelen-<lb/> zustandes. In diesem Sinne mag man es auch mit Theilnahme und Interesse auf¬<lb/> nehmen, denn der Verfasser erweist sich als ein Mann von bedeutenden Gaben,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0345]
Literatur.
giebt Menschen, die unglücklich sind, bloß weil sie sind/' Die Aufdringlichkeit
dieses Contrastes sowie die Ueberspanntheit des Mottos sind charakteristisch für
das ganze Buch. Der Königssee und seine Umgebungen bilden den Schauplatz
einer Geschichte, deren Inhalt ein psychologischer Krankheitsproceß ist. Ocdin (soll
der Name andeuten, daß es in diesem Menschen öde ist, oder heißt er so, weil er
sich in die Einöde zurückgezogen hat?) hat sich voll Ekels an der Welt in die
Bergeinsamkeit vergraben. Dort sucht thu Alexandra auf, die er vor Jahren ver¬
führt und verlassen. Sie kommt in der Absicht, ihn unglücklich zu machen, sich
an ihm zu rächen; doch die finstern Geister weichen vor dem milden Einflüsse von
Oedins Mutter. Schon soll die neuentfachte Liebe beider zu einem neuen be¬
glückenden Bunde führen, da erfährt die Mutter, daß Alexandra das von ihr einst
dem Ocdin geborne Kind ermordet hat, und zwingt sie, zu fliehen. Oedin, dem
sie den Sachverhalt verbirgt, sagt sich von ihr los und geht in die Welt. Als er
nach wüsten fünf Jahren zurückkehrt, findet er die Mutter todt, schlendert in wilder
Verzweiflung den Feuerbrand in sein Hans und stürzt sich dann mit Alexandra,
die inzwischen in der Bergeinsamkeit gelebt hat, vom Felsen in den Obersee.
Das Schivergewicht liegt in der psychologischen Entwicklung Oedins und
Alexandras. Freilich kann von einer Entwicklung eigentlich nnr bei Alexandra die Rede
sein, Oedin steht zu Ende auf demselben Standpunkte wie zu Anfang: er ist
„Wcltschmcrzler und Pessimist." Goethes Faust, Grabbe, Georg Büchner sind seine
litcrcirischcn Väter: er selbst nennt sich „eine Carricatur von Manfred und Faust,
Kam und Diogenes." Eigentlich ist er also schon ein bischen cmtiqnirt; darüber
tänscht auch der Aufputz mit Schopenhauer und Hartmann nicht hinweg, ganz ab¬
gesehen davon, daß Weltschmerz und Pessimismus sich durchaus nicht decken, ja im
Grunde sogar einander widerstreben. Bon den literarischen Vorbildern sind Grabbe
und Büchner nur noch literarhistorisch bedeutsam, auf die Gegenwart wirken sie
kaum noch unmittelbar ein; und aus Goethes „Faust," der in seiner ewigen Jugend
den Menschen und die Menschheit in ihrer Gesammtheit nmfcißt, entnimmt jede
Zeit, was ihr congenial ist; hat seiner Zeit der Weltschmerz ans dein ersten Theile
Nahrung gesogen, so wendet die Gegenwart mit neuerwachtem Interesse ihre Blicke
dein zweiten Theile zu und erquickt sich an der befreienden und erlösenden Kraft
der That, die dem deu Frieden giebt, den das Wissen im Stiche gelassen und das
Genießen in Sünde und Schuld verstrickt hat. Erscheint uns so Oedin als lite¬
rarischer Nachzügler einer überwundenen Epoche, so will uns sein letzter Wunsch,
„daß mit ihm das ganze Geschlecht dieser sogenannten Weltschmerzler in einen Ab¬
grund geschleudert werden, mit dem einen Wcrthlosen und Unnützen die ganze
Masse untergehen könnte" (S. 420), im ganzen gegenstandslos vorkomme. Fast
scheint es, als habe der Dichter, der seinen Helden in gewagten Spotte von sich
sagen läßt, er sei zeitlebens eine schlechte Copie großer Vorbilder gewesen, in dem
ganzen Buche eine Copie eines großen Vorbildes, nämlich des „Werther," geben
»vollen. Er glaubt deu Typus einer weitverbreiteten schleichenden Krankheit dar¬
zustellen und denkt damit deren Verlauf zu beschleunigen und so den Proceß der
Gesundung einzuleiten. Aber die Krankheit, die er schildert, ist uur die eiues ein¬
zelnen, und zwar seine eigne (denn die Identificirung seiner Person mit der seines
Helden wird von ihm geradezu herausgefordert), und so kann das Buch nur als
das gelten, was es nach Absicht des Dichters wohl zugleich auch sein soll, als ein
Act der Selbstbefreiung, als Versuch der Ueberwindung eines krankhaften Seelen-
zustandes. In diesem Sinne mag man es auch mit Theilnahme und Interesse auf¬
nehmen, denn der Verfasser erweist sich als ein Mann von bedeutenden Gaben,
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