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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Dramatische Novellen.

Die Erzählungen "Bölkerfrühling" haben durch das stärkere dramatische Element,
welches ihnen der Dichter beimischt, gewonnen, durch die theatralischen Zu¬
thaten, die theatralische Verwirrung einer Menge von Vorgängen, welche der
Novellist schlichter, ruhiger und darum wirksamer motiviren konnte, durch das
theatralische Pathos, welches Gestalten wie dem großen Kurfürsten in der ersten
und dem ehernen General Jork in der letzten Novelle verliehen ist, verloren.
Lindner hat in der Komposition der drei Novellen, dem ganzen scenischen Auf¬
bau und der Durchführung im Dialog und hundert Einzelheiten nicht nur den
Dramatiker, sondern auch deu gewandten Bühnenschriftsteller so wenig verleugnet,
daß ein Berliner Feuilletonist leicht auf den Einfall kommen könnte, die drei
Erzählungen "verkniffene Schauspiele" zu nennen. So leichtfertig sollte freilich
eine poetische Arbeit, in welcher immerhin ein Kern productiven Talents und
künstlerischen Ernstes vorhanden ist, nie abgefertigt werden. Aber erfreulich wirkt
das Hereindringen der fatalsten theatralischen Traditionen in die Novellistik nicht.

Die beste Erzählung sowohl ihrem innern Gehalt als ihrer Durchführung
nach scheint uns die erste, "Das Erwachen des Adlers," welche die großen
Motive, die weiten Perspectiven und die Mannichfaltigkeit der Situationen und
Gestalten eines großem historischen Romans in den engern Nahmen einer Er¬
zählung drängt, in der das dramatische Element über das theatralische ein Ueber¬
gewicht hat und in der originelle und höchst poetische Züge vorhanden sind.
Die Novelle "Rvcveeo-Adel" klingt in ihrer Haupterfindung mit der Vorgeschichte
der Lady Dedlock in Charles Dickens' Roman "Bleakhouse" zusammen, nicht
nur in dem Schicksal, das sich ja tausendfach wiederholen mag, fondern auch
in den Situationen, wie die frühere geheime Schuld der Marquise entdeckt wird,
wie sie auf dem Grabe des untergegangnen Geliebten stirbt u. s. w. In der
dritten Novelle "Wintersonnenwende" wirkt der theatralische Zug am unerfreu¬
lichsten und einigemale geradezu komisch -- wo das Gegentheil beabsichtigt ist.
Alles in allem, können wir unsrer Novellistik nur dann von der "abgelauschten
künstlerischen Form einer höhern Kunststufe" günstiges versprechen, wenn schlichte
innere Wahrheit und echte Natur dabei nicht ebenso zu kurz kommeu, wie es
bei den theatralischen Herkvmmlichkeiten unsrer heutigen Bühne meistentheils
geschieht.




Dramatische Novellen.

Die Erzählungen „Bölkerfrühling" haben durch das stärkere dramatische Element,
welches ihnen der Dichter beimischt, gewonnen, durch die theatralischen Zu¬
thaten, die theatralische Verwirrung einer Menge von Vorgängen, welche der
Novellist schlichter, ruhiger und darum wirksamer motiviren konnte, durch das
theatralische Pathos, welches Gestalten wie dem großen Kurfürsten in der ersten
und dem ehernen General Jork in der letzten Novelle verliehen ist, verloren.
Lindner hat in der Komposition der drei Novellen, dem ganzen scenischen Auf¬
bau und der Durchführung im Dialog und hundert Einzelheiten nicht nur den
Dramatiker, sondern auch deu gewandten Bühnenschriftsteller so wenig verleugnet,
daß ein Berliner Feuilletonist leicht auf den Einfall kommen könnte, die drei
Erzählungen „verkniffene Schauspiele" zu nennen. So leichtfertig sollte freilich
eine poetische Arbeit, in welcher immerhin ein Kern productiven Talents und
künstlerischen Ernstes vorhanden ist, nie abgefertigt werden. Aber erfreulich wirkt
das Hereindringen der fatalsten theatralischen Traditionen in die Novellistik nicht.

Die beste Erzählung sowohl ihrem innern Gehalt als ihrer Durchführung
nach scheint uns die erste, „Das Erwachen des Adlers," welche die großen
Motive, die weiten Perspectiven und die Mannichfaltigkeit der Situationen und
Gestalten eines großem historischen Romans in den engern Nahmen einer Er¬
zählung drängt, in der das dramatische Element über das theatralische ein Ueber¬
gewicht hat und in der originelle und höchst poetische Züge vorhanden sind.
Die Novelle „Rvcveeo-Adel" klingt in ihrer Haupterfindung mit der Vorgeschichte
der Lady Dedlock in Charles Dickens' Roman „Bleakhouse" zusammen, nicht
nur in dem Schicksal, das sich ja tausendfach wiederholen mag, fondern auch
in den Situationen, wie die frühere geheime Schuld der Marquise entdeckt wird,
wie sie auf dem Grabe des untergegangnen Geliebten stirbt u. s. w. In der
dritten Novelle „Wintersonnenwende" wirkt der theatralische Zug am unerfreu¬
lichsten und einigemale geradezu komisch — wo das Gegentheil beabsichtigt ist.
Alles in allem, können wir unsrer Novellistik nur dann von der „abgelauschten
künstlerischen Form einer höhern Kunststufe" günstiges versprechen, wenn schlichte
innere Wahrheit und echte Natur dabei nicht ebenso zu kurz kommeu, wie es
bei den theatralischen Herkvmmlichkeiten unsrer heutigen Bühne meistentheils
geschieht.




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[0571] Dramatische Novellen. Die Erzählungen „Bölkerfrühling" haben durch das stärkere dramatische Element, welches ihnen der Dichter beimischt, gewonnen, durch die theatralischen Zu¬ thaten, die theatralische Verwirrung einer Menge von Vorgängen, welche der Novellist schlichter, ruhiger und darum wirksamer motiviren konnte, durch das theatralische Pathos, welches Gestalten wie dem großen Kurfürsten in der ersten und dem ehernen General Jork in der letzten Novelle verliehen ist, verloren. Lindner hat in der Komposition der drei Novellen, dem ganzen scenischen Auf¬ bau und der Durchführung im Dialog und hundert Einzelheiten nicht nur den Dramatiker, sondern auch deu gewandten Bühnenschriftsteller so wenig verleugnet, daß ein Berliner Feuilletonist leicht auf den Einfall kommen könnte, die drei Erzählungen „verkniffene Schauspiele" zu nennen. So leichtfertig sollte freilich eine poetische Arbeit, in welcher immerhin ein Kern productiven Talents und künstlerischen Ernstes vorhanden ist, nie abgefertigt werden. Aber erfreulich wirkt das Hereindringen der fatalsten theatralischen Traditionen in die Novellistik nicht. Die beste Erzählung sowohl ihrem innern Gehalt als ihrer Durchführung nach scheint uns die erste, „Das Erwachen des Adlers," welche die großen Motive, die weiten Perspectiven und die Mannichfaltigkeit der Situationen und Gestalten eines großem historischen Romans in den engern Nahmen einer Er¬ zählung drängt, in der das dramatische Element über das theatralische ein Ueber¬ gewicht hat und in der originelle und höchst poetische Züge vorhanden sind. Die Novelle „Rvcveeo-Adel" klingt in ihrer Haupterfindung mit der Vorgeschichte der Lady Dedlock in Charles Dickens' Roman „Bleakhouse" zusammen, nicht nur in dem Schicksal, das sich ja tausendfach wiederholen mag, fondern auch in den Situationen, wie die frühere geheime Schuld der Marquise entdeckt wird, wie sie auf dem Grabe des untergegangnen Geliebten stirbt u. s. w. In der dritten Novelle „Wintersonnenwende" wirkt der theatralische Zug am unerfreu¬ lichsten und einigemale geradezu komisch — wo das Gegentheil beabsichtigt ist. Alles in allem, können wir unsrer Novellistik nur dann von der „abgelauschten künstlerischen Form einer höhern Kunststufe" günstiges versprechen, wenn schlichte innere Wahrheit und echte Natur dabei nicht ebenso zu kurz kommeu, wie es bei den theatralischen Herkvmmlichkeiten unsrer heutigen Bühne meistentheils geschieht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/571>, abgerufen am 01.09.2024.