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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

selbst dann unsrer Befriedigung noch immer zu Grunde liegen, nur daß diese
Uebereinstimmung dann nur von allgemeinerer Art sein könnte. Auch dürfte
die Uebereinstimmung niemals so weit gehen, um uns völlig zu täuschen, da
uns dies vielmehr in vielen Fällen erschrecken und abstoßen würde. Aristoteles
selbst weist darauf hin, wenn er sagt, daß das, was uns in der Wirklichkeit
Ekel und Abscheu errege, dies in der Abbildung aufhöre zu thun. Worauf be¬
ruht nun wohl diese Freude an dem Schein einer Nachahmung, dessen wir uns
doch immer in einem bestimmten Umfange bewußt bleiben müssen? Ich glaube,
nur darauf, daß die Erscheinung des Wirklichen hier zu etwas geworden, was
ganz nur auf unsern Geist bezogen ist, und daß wir uns dadurch gleichsam der
Sphäre der Wirklichkeit selbst entrückt fühlen. Gleichwohl hält Aristoteles diese
Freude an den, Scheine der Nachahmung zwar für die Quelle der Kunst, aber
noch ebensowenig wie die bloße Nachahmung selbst schon für etwas künstle¬
risches. Was nach ihm den nachahmenden zum Künstler macht (er spricht hier
vom Dichter und zwar vom dramatischen Dichter), ist vielmehr erst die Er¬
findung. Erfindung ist ihm das wahre Kennzeichen des nachahmenden Dichters.
Das Werk der künstlerischen Nachahmung verlangt daher nach ihm Phantasie
und eine gewisse Umbildung, in der, ohne die Uebereinstimmung mit der Natur
im wesentlichen aufzuheben, der Dichter sich doch als solcher erst zeigen kann.
Ist diese Umbildung eine willkürliche, oder durch was wird sie bestimmt? Offenbar
nur von dem Zwecke des Kunstwerks und durch die Gesetze der Natur des Gegen¬
stands, den es darstellt. Das Kunstwerk wie die künstlerische Thätigkeit muß daher
einen Zweck haben. Zola freilich schließt mit der Phantasie auch jeden Zweck
der künstlerischen Darstellung aus, der nicht in der Uebereinstimmung mit der
Natur, in der Naturwahrheit liegt. Sehen wir uns daher diese Naturwahrheit
doch etwas näher an. Der Künstler hat es bei seiner Nachahmung nicht wie
der Forscher mit der Wirklichkeit selbst, sondern immer nur mit der Erscheinung
derselben zu thun. Diese hängt aber außer von eiuer Menge äußerer Zufällig¬
keiten auch noch von der Einrichtung unsrer Sinneswerkzeuge ab. Sie hat
hierdurch nicht nur eine mehr subjective Bedeutung, sondern es ist diese auch
nur von einem relativen Werth. Die Erscheinung eines Gegenstandes ist z. B.
für das Auge mit jeder veränderten Entfernung eine andre. Ebenso verändert
sich mit jeder Entfernung die Menge, zum Theil auch die Anordnung der in
den Gesichtskreis fallenden Gegenstände. Mit der größern Entfernung ver¬
schwinden viele von diesen Gegenständen, andre treten hinzu, mit jeder größern
Annäherung, geschieht das gleiche nur im umgekehrten Verhältnisse. Das Mikroskop
eröffnete, jemehr es den Gesichtskreis des unbewaffneten Auges einengte, um
so mehr den Einblick in eine ganz neue Welt, von der man vorher keine Ahnung
gehabt. Trotz dieser unendlichen Verschiedenheit in der Erscheinung derselben
Gegenstände ist jede einzelne doch gleich wahr, die Wahrheit einer jeden aber
freilich nur eine ebenso relative als subjective. Und diese Wahrheit sollte für


Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

selbst dann unsrer Befriedigung noch immer zu Grunde liegen, nur daß diese
Uebereinstimmung dann nur von allgemeinerer Art sein könnte. Auch dürfte
die Uebereinstimmung niemals so weit gehen, um uns völlig zu täuschen, da
uns dies vielmehr in vielen Fällen erschrecken und abstoßen würde. Aristoteles
selbst weist darauf hin, wenn er sagt, daß das, was uns in der Wirklichkeit
Ekel und Abscheu errege, dies in der Abbildung aufhöre zu thun. Worauf be¬
ruht nun wohl diese Freude an dem Schein einer Nachahmung, dessen wir uns
doch immer in einem bestimmten Umfange bewußt bleiben müssen? Ich glaube,
nur darauf, daß die Erscheinung des Wirklichen hier zu etwas geworden, was
ganz nur auf unsern Geist bezogen ist, und daß wir uns dadurch gleichsam der
Sphäre der Wirklichkeit selbst entrückt fühlen. Gleichwohl hält Aristoteles diese
Freude an den, Scheine der Nachahmung zwar für die Quelle der Kunst, aber
noch ebensowenig wie die bloße Nachahmung selbst schon für etwas künstle¬
risches. Was nach ihm den nachahmenden zum Künstler macht (er spricht hier
vom Dichter und zwar vom dramatischen Dichter), ist vielmehr erst die Er¬
findung. Erfindung ist ihm das wahre Kennzeichen des nachahmenden Dichters.
Das Werk der künstlerischen Nachahmung verlangt daher nach ihm Phantasie
und eine gewisse Umbildung, in der, ohne die Uebereinstimmung mit der Natur
im wesentlichen aufzuheben, der Dichter sich doch als solcher erst zeigen kann.
Ist diese Umbildung eine willkürliche, oder durch was wird sie bestimmt? Offenbar
nur von dem Zwecke des Kunstwerks und durch die Gesetze der Natur des Gegen¬
stands, den es darstellt. Das Kunstwerk wie die künstlerische Thätigkeit muß daher
einen Zweck haben. Zola freilich schließt mit der Phantasie auch jeden Zweck
der künstlerischen Darstellung aus, der nicht in der Uebereinstimmung mit der
Natur, in der Naturwahrheit liegt. Sehen wir uns daher diese Naturwahrheit
doch etwas näher an. Der Künstler hat es bei seiner Nachahmung nicht wie
der Forscher mit der Wirklichkeit selbst, sondern immer nur mit der Erscheinung
derselben zu thun. Diese hängt aber außer von eiuer Menge äußerer Zufällig¬
keiten auch noch von der Einrichtung unsrer Sinneswerkzeuge ab. Sie hat
hierdurch nicht nur eine mehr subjective Bedeutung, sondern es ist diese auch
nur von einem relativen Werth. Die Erscheinung eines Gegenstandes ist z. B.
für das Auge mit jeder veränderten Entfernung eine andre. Ebenso verändert
sich mit jeder Entfernung die Menge, zum Theil auch die Anordnung der in
den Gesichtskreis fallenden Gegenstände. Mit der größern Entfernung ver¬
schwinden viele von diesen Gegenständen, andre treten hinzu, mit jeder größern
Annäherung, geschieht das gleiche nur im umgekehrten Verhältnisse. Das Mikroskop
eröffnete, jemehr es den Gesichtskreis des unbewaffneten Auges einengte, um
so mehr den Einblick in eine ganz neue Welt, von der man vorher keine Ahnung
gehabt. Trotz dieser unendlichen Verschiedenheit in der Erscheinung derselben
Gegenstände ist jede einzelne doch gleich wahr, die Wahrheit einer jeden aber
freilich nur eine ebenso relative als subjective. Und diese Wahrheit sollte für


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[0325] Zola und der Naturalismus auf dem Theater. selbst dann unsrer Befriedigung noch immer zu Grunde liegen, nur daß diese Uebereinstimmung dann nur von allgemeinerer Art sein könnte. Auch dürfte die Uebereinstimmung niemals so weit gehen, um uns völlig zu täuschen, da uns dies vielmehr in vielen Fällen erschrecken und abstoßen würde. Aristoteles selbst weist darauf hin, wenn er sagt, daß das, was uns in der Wirklichkeit Ekel und Abscheu errege, dies in der Abbildung aufhöre zu thun. Worauf be¬ ruht nun wohl diese Freude an dem Schein einer Nachahmung, dessen wir uns doch immer in einem bestimmten Umfange bewußt bleiben müssen? Ich glaube, nur darauf, daß die Erscheinung des Wirklichen hier zu etwas geworden, was ganz nur auf unsern Geist bezogen ist, und daß wir uns dadurch gleichsam der Sphäre der Wirklichkeit selbst entrückt fühlen. Gleichwohl hält Aristoteles diese Freude an den, Scheine der Nachahmung zwar für die Quelle der Kunst, aber noch ebensowenig wie die bloße Nachahmung selbst schon für etwas künstle¬ risches. Was nach ihm den nachahmenden zum Künstler macht (er spricht hier vom Dichter und zwar vom dramatischen Dichter), ist vielmehr erst die Er¬ findung. Erfindung ist ihm das wahre Kennzeichen des nachahmenden Dichters. Das Werk der künstlerischen Nachahmung verlangt daher nach ihm Phantasie und eine gewisse Umbildung, in der, ohne die Uebereinstimmung mit der Natur im wesentlichen aufzuheben, der Dichter sich doch als solcher erst zeigen kann. Ist diese Umbildung eine willkürliche, oder durch was wird sie bestimmt? Offenbar nur von dem Zwecke des Kunstwerks und durch die Gesetze der Natur des Gegen¬ stands, den es darstellt. Das Kunstwerk wie die künstlerische Thätigkeit muß daher einen Zweck haben. Zola freilich schließt mit der Phantasie auch jeden Zweck der künstlerischen Darstellung aus, der nicht in der Uebereinstimmung mit der Natur, in der Naturwahrheit liegt. Sehen wir uns daher diese Naturwahrheit doch etwas näher an. Der Künstler hat es bei seiner Nachahmung nicht wie der Forscher mit der Wirklichkeit selbst, sondern immer nur mit der Erscheinung derselben zu thun. Diese hängt aber außer von eiuer Menge äußerer Zufällig¬ keiten auch noch von der Einrichtung unsrer Sinneswerkzeuge ab. Sie hat hierdurch nicht nur eine mehr subjective Bedeutung, sondern es ist diese auch nur von einem relativen Werth. Die Erscheinung eines Gegenstandes ist z. B. für das Auge mit jeder veränderten Entfernung eine andre. Ebenso verändert sich mit jeder Entfernung die Menge, zum Theil auch die Anordnung der in den Gesichtskreis fallenden Gegenstände. Mit der größern Entfernung ver¬ schwinden viele von diesen Gegenständen, andre treten hinzu, mit jeder größern Annäherung, geschieht das gleiche nur im umgekehrten Verhältnisse. Das Mikroskop eröffnete, jemehr es den Gesichtskreis des unbewaffneten Auges einengte, um so mehr den Einblick in eine ganz neue Welt, von der man vorher keine Ahnung gehabt. Trotz dieser unendlichen Verschiedenheit in der Erscheinung derselben Gegenstände ist jede einzelne doch gleich wahr, die Wahrheit einer jeden aber freilich nur eine ebenso relative als subjective. Und diese Wahrheit sollte für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/325>, abgerufen am 15.01.2025.