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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zoll, und der Naturalismus auf dem Theater.

Sie hat es eben nur mit der Erscheinung derselben zu thun. Me will damit
aber keineswegs täusche". Sie weist sogar selbst darauf hin, der Maler durch
den Rahmen seines Bildes, der Bildhauer durch das offen hervortretende Ma¬
terial, die Bühne durch ihre ganze Einrichtung. Eine Täuschung mit dem vollen
Schein der Wirklichkeit würde ganz unkünstlerisch sein. Daher es denn in der That
die stärkste Verurtheilung verdient, wenn die Bühne zu solchen Täuschungen mi߬
braucht und die auf sie ausgehende Bühnentechnik besonders gepriesen, ja als
das eigentliche Kennzeichen der dramatischen Begabung hingestellt wird. Je
größere Meister die Franzosen in dieser Art der Bühnentechnik sind, je feiner
sie die damit beabsichtigten Täuschungen zu verhüllen verstehen, je mehr bei ihnen
dieser Mißbrauch tolerirt, ja sanctionirt wird, um so mehr hatte Zola auch
Recht, gegen denselben, sowie gegen die Künstlichkeit, den Mechanismus, das
Romanhafte in der Erfindung der Handlung ihrer Stücke aufzutreten, unter
denen die natürliche und folgerichtige Entwicklung der Charaktere zu leiden hat.
Aber selbst hier verfällt er sofort in einen neuen Irrthum, indem er dafür das
Wesen der Handlung im Drama überhaupt verantwortlich macht und die Be¬
hauptung aufstellt, das Ueberwiegen der Handlung sei der Tod der Charakte¬
ristik im Drama. Die Handlung der Tod der Charakteristik! Als ob wahre
Handlung ohne Charaktere denkbar wäre! Als ob sich der Charakter nicht
dnrch Handlung am vollkommensten darlegte, als ob das Drama nicht ge¬
rade die Aufgabe hätte, die Charaktere vorzugsweise von dieser Seite zur
Darstellung zu bringen! Nicht die wahre, aus den Charakteren und ihrer
Lage entwickelte Handlung, sondern nur die äußerlich an den Drähten des
Dichters in Bewegung gesetzte, mechanische Handlung setzt die Charaktere zu
Marionetten herab. Zola hat hier eben nur das Jntrigucnstück nach der Seribeschen
Schablone vor Augen und verwechselt damit das wirkliche Drama, welches ganz
Handlung, ganz echte Handlung ist und sein soll. Selbst mit der Intrigue aber
verhält es sich hierin noch wie mit der Handlung. Sie ist zulässig, soweit sie
aus den Charakteren und ihrer Lage entspringt. Sie ist ein bedeutender Hebel
des Dramas, aber sie darf weder der alleinige, noch der bedeutendste sein. Letzteres
ist in dem Seribeschen Lustspiel freilich nur zu oft der Fall, und was schlimmer
ist, die Intrigue geht hier nur zu häufig ganz an den Drähten des Dichters.
Es hieße aber, was Zola so oft begegnet, das Kind mit dem Bade ausschütten,
wenn man wegen dieses Mißbrauchs der Intrigue sie selbst und mit ihr eine ganze
Seite der menschlichen Natur und des menschlichen Handelns principiell aus dem
Drama verbannen wollte.

Im Zusammenhang mit dem vorigen wendet sich Zola der Betrachtung der
Moral auf der Bühne im Gegensatze zu der im Leben giltigen zu. "Nichts ist
sonderbarer -- sagt er -- als der Gegensatz dieser beiden, so scharf von einander
getrennten Welten, der literarischen und der wirklichen Welt. Man kann sie
zwei Ländern mit verschiedenen Gesetzen, Sitten, Gefühlen und Sprachen ver-


Zoll, und der Naturalismus auf dem Theater.

Sie hat es eben nur mit der Erscheinung derselben zu thun. Me will damit
aber keineswegs täusche». Sie weist sogar selbst darauf hin, der Maler durch
den Rahmen seines Bildes, der Bildhauer durch das offen hervortretende Ma¬
terial, die Bühne durch ihre ganze Einrichtung. Eine Täuschung mit dem vollen
Schein der Wirklichkeit würde ganz unkünstlerisch sein. Daher es denn in der That
die stärkste Verurtheilung verdient, wenn die Bühne zu solchen Täuschungen mi߬
braucht und die auf sie ausgehende Bühnentechnik besonders gepriesen, ja als
das eigentliche Kennzeichen der dramatischen Begabung hingestellt wird. Je
größere Meister die Franzosen in dieser Art der Bühnentechnik sind, je feiner
sie die damit beabsichtigten Täuschungen zu verhüllen verstehen, je mehr bei ihnen
dieser Mißbrauch tolerirt, ja sanctionirt wird, um so mehr hatte Zola auch
Recht, gegen denselben, sowie gegen die Künstlichkeit, den Mechanismus, das
Romanhafte in der Erfindung der Handlung ihrer Stücke aufzutreten, unter
denen die natürliche und folgerichtige Entwicklung der Charaktere zu leiden hat.
Aber selbst hier verfällt er sofort in einen neuen Irrthum, indem er dafür das
Wesen der Handlung im Drama überhaupt verantwortlich macht und die Be¬
hauptung aufstellt, das Ueberwiegen der Handlung sei der Tod der Charakte¬
ristik im Drama. Die Handlung der Tod der Charakteristik! Als ob wahre
Handlung ohne Charaktere denkbar wäre! Als ob sich der Charakter nicht
dnrch Handlung am vollkommensten darlegte, als ob das Drama nicht ge¬
rade die Aufgabe hätte, die Charaktere vorzugsweise von dieser Seite zur
Darstellung zu bringen! Nicht die wahre, aus den Charakteren und ihrer
Lage entwickelte Handlung, sondern nur die äußerlich an den Drähten des
Dichters in Bewegung gesetzte, mechanische Handlung setzt die Charaktere zu
Marionetten herab. Zola hat hier eben nur das Jntrigucnstück nach der Seribeschen
Schablone vor Augen und verwechselt damit das wirkliche Drama, welches ganz
Handlung, ganz echte Handlung ist und sein soll. Selbst mit der Intrigue aber
verhält es sich hierin noch wie mit der Handlung. Sie ist zulässig, soweit sie
aus den Charakteren und ihrer Lage entspringt. Sie ist ein bedeutender Hebel
des Dramas, aber sie darf weder der alleinige, noch der bedeutendste sein. Letzteres
ist in dem Seribeschen Lustspiel freilich nur zu oft der Fall, und was schlimmer
ist, die Intrigue geht hier nur zu häufig ganz an den Drähten des Dichters.
Es hieße aber, was Zola so oft begegnet, das Kind mit dem Bade ausschütten,
wenn man wegen dieses Mißbrauchs der Intrigue sie selbst und mit ihr eine ganze
Seite der menschlichen Natur und des menschlichen Handelns principiell aus dem
Drama verbannen wollte.

Im Zusammenhang mit dem vorigen wendet sich Zola der Betrachtung der
Moral auf der Bühne im Gegensatze zu der im Leben giltigen zu. „Nichts ist
sonderbarer — sagt er — als der Gegensatz dieser beiden, so scharf von einander
getrennten Welten, der literarischen und der wirklichen Welt. Man kann sie
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[0298] Zoll, und der Naturalismus auf dem Theater. Sie hat es eben nur mit der Erscheinung derselben zu thun. Me will damit aber keineswegs täusche». Sie weist sogar selbst darauf hin, der Maler durch den Rahmen seines Bildes, der Bildhauer durch das offen hervortretende Ma¬ terial, die Bühne durch ihre ganze Einrichtung. Eine Täuschung mit dem vollen Schein der Wirklichkeit würde ganz unkünstlerisch sein. Daher es denn in der That die stärkste Verurtheilung verdient, wenn die Bühne zu solchen Täuschungen mi߬ braucht und die auf sie ausgehende Bühnentechnik besonders gepriesen, ja als das eigentliche Kennzeichen der dramatischen Begabung hingestellt wird. Je größere Meister die Franzosen in dieser Art der Bühnentechnik sind, je feiner sie die damit beabsichtigten Täuschungen zu verhüllen verstehen, je mehr bei ihnen dieser Mißbrauch tolerirt, ja sanctionirt wird, um so mehr hatte Zola auch Recht, gegen denselben, sowie gegen die Künstlichkeit, den Mechanismus, das Romanhafte in der Erfindung der Handlung ihrer Stücke aufzutreten, unter denen die natürliche und folgerichtige Entwicklung der Charaktere zu leiden hat. Aber selbst hier verfällt er sofort in einen neuen Irrthum, indem er dafür das Wesen der Handlung im Drama überhaupt verantwortlich macht und die Be¬ hauptung aufstellt, das Ueberwiegen der Handlung sei der Tod der Charakte¬ ristik im Drama. Die Handlung der Tod der Charakteristik! Als ob wahre Handlung ohne Charaktere denkbar wäre! Als ob sich der Charakter nicht dnrch Handlung am vollkommensten darlegte, als ob das Drama nicht ge¬ rade die Aufgabe hätte, die Charaktere vorzugsweise von dieser Seite zur Darstellung zu bringen! Nicht die wahre, aus den Charakteren und ihrer Lage entwickelte Handlung, sondern nur die äußerlich an den Drähten des Dichters in Bewegung gesetzte, mechanische Handlung setzt die Charaktere zu Marionetten herab. Zola hat hier eben nur das Jntrigucnstück nach der Seribeschen Schablone vor Augen und verwechselt damit das wirkliche Drama, welches ganz Handlung, ganz echte Handlung ist und sein soll. Selbst mit der Intrigue aber verhält es sich hierin noch wie mit der Handlung. Sie ist zulässig, soweit sie aus den Charakteren und ihrer Lage entspringt. Sie ist ein bedeutender Hebel des Dramas, aber sie darf weder der alleinige, noch der bedeutendste sein. Letzteres ist in dem Seribeschen Lustspiel freilich nur zu oft der Fall, und was schlimmer ist, die Intrigue geht hier nur zu häufig ganz an den Drähten des Dichters. Es hieße aber, was Zola so oft begegnet, das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man wegen dieses Mißbrauchs der Intrigue sie selbst und mit ihr eine ganze Seite der menschlichen Natur und des menschlichen Handelns principiell aus dem Drama verbannen wollte. Im Zusammenhang mit dem vorigen wendet sich Zola der Betrachtung der Moral auf der Bühne im Gegensatze zu der im Leben giltigen zu. „Nichts ist sonderbarer — sagt er — als der Gegensatz dieser beiden, so scharf von einander getrennten Welten, der literarischen und der wirklichen Welt. Man kann sie zwei Ländern mit verschiedenen Gesetzen, Sitten, Gefühlen und Sprachen ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/298>, abgerufen am 15.01.2025.