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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

Zimmerwand fallen muß. Der geschlossene Zimmerraum bleibt noch immer ein
nur scheinbarer, das so natürliche Spiel noch immer ein in dieser Beziehung
conventionelles. Die Verschiedenheit der Bühnenoptik von der wirklichen wird
zwar von Zola berührt, aber über die Unzuträglichkeiten, die sie bewirkt, wird
völlig hinweggegangen. Die Bühnenoptik ist aber nur von einem bestimmten Platze
gesehen eine ganz richtige. Auch wird es nie möglich sein, die Perspective der
Person bei ihren Bewegungen nach der Tiefe der Bühne völlig in Ueber¬
einstimmung zu bringen mit der Perspective der auf der Decoration dargestellten
Gegenstände. Ein andrer Verstoß gegen die Wahrheit entspringt aus der Größe
des Bühnenraums. Auch der größte Bühnenraum entspricht der wirklichen
Größe eines Marktplatzes nicht, noch weniger freilich den Wohnungsräumen
bürgerlicher Beschränktheit und den kümmerlichen Lebensverhältnissen der Armuth.
Ein dritter Uebelstand tritt bei den landschaftlichen Decorationen hervor. Man
hat ihnen durch durchbrochene Coulissen, Versatzstücke und Zwischengründe einen
außerordentlichen Schein von Realität zu geben verstanden. Die zwischen den
Ausschnitten befestigte Gaze, welche von den nähern Plätzen ins Auge fällt,
weist aber doch zu sehr auf die Täuschung hin, um nicht stören zu müssen.
Noch schlimmer verhält es sich mit der Verbindung der Coulissen und Soffiten
hierin, durch welche der Eindruck der Naturwahrheit völlig aufgehoben erscheint,
was auch wohl nie ganz zu beseitigen sein wird. "Jeder Kampf sür die Natur¬
wahrheit auf der Bühne -- sagt Zola -- ist ein Kampf gegen den Conven-
tionalismus derselben, und ein Werk erscheint um so größer, je siegreicher es
aus diesem Kampfe hervorgeht." Gewiß giebt es Conventionen genug, welche
in diesem Kampfe fallen können, fallen sollten, gleichwohl wird dieser Kampf
seine Grenze finden, weil die Conventionen der Kunst zum Theil in dem Wesen
und Mitteln der verschiedenen Künste begründet sind. Der Schauspieler wird
z. B. die Illusion nie so weit treiben können, daß er die Wirklichkeit völlig
ersetzte; man achte nur auf die Verschiedenheiten der besten Schauspieler bei
Darstellung derselben Rolle in Spielweise, Erscheinung und Rede. Auch wird
jeder Fortschritt neue Conventionen nach sich ziehen, wie selbst noch das Beste
mißbraucht werden kann. Sollte die so gepriesene Naturwahrheit hiervon eine
Ausnahme bilden?

Die frühere Bühne dachte so wenig an sie, daß sie lange Zeit die Frauen¬
rollen von Männern darstellen ließ. Hat der Naturalismus, dem die spätere
Bühne gehuldigt, verhindert, daß nun umgekehrt Männerrollen durch Frauen
dargestellt wurden? Gleich uach Aufnahme der Frauen auf die englische Bühne
wurde eines der obscönsten Lustspiele derselben, Ins xMvu's vsääinA, nur
von Frauen gespielt. Mrs. Bracegirdle war berühmt in Hosenrollen, Margaret
Woffington in eigentlichen Männerrollen, darunter Hcirry Wildair, das Urbild
der Klingsberge; selbst eine so große und ernste Künstlerin wie Sarah Kemble
spielte gelegentlich "Hamlet." Der ältern Bühne war das Kostüm überhaupt


Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

Zimmerwand fallen muß. Der geschlossene Zimmerraum bleibt noch immer ein
nur scheinbarer, das so natürliche Spiel noch immer ein in dieser Beziehung
conventionelles. Die Verschiedenheit der Bühnenoptik von der wirklichen wird
zwar von Zola berührt, aber über die Unzuträglichkeiten, die sie bewirkt, wird
völlig hinweggegangen. Die Bühnenoptik ist aber nur von einem bestimmten Platze
gesehen eine ganz richtige. Auch wird es nie möglich sein, die Perspective der
Person bei ihren Bewegungen nach der Tiefe der Bühne völlig in Ueber¬
einstimmung zu bringen mit der Perspective der auf der Decoration dargestellten
Gegenstände. Ein andrer Verstoß gegen die Wahrheit entspringt aus der Größe
des Bühnenraums. Auch der größte Bühnenraum entspricht der wirklichen
Größe eines Marktplatzes nicht, noch weniger freilich den Wohnungsräumen
bürgerlicher Beschränktheit und den kümmerlichen Lebensverhältnissen der Armuth.
Ein dritter Uebelstand tritt bei den landschaftlichen Decorationen hervor. Man
hat ihnen durch durchbrochene Coulissen, Versatzstücke und Zwischengründe einen
außerordentlichen Schein von Realität zu geben verstanden. Die zwischen den
Ausschnitten befestigte Gaze, welche von den nähern Plätzen ins Auge fällt,
weist aber doch zu sehr auf die Täuschung hin, um nicht stören zu müssen.
Noch schlimmer verhält es sich mit der Verbindung der Coulissen und Soffiten
hierin, durch welche der Eindruck der Naturwahrheit völlig aufgehoben erscheint,
was auch wohl nie ganz zu beseitigen sein wird. „Jeder Kampf sür die Natur¬
wahrheit auf der Bühne — sagt Zola — ist ein Kampf gegen den Conven-
tionalismus derselben, und ein Werk erscheint um so größer, je siegreicher es
aus diesem Kampfe hervorgeht." Gewiß giebt es Conventionen genug, welche
in diesem Kampfe fallen können, fallen sollten, gleichwohl wird dieser Kampf
seine Grenze finden, weil die Conventionen der Kunst zum Theil in dem Wesen
und Mitteln der verschiedenen Künste begründet sind. Der Schauspieler wird
z. B. die Illusion nie so weit treiben können, daß er die Wirklichkeit völlig
ersetzte; man achte nur auf die Verschiedenheiten der besten Schauspieler bei
Darstellung derselben Rolle in Spielweise, Erscheinung und Rede. Auch wird
jeder Fortschritt neue Conventionen nach sich ziehen, wie selbst noch das Beste
mißbraucht werden kann. Sollte die so gepriesene Naturwahrheit hiervon eine
Ausnahme bilden?

Die frühere Bühne dachte so wenig an sie, daß sie lange Zeit die Frauen¬
rollen von Männern darstellen ließ. Hat der Naturalismus, dem die spätere
Bühne gehuldigt, verhindert, daß nun umgekehrt Männerrollen durch Frauen
dargestellt wurden? Gleich uach Aufnahme der Frauen auf die englische Bühne
wurde eines der obscönsten Lustspiele derselben, Ins xMvu's vsääinA, nur
von Frauen gespielt. Mrs. Bracegirdle war berühmt in Hosenrollen, Margaret
Woffington in eigentlichen Männerrollen, darunter Hcirry Wildair, das Urbild
der Klingsberge; selbst eine so große und ernste Künstlerin wie Sarah Kemble
spielte gelegentlich „Hamlet." Der ältern Bühne war das Kostüm überhaupt


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[0316] Zola und der Naturalismus auf dem Theater. Zimmerwand fallen muß. Der geschlossene Zimmerraum bleibt noch immer ein nur scheinbarer, das so natürliche Spiel noch immer ein in dieser Beziehung conventionelles. Die Verschiedenheit der Bühnenoptik von der wirklichen wird zwar von Zola berührt, aber über die Unzuträglichkeiten, die sie bewirkt, wird völlig hinweggegangen. Die Bühnenoptik ist aber nur von einem bestimmten Platze gesehen eine ganz richtige. Auch wird es nie möglich sein, die Perspective der Person bei ihren Bewegungen nach der Tiefe der Bühne völlig in Ueber¬ einstimmung zu bringen mit der Perspective der auf der Decoration dargestellten Gegenstände. Ein andrer Verstoß gegen die Wahrheit entspringt aus der Größe des Bühnenraums. Auch der größte Bühnenraum entspricht der wirklichen Größe eines Marktplatzes nicht, noch weniger freilich den Wohnungsräumen bürgerlicher Beschränktheit und den kümmerlichen Lebensverhältnissen der Armuth. Ein dritter Uebelstand tritt bei den landschaftlichen Decorationen hervor. Man hat ihnen durch durchbrochene Coulissen, Versatzstücke und Zwischengründe einen außerordentlichen Schein von Realität zu geben verstanden. Die zwischen den Ausschnitten befestigte Gaze, welche von den nähern Plätzen ins Auge fällt, weist aber doch zu sehr auf die Täuschung hin, um nicht stören zu müssen. Noch schlimmer verhält es sich mit der Verbindung der Coulissen und Soffiten hierin, durch welche der Eindruck der Naturwahrheit völlig aufgehoben erscheint, was auch wohl nie ganz zu beseitigen sein wird. „Jeder Kampf sür die Natur¬ wahrheit auf der Bühne — sagt Zola — ist ein Kampf gegen den Conven- tionalismus derselben, und ein Werk erscheint um so größer, je siegreicher es aus diesem Kampfe hervorgeht." Gewiß giebt es Conventionen genug, welche in diesem Kampfe fallen können, fallen sollten, gleichwohl wird dieser Kampf seine Grenze finden, weil die Conventionen der Kunst zum Theil in dem Wesen und Mitteln der verschiedenen Künste begründet sind. Der Schauspieler wird z. B. die Illusion nie so weit treiben können, daß er die Wirklichkeit völlig ersetzte; man achte nur auf die Verschiedenheiten der besten Schauspieler bei Darstellung derselben Rolle in Spielweise, Erscheinung und Rede. Auch wird jeder Fortschritt neue Conventionen nach sich ziehen, wie selbst noch das Beste mißbraucht werden kann. Sollte die so gepriesene Naturwahrheit hiervon eine Ausnahme bilden? Die frühere Bühne dachte so wenig an sie, daß sie lange Zeit die Frauen¬ rollen von Männern darstellen ließ. Hat der Naturalismus, dem die spätere Bühne gehuldigt, verhindert, daß nun umgekehrt Männerrollen durch Frauen dargestellt wurden? Gleich uach Aufnahme der Frauen auf die englische Bühne wurde eines der obscönsten Lustspiele derselben, Ins xMvu's vsääinA, nur von Frauen gespielt. Mrs. Bracegirdle war berühmt in Hosenrollen, Margaret Woffington in eigentlichen Männerrollen, darunter Hcirry Wildair, das Urbild der Klingsberge; selbst eine so große und ernste Künstlerin wie Sarah Kemble spielte gelegentlich „Hamlet." Der ältern Bühne war das Kostüm überhaupt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/316>, abgerufen am 15.01.2025.