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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Lyrisches in Shakespeare.

zur Zeit unsers Dichters darbot, entworfen zu haben. Hier sehen wir deutlich,
unter welchen Eindrücken seine Kindheit und Jugend gestanden hat, und seine
von Erinnerungen, Schilderungen, Anspielungen um sie erfüllten Werke lassen
keinen Zweifel darüber, wie fruchtbar sie für die Entwicklung seiner Phantasie
und seines Gemüthslebens gewesen. Diese Verhältnisse sind es, welche Steuerwald,
wie ich glaube, bei der Betrachtung der volksthümlichen Seite von Shakespeares
Dramen und Lyrik etwas zu wenig ins Auge gefaßt hat.

Wenn die Lyrik der uns bekannten früheren Werke des Dichters auch
überwiegend unter dem Einflüsse der Renaissance steht und quantitativ die der
späteren Werke zu überwiegen scheint, so ist die Lyrik der letzteren doch quali¬
tativ um vieles bedeutender und tritt auch quantitativ nur deshalb zurück, weil,
der Dichter inzwischen an Kraft und Concentration der dramatischen Gestaltung,
des dramatischen Ausdrucks gewonnen hatte. Doch selbst quantitativ tritt sie
bei einzelnen spätern Werken noch bedeutend genug in die Erscheinung, wie dies
"Cymbeliue," das "Wintermärchen" und selbst "König Lear," sowie die spätesten
Lustspiele des Dichters "Was ihr wollt," "Wie es euch gefällt" und der
"Sturm" beweisen.

Als äußere Merkmale dieses zwischen den frühern und spätern Dramen
Shakespeares bestehende" Gegensatzes in der Behandlung des Verses bezeichnet
Steuerwald die häufigere Anwendung des Reimes bei jenen und der Enjambe¬
ments die Verse bei diesen. Man wird auf ersteres ein zu großes Gewicht nicht
legen dürfen. Stenerwcild selbst hat gefunden, daß unter allen Shakespearischen
Stücken der höchste Procentsatz der gereimten Verse, 42 Procent, bei dem in
überwiegend nationalem Geist und Geschmack und nach dem Urtheil der meisten
Forscher kaum früher als 1594 gedichteten "Sommernachtstraum" zu finden ist,
während er bei dem zu den frühesten dramatischen Arbeiten im italieuisirenden
Geschmack gehörenden Lustspiele "Die beiden Edelleute von Verona" nur
7 Procent beträgt.*) Wenn der steigende Procentsatz in der Anwendung des
Reims aber auch wirklich ein charakteristisches Merkmal für den größern lyrischen
Gehalt eines Dramas bei Shakespeare wäre, so würde er dies uach Steuerwald
doch nicht zugleich für den größern Einfluß der Renaissance auf dasselbe sein,
da er den Reim im Drama als ein Erbtheil "der mittelalterlichen religiös- und
allegorisch-dramatischen" Dichtungen bezeichnet. In der That scheint der reim¬
lose Blankvers, der zuerst von Surrey, nicht in einem Drama, sondern in einer
Uebersetzung des ersten und vierten Buchs der Aeneide, im Drama aber zunächst
von Thomas Sackville, Lord Buckhurst, in dem gelehrten Drama "Gorbodue"
(1565) und erst beträchtlich später (um 1585) für die Volksbühne von Marlvwe in
seinem "Tcuuerlcm" angewendet worden ist, mit ziemlicher Sicherheit den Italienern



5) Zwischen inne liegen "Verlorne Liebesmüh" mit 35'/z, die "Komödie der Irrungen"
nul 20, "Romeo und Julia" mit 1", "Was ihr wollt" mit 10 Procent.
Lyrisches in Shakespeare.

zur Zeit unsers Dichters darbot, entworfen zu haben. Hier sehen wir deutlich,
unter welchen Eindrücken seine Kindheit und Jugend gestanden hat, und seine
von Erinnerungen, Schilderungen, Anspielungen um sie erfüllten Werke lassen
keinen Zweifel darüber, wie fruchtbar sie für die Entwicklung seiner Phantasie
und seines Gemüthslebens gewesen. Diese Verhältnisse sind es, welche Steuerwald,
wie ich glaube, bei der Betrachtung der volksthümlichen Seite von Shakespeares
Dramen und Lyrik etwas zu wenig ins Auge gefaßt hat.

Wenn die Lyrik der uns bekannten früheren Werke des Dichters auch
überwiegend unter dem Einflüsse der Renaissance steht und quantitativ die der
späteren Werke zu überwiegen scheint, so ist die Lyrik der letzteren doch quali¬
tativ um vieles bedeutender und tritt auch quantitativ nur deshalb zurück, weil,
der Dichter inzwischen an Kraft und Concentration der dramatischen Gestaltung,
des dramatischen Ausdrucks gewonnen hatte. Doch selbst quantitativ tritt sie
bei einzelnen spätern Werken noch bedeutend genug in die Erscheinung, wie dies
„Cymbeliue," das „Wintermärchen" und selbst „König Lear," sowie die spätesten
Lustspiele des Dichters „Was ihr wollt," „Wie es euch gefällt" und der
„Sturm" beweisen.

Als äußere Merkmale dieses zwischen den frühern und spätern Dramen
Shakespeares bestehende» Gegensatzes in der Behandlung des Verses bezeichnet
Steuerwald die häufigere Anwendung des Reimes bei jenen und der Enjambe¬
ments die Verse bei diesen. Man wird auf ersteres ein zu großes Gewicht nicht
legen dürfen. Stenerwcild selbst hat gefunden, daß unter allen Shakespearischen
Stücken der höchste Procentsatz der gereimten Verse, 42 Procent, bei dem in
überwiegend nationalem Geist und Geschmack und nach dem Urtheil der meisten
Forscher kaum früher als 1594 gedichteten „Sommernachtstraum" zu finden ist,
während er bei dem zu den frühesten dramatischen Arbeiten im italieuisirenden
Geschmack gehörenden Lustspiele „Die beiden Edelleute von Verona" nur
7 Procent beträgt.*) Wenn der steigende Procentsatz in der Anwendung des
Reims aber auch wirklich ein charakteristisches Merkmal für den größern lyrischen
Gehalt eines Dramas bei Shakespeare wäre, so würde er dies uach Steuerwald
doch nicht zugleich für den größern Einfluß der Renaissance auf dasselbe sein,
da er den Reim im Drama als ein Erbtheil „der mittelalterlichen religiös- und
allegorisch-dramatischen" Dichtungen bezeichnet. In der That scheint der reim¬
lose Blankvers, der zuerst von Surrey, nicht in einem Drama, sondern in einer
Uebersetzung des ersten und vierten Buchs der Aeneide, im Drama aber zunächst
von Thomas Sackville, Lord Buckhurst, in dem gelehrten Drama „Gorbodue"
(1565) und erst beträchtlich später (um 1585) für die Volksbühne von Marlvwe in
seinem „Tcuuerlcm" angewendet worden ist, mit ziemlicher Sicherheit den Italienern



5) Zwischen inne liegen „Verlorne Liebesmüh" mit 35'/z, die „Komödie der Irrungen"
nul 20, „Romeo und Julia" mit 1», „Was ihr wollt" mit 10 Procent.
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[0254] Lyrisches in Shakespeare. zur Zeit unsers Dichters darbot, entworfen zu haben. Hier sehen wir deutlich, unter welchen Eindrücken seine Kindheit und Jugend gestanden hat, und seine von Erinnerungen, Schilderungen, Anspielungen um sie erfüllten Werke lassen keinen Zweifel darüber, wie fruchtbar sie für die Entwicklung seiner Phantasie und seines Gemüthslebens gewesen. Diese Verhältnisse sind es, welche Steuerwald, wie ich glaube, bei der Betrachtung der volksthümlichen Seite von Shakespeares Dramen und Lyrik etwas zu wenig ins Auge gefaßt hat. Wenn die Lyrik der uns bekannten früheren Werke des Dichters auch überwiegend unter dem Einflüsse der Renaissance steht und quantitativ die der späteren Werke zu überwiegen scheint, so ist die Lyrik der letzteren doch quali¬ tativ um vieles bedeutender und tritt auch quantitativ nur deshalb zurück, weil, der Dichter inzwischen an Kraft und Concentration der dramatischen Gestaltung, des dramatischen Ausdrucks gewonnen hatte. Doch selbst quantitativ tritt sie bei einzelnen spätern Werken noch bedeutend genug in die Erscheinung, wie dies „Cymbeliue," das „Wintermärchen" und selbst „König Lear," sowie die spätesten Lustspiele des Dichters „Was ihr wollt," „Wie es euch gefällt" und der „Sturm" beweisen. Als äußere Merkmale dieses zwischen den frühern und spätern Dramen Shakespeares bestehende» Gegensatzes in der Behandlung des Verses bezeichnet Steuerwald die häufigere Anwendung des Reimes bei jenen und der Enjambe¬ ments die Verse bei diesen. Man wird auf ersteres ein zu großes Gewicht nicht legen dürfen. Stenerwcild selbst hat gefunden, daß unter allen Shakespearischen Stücken der höchste Procentsatz der gereimten Verse, 42 Procent, bei dem in überwiegend nationalem Geist und Geschmack und nach dem Urtheil der meisten Forscher kaum früher als 1594 gedichteten „Sommernachtstraum" zu finden ist, während er bei dem zu den frühesten dramatischen Arbeiten im italieuisirenden Geschmack gehörenden Lustspiele „Die beiden Edelleute von Verona" nur 7 Procent beträgt.*) Wenn der steigende Procentsatz in der Anwendung des Reims aber auch wirklich ein charakteristisches Merkmal für den größern lyrischen Gehalt eines Dramas bei Shakespeare wäre, so würde er dies uach Steuerwald doch nicht zugleich für den größern Einfluß der Renaissance auf dasselbe sein, da er den Reim im Drama als ein Erbtheil „der mittelalterlichen religiös- und allegorisch-dramatischen" Dichtungen bezeichnet. In der That scheint der reim¬ lose Blankvers, der zuerst von Surrey, nicht in einem Drama, sondern in einer Uebersetzung des ersten und vierten Buchs der Aeneide, im Drama aber zunächst von Thomas Sackville, Lord Buckhurst, in dem gelehrten Drama „Gorbodue" (1565) und erst beträchtlich später (um 1585) für die Volksbühne von Marlvwe in seinem „Tcuuerlcm" angewendet worden ist, mit ziemlicher Sicherheit den Italienern 5) Zwischen inne liegen „Verlorne Liebesmüh" mit 35'/z, die „Komödie der Irrungen" nul 20, „Romeo und Julia" mit 1», „Was ihr wollt" mit 10 Procent.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/254>, abgerufen am 16.01.2025.