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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

warm. Schubert hat es nur im Clavierliede zu besondrer Geltung gebracht.
Da begegnete es denn neuerdings dem Zeitgeiste, der allem Versteckspielen ab¬
hold zu sein scheint. Er hat die Maler und den Bildhauer aus den Allegorien
herausgetrieben, hat den lyrischen Dichtern das Vergnügen an der gegenstands¬
losen Gefühlsschwärmerei verdorben und schließlich auch in der Musik der Allein¬
herrschaft des unbestimmten Tonbehagens zu wehren gesucht. In die Orchester
brachte er wieder die Prvgrammsiufvuien und Ouvertüren, aufs Clavier die
Charakterstücke, und im Liede bat er sich eine eingehende Beachtung der Personen
und der Situation aus, um die es sich in den Gedichten handelt. Er ersuchte
die Componisten, sich doch einmal ganz genau hineinzuversetzen in den augenblick¬
lichen Zustand der Leute, die soeben etwas erleben oder fühlen, was der Dichtung
werth ist. Er veranlaßte sie, diese Leute sich so vorzustellen, wie sie im Augen¬
blicke sind, wo sie sind und wie sie sich da gerade geberden. Und so sollten sie
es nun auch darstellen, sie sollten sich mit ihrer Musik ein wenig dem nähern,
was sonst die Aufgabe der Malerei und des Schauspielers ist. Dieser Forderung
gaben nun auch viele Liedereompvnisten hiu und wieder, die einen im geringer",
andre im stärkern Grade Gehör. So erhielten wir neben dem alten Volksliede
und seiner künstlerischen Nachkommenschaft das dramatische Lied.

Am schärfsten und bedeutendsten wird dasselbe durch Franz Lißzt reprü-
seutirt, den man unbeschadet alles dessen, was man gegen seine Orchesterwerke
ans dem Herzen haben mag, in diesem Genre als einen vollen Meister gelten lassen
muß. Und zwar hat er sich in dieser Stellung eine Höhe ausgesucht, zu welcher
die Wallfahrten nicht ausbleiben werden. Lißzt componirt die Gedichte mit der
Aetivitüt eines Schauspielers. Vielleicht würde Dawison so Lieder componirt
haben, wenn er diese Fähigkeit besessen hätte. Er unterscheidet sich scharf von
andern, auch denen, die die Richtung theilen. Während andern die Situativ"
immer etwas Fertiges ist, so ist sie für Lißzt ein Werdendes, ein in Bewegung
begriffnes. Er geht direct auf den kritischen Moment los und stellt die handelnde
oder leidende Person dar, wie sie in demselben ist, geschüttelt und betäubt, in
der Unruhe des drängenden Entschlusses oder im Träumen der aufdämmernden
Empfindung, wie es kommt; aber immer in einem vollständigen scenischen Bilde,
das bis in die kleinsten Details, bis auf Posen und Gesticulationen getreu und
belebt ist. Daher kommt es, daß dem einen und dem andern seiner Lieder, wie
z.B. der Goethischen "Mignon," ein Rest von Bühueupathos und Theatralischen
anhängt, durch den man sich erst durcharbeiten muß, um auf den Kern zu komme".
Bei einzelnen bleibt auch etwas barockes, aber in den meisten Fällen ist das Re¬
sultat von Lißzts Methode das der vollendeten Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit.
Das reißt fort und mitten hinein. Mitten hinein in das Gähren der Seele,
in ihr Sinnen und Denken, mitten hinein an Ort und Stelle. Das giebt einen
Loealton, der jede Unbestimmtheit ausschließt. Wir fühlen den Druck der Wände,
die das stille Kämmerlein umschließen, wir starren in die baumlose Oede, in der


Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

warm. Schubert hat es nur im Clavierliede zu besondrer Geltung gebracht.
Da begegnete es denn neuerdings dem Zeitgeiste, der allem Versteckspielen ab¬
hold zu sein scheint. Er hat die Maler und den Bildhauer aus den Allegorien
herausgetrieben, hat den lyrischen Dichtern das Vergnügen an der gegenstands¬
losen Gefühlsschwärmerei verdorben und schließlich auch in der Musik der Allein¬
herrschaft des unbestimmten Tonbehagens zu wehren gesucht. In die Orchester
brachte er wieder die Prvgrammsiufvuien und Ouvertüren, aufs Clavier die
Charakterstücke, und im Liede bat er sich eine eingehende Beachtung der Personen
und der Situation aus, um die es sich in den Gedichten handelt. Er ersuchte
die Componisten, sich doch einmal ganz genau hineinzuversetzen in den augenblick¬
lichen Zustand der Leute, die soeben etwas erleben oder fühlen, was der Dichtung
werth ist. Er veranlaßte sie, diese Leute sich so vorzustellen, wie sie im Augen¬
blicke sind, wo sie sind und wie sie sich da gerade geberden. Und so sollten sie
es nun auch darstellen, sie sollten sich mit ihrer Musik ein wenig dem nähern,
was sonst die Aufgabe der Malerei und des Schauspielers ist. Dieser Forderung
gaben nun auch viele Liedereompvnisten hiu und wieder, die einen im geringer»,
andre im stärkern Grade Gehör. So erhielten wir neben dem alten Volksliede
und seiner künstlerischen Nachkommenschaft das dramatische Lied.

Am schärfsten und bedeutendsten wird dasselbe durch Franz Lißzt reprü-
seutirt, den man unbeschadet alles dessen, was man gegen seine Orchesterwerke
ans dem Herzen haben mag, in diesem Genre als einen vollen Meister gelten lassen
muß. Und zwar hat er sich in dieser Stellung eine Höhe ausgesucht, zu welcher
die Wallfahrten nicht ausbleiben werden. Lißzt componirt die Gedichte mit der
Aetivitüt eines Schauspielers. Vielleicht würde Dawison so Lieder componirt
haben, wenn er diese Fähigkeit besessen hätte. Er unterscheidet sich scharf von
andern, auch denen, die die Richtung theilen. Während andern die Situativ»
immer etwas Fertiges ist, so ist sie für Lißzt ein Werdendes, ein in Bewegung
begriffnes. Er geht direct auf den kritischen Moment los und stellt die handelnde
oder leidende Person dar, wie sie in demselben ist, geschüttelt und betäubt, in
der Unruhe des drängenden Entschlusses oder im Träumen der aufdämmernden
Empfindung, wie es kommt; aber immer in einem vollständigen scenischen Bilde,
das bis in die kleinsten Details, bis auf Posen und Gesticulationen getreu und
belebt ist. Daher kommt es, daß dem einen und dem andern seiner Lieder, wie
z.B. der Goethischen „Mignon," ein Rest von Bühueupathos und Theatralischen
anhängt, durch den man sich erst durcharbeiten muß, um auf den Kern zu komme».
Bei einzelnen bleibt auch etwas barockes, aber in den meisten Fällen ist das Re¬
sultat von Lißzts Methode das der vollendeten Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit.
Das reißt fort und mitten hinein. Mitten hinein in das Gähren der Seele,
in ihr Sinnen und Denken, mitten hinein an Ort und Stelle. Das giebt einen
Loealton, der jede Unbestimmtheit ausschließt. Wir fühlen den Druck der Wände,
die das stille Kämmerlein umschließen, wir starren in die baumlose Oede, in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/72>, abgerufen am 25.11.2024.