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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Fortschrittlicher Wahlschwindel.

"Ja, hätten wir das gewußt!" erklärte ein Theil der Partei nach siegreicher
Beendigung des Krieges, und zeigte sich geneigt, sich mit der Regierung zu ver¬
tragen, zumal auch die Neuwcchleu für letztere erheblich günstiger ausgefallen
waren als frühere, und ein großer Theil der fortschrittlichen Abgeordneten nicht
wieder in den Landtag zurückgekehrt war.

Der Rest der Partei blieb verstockt bei der alten Politik, der Sieg Preußens
verdroß sie, sie hatten eine Niederlage gehofft, und nach wie vor war es diesen
Jntrcmsigenten nicht sowohl um die Einheit und Macht Deutschlands als um
Geltendmachung ihres Parteiprogramms zu thun, das ihnen sowohl in innern
als in äußern Fragen das Gegentheil von dem zu befürworten gebot, was von
der Regierung zur Befestigung und zum Ausbau des mit dem Ergebniß des
Krieges erreichten vorgeschlagen wurde. Ihre Sympathien für die eine oder
die andre auswärtige Macht und ebenso ihre Antipathien waren stets das Gegen¬
theil von dem, was Bismarck in diesen Richtungen bekundete, wobei es nie an
heuchlerischen Versicherungen fehlte, daß sie damit nur das Wohl der Nation
vor Augen hätten. Sie waren für Oesterreich gewesen, als der Minister gegen
Oesterreich aufgetreten, sie waren jetzt gegen Oesterreich, als dieser sich ihm näherte.
Sie thaten desgleichen in Bezug auf Rußland. Sie arbeiteten Frankreich in die
Hände wie ihre Gesinnungsverwandten, die schwäbische" und Frankfurter Demo¬
kraten, die geradezu als französische Agenten anzusehen waren. Sie betonten,
daß der äußere Friede des Reichs bedroht sei durch die Mißgunst der Mächte
gegen die neue Gestalt Deutschlands, und doch mühten sie sich in der Militär¬
frage im Verein mit der Centrumspartei ub, die Widerstandskraft Deutschlands
gegen Aeußerungen jener Mißgunst zu schwächen. In dem Kampfe mit Rom
und bei der Feststellung der kirchettpvlitischen Gesetze stand die Fortschrittspartei
in mehrerer Beziehung den Ultminontcmen bei. So namentlich bei der Be¬
rathung des Jesuitengesetzes, welches sie nicht als einen Act der Nothwehr gegen
die staatsgefährlichen Einflüsse fremdländischer Oberen, sondern als Eingriff in
die Freiheit des einzelnen und in das Recht der freien Vereinigung aller Preußen
aufgefaßt wissen wollte. Ans ähnlichen Gründen war die Fortschrittspartei, die
sonst gegen die Bestrebungen der Socialdemokraten aufgetreten war, bei der
Debatte und Abstimmung über das Socialistengesetz insofern für diese reichs¬
feindliche Partei, als sie sich gegen die mit jenem Gesetze vorgeschlagnen Re-
pressionsmaßregeln aussprach, und als der Kanzler dann als nothwendige Er¬
gänzung dieser Vertheidigungsmittel zur Befriedigung und Gewinnung der ar¬
beitenden Klassen das Unfallversichernngsgesetz in Vorschlag brachte und weitre
Fürsorge für diesen Theil der Bevölkerung in Aussicht stellte, sah er sich von
der fortschrittlichen Presse entschieden bekämpft; denn seine Gedanken waren ein
Hinderniß für die Revolution, die hier für die Zukunft gehofft wird. Das erste
und letzte Bedürfniß der Fortschrittspartei ist Unzufriedenheit und Unbehagen am
Bestehenden. Diese Stimmung ist ihr Lebenselement und ihr Fahrwasser, und


Fortschrittlicher Wahlschwindel.

„Ja, hätten wir das gewußt!" erklärte ein Theil der Partei nach siegreicher
Beendigung des Krieges, und zeigte sich geneigt, sich mit der Regierung zu ver¬
tragen, zumal auch die Neuwcchleu für letztere erheblich günstiger ausgefallen
waren als frühere, und ein großer Theil der fortschrittlichen Abgeordneten nicht
wieder in den Landtag zurückgekehrt war.

Der Rest der Partei blieb verstockt bei der alten Politik, der Sieg Preußens
verdroß sie, sie hatten eine Niederlage gehofft, und nach wie vor war es diesen
Jntrcmsigenten nicht sowohl um die Einheit und Macht Deutschlands als um
Geltendmachung ihres Parteiprogramms zu thun, das ihnen sowohl in innern
als in äußern Fragen das Gegentheil von dem zu befürworten gebot, was von
der Regierung zur Befestigung und zum Ausbau des mit dem Ergebniß des
Krieges erreichten vorgeschlagen wurde. Ihre Sympathien für die eine oder
die andre auswärtige Macht und ebenso ihre Antipathien waren stets das Gegen¬
theil von dem, was Bismarck in diesen Richtungen bekundete, wobei es nie an
heuchlerischen Versicherungen fehlte, daß sie damit nur das Wohl der Nation
vor Augen hätten. Sie waren für Oesterreich gewesen, als der Minister gegen
Oesterreich aufgetreten, sie waren jetzt gegen Oesterreich, als dieser sich ihm näherte.
Sie thaten desgleichen in Bezug auf Rußland. Sie arbeiteten Frankreich in die
Hände wie ihre Gesinnungsverwandten, die schwäbische» und Frankfurter Demo¬
kraten, die geradezu als französische Agenten anzusehen waren. Sie betonten,
daß der äußere Friede des Reichs bedroht sei durch die Mißgunst der Mächte
gegen die neue Gestalt Deutschlands, und doch mühten sie sich in der Militär¬
frage im Verein mit der Centrumspartei ub, die Widerstandskraft Deutschlands
gegen Aeußerungen jener Mißgunst zu schwächen. In dem Kampfe mit Rom
und bei der Feststellung der kirchettpvlitischen Gesetze stand die Fortschrittspartei
in mehrerer Beziehung den Ultminontcmen bei. So namentlich bei der Be¬
rathung des Jesuitengesetzes, welches sie nicht als einen Act der Nothwehr gegen
die staatsgefährlichen Einflüsse fremdländischer Oberen, sondern als Eingriff in
die Freiheit des einzelnen und in das Recht der freien Vereinigung aller Preußen
aufgefaßt wissen wollte. Ans ähnlichen Gründen war die Fortschrittspartei, die
sonst gegen die Bestrebungen der Socialdemokraten aufgetreten war, bei der
Debatte und Abstimmung über das Socialistengesetz insofern für diese reichs¬
feindliche Partei, als sie sich gegen die mit jenem Gesetze vorgeschlagnen Re-
pressionsmaßregeln aussprach, und als der Kanzler dann als nothwendige Er¬
gänzung dieser Vertheidigungsmittel zur Befriedigung und Gewinnung der ar¬
beitenden Klassen das Unfallversichernngsgesetz in Vorschlag brachte und weitre
Fürsorge für diesen Theil der Bevölkerung in Aussicht stellte, sah er sich von
der fortschrittlichen Presse entschieden bekämpft; denn seine Gedanken waren ein
Hinderniß für die Revolution, die hier für die Zukunft gehofft wird. Das erste
und letzte Bedürfniß der Fortschrittspartei ist Unzufriedenheit und Unbehagen am
Bestehenden. Diese Stimmung ist ihr Lebenselement und ihr Fahrwasser, und


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[0094] Fortschrittlicher Wahlschwindel. „Ja, hätten wir das gewußt!" erklärte ein Theil der Partei nach siegreicher Beendigung des Krieges, und zeigte sich geneigt, sich mit der Regierung zu ver¬ tragen, zumal auch die Neuwcchleu für letztere erheblich günstiger ausgefallen waren als frühere, und ein großer Theil der fortschrittlichen Abgeordneten nicht wieder in den Landtag zurückgekehrt war. Der Rest der Partei blieb verstockt bei der alten Politik, der Sieg Preußens verdroß sie, sie hatten eine Niederlage gehofft, und nach wie vor war es diesen Jntrcmsigenten nicht sowohl um die Einheit und Macht Deutschlands als um Geltendmachung ihres Parteiprogramms zu thun, das ihnen sowohl in innern als in äußern Fragen das Gegentheil von dem zu befürworten gebot, was von der Regierung zur Befestigung und zum Ausbau des mit dem Ergebniß des Krieges erreichten vorgeschlagen wurde. Ihre Sympathien für die eine oder die andre auswärtige Macht und ebenso ihre Antipathien waren stets das Gegen¬ theil von dem, was Bismarck in diesen Richtungen bekundete, wobei es nie an heuchlerischen Versicherungen fehlte, daß sie damit nur das Wohl der Nation vor Augen hätten. Sie waren für Oesterreich gewesen, als der Minister gegen Oesterreich aufgetreten, sie waren jetzt gegen Oesterreich, als dieser sich ihm näherte. Sie thaten desgleichen in Bezug auf Rußland. Sie arbeiteten Frankreich in die Hände wie ihre Gesinnungsverwandten, die schwäbische» und Frankfurter Demo¬ kraten, die geradezu als französische Agenten anzusehen waren. Sie betonten, daß der äußere Friede des Reichs bedroht sei durch die Mißgunst der Mächte gegen die neue Gestalt Deutschlands, und doch mühten sie sich in der Militär¬ frage im Verein mit der Centrumspartei ub, die Widerstandskraft Deutschlands gegen Aeußerungen jener Mißgunst zu schwächen. In dem Kampfe mit Rom und bei der Feststellung der kirchettpvlitischen Gesetze stand die Fortschrittspartei in mehrerer Beziehung den Ultminontcmen bei. So namentlich bei der Be¬ rathung des Jesuitengesetzes, welches sie nicht als einen Act der Nothwehr gegen die staatsgefährlichen Einflüsse fremdländischer Oberen, sondern als Eingriff in die Freiheit des einzelnen und in das Recht der freien Vereinigung aller Preußen aufgefaßt wissen wollte. Ans ähnlichen Gründen war die Fortschrittspartei, die sonst gegen die Bestrebungen der Socialdemokraten aufgetreten war, bei der Debatte und Abstimmung über das Socialistengesetz insofern für diese reichs¬ feindliche Partei, als sie sich gegen die mit jenem Gesetze vorgeschlagnen Re- pressionsmaßregeln aussprach, und als der Kanzler dann als nothwendige Er¬ gänzung dieser Vertheidigungsmittel zur Befriedigung und Gewinnung der ar¬ beitenden Klassen das Unfallversichernngsgesetz in Vorschlag brachte und weitre Fürsorge für diesen Theil der Bevölkerung in Aussicht stellte, sah er sich von der fortschrittlichen Presse entschieden bekämpft; denn seine Gedanken waren ein Hinderniß für die Revolution, die hier für die Zukunft gehofft wird. Das erste und letzte Bedürfniß der Fortschrittspartei ist Unzufriedenheit und Unbehagen am Bestehenden. Diese Stimmung ist ihr Lebenselement und ihr Fahrwasser, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/94>, abgerufen am 01.09.2024.