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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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politische Briefe.

Die Binsenweisheit, welche heute den Zielen des Kanzlers entgegengesetzt
wird: daß man nicht das Brot für viele aus der Tasche weniger nehmen
könne; daß es gleichwohl nur diese Taschen zum Suchen gebe, denn aus nichts
werde nichts; daß die Zahl der Altersversorgung heischenden nicht zu begrenzen
und der Pensionsfonds nicht zu füllen sei; daß man den sich versichern sollenden
Arbeiter nicht nöthigen könne, das Deficit der Zukunft aus dem Deficit der
Gegenwart zu decken; daß wesentlicher als die Versicherung gegen Altersbe¬
dürftigkeit die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit sei, daß man diese nur aber
beseitigen könne durch die Uebernahme der ganzen Arbeitsleistung auf den Staat
und daß dies zur Vertheilung der Consumtion durch den Staat führe, daß
dies die Utopie der Socialdemokratie und das Ende der Cultur sei -- diese
Binsenweisheit, die jetzt nicht von den Bierbänken, sondern von allen Zeitungs-
blättern erschallt, diese Binsenweisheit, kommt sie nicht einen Augenblick zu der
Frage, ob dies alles, was ihr so zum Ueberdruß klar ist, dem Reichskanzler
verschlossene und seiner Intelligenz unnahbare Dinge sind?

Es kostet Ueberwindung, etwas von jenen Einsichten auch uur zu berühren,
welche den Ernst und die Tiefe der Probleme zeigen, die der Kanzler mit
seinem unerschöpflichen Pflichtgefühl, seinem erstaunlichen Muthe, seinem sichern
Blick und seinem gewaltigen Griff jetzt in die Hand genommen hat. Die
Binsenweisheit wird ja doch nur spotten. Denn -- dies mögen die Wohl¬
meinenden sich merken, die sich beklagen, daß der Kanzler nicht durch bessere
Belehrung über seine Absichten sein Volk an sich ziehe, anstatt es über den
Kopf desselben hinweg von Erfolg zu Erfolg zu führen -- die praktischen Wahr¬
heiten haben nicht die Eigenschaft, bevor sie die Wirklichkeit besiegt haben und
beherrschen, jedem Auge erkennbar zu sein und wie das Feuer des Diamanten
die gemeinen Steine zu überstrahle". Wenn dies der Fall wäre, so wäre nicht
so viel Noth in der Welt um den Sieg der Vernunft. Die praktische
Weisheit, so lange sie nur Theorie ist, sieht für die Narren aus wie die All-
tagSweisheit, und jeder triviale Mund wirft ihr einen Einwand entgegen, und
dem er sie todtgeschlagen zu habe" meint. Darum ist Fürst Bismarck kein
Pädagog, ein Kranz, den ihm treffliche Leute zu andern Kränzen aufsetzen
möchten, kein publicistifcher und parlamentarischer Pädagog, weil er es nicht sei"
darf, wenn er es auch sein könnte. Der Pädagog streut Samen, der Held
bricht die Früchte aus deu Gärten der Hesperiden oder aus deu Dornen der
Wildniß. Den Samen, welchen der Pädagog streut, kann der Held nicht
erwarten, wenn er nicht schon Frucht, wenn auch verlorene Frucht ist. Der
Beruf des Helden ist, die verlorene Weisheit in die Herrschaft einzusetzen
und die Frucht der Weisheit da zu erkennen, wo der Alltagsverstand sie nicht
sieht- . .

Blut und Eisen war kein neugefnndenes Mittel entdeckender Weisheit.
Entscheidend war nur die Einsicht: hier gehört es her, hier kann nur d?es,


politische Briefe.

Die Binsenweisheit, welche heute den Zielen des Kanzlers entgegengesetzt
wird: daß man nicht das Brot für viele aus der Tasche weniger nehmen
könne; daß es gleichwohl nur diese Taschen zum Suchen gebe, denn aus nichts
werde nichts; daß die Zahl der Altersversorgung heischenden nicht zu begrenzen
und der Pensionsfonds nicht zu füllen sei; daß man den sich versichern sollenden
Arbeiter nicht nöthigen könne, das Deficit der Zukunft aus dem Deficit der
Gegenwart zu decken; daß wesentlicher als die Versicherung gegen Altersbe¬
dürftigkeit die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit sei, daß man diese nur aber
beseitigen könne durch die Uebernahme der ganzen Arbeitsleistung auf den Staat
und daß dies zur Vertheilung der Consumtion durch den Staat führe, daß
dies die Utopie der Socialdemokratie und das Ende der Cultur sei — diese
Binsenweisheit, die jetzt nicht von den Bierbänken, sondern von allen Zeitungs-
blättern erschallt, diese Binsenweisheit, kommt sie nicht einen Augenblick zu der
Frage, ob dies alles, was ihr so zum Ueberdruß klar ist, dem Reichskanzler
verschlossene und seiner Intelligenz unnahbare Dinge sind?

Es kostet Ueberwindung, etwas von jenen Einsichten auch uur zu berühren,
welche den Ernst und die Tiefe der Probleme zeigen, die der Kanzler mit
seinem unerschöpflichen Pflichtgefühl, seinem erstaunlichen Muthe, seinem sichern
Blick und seinem gewaltigen Griff jetzt in die Hand genommen hat. Die
Binsenweisheit wird ja doch nur spotten. Denn — dies mögen die Wohl¬
meinenden sich merken, die sich beklagen, daß der Kanzler nicht durch bessere
Belehrung über seine Absichten sein Volk an sich ziehe, anstatt es über den
Kopf desselben hinweg von Erfolg zu Erfolg zu führen — die praktischen Wahr¬
heiten haben nicht die Eigenschaft, bevor sie die Wirklichkeit besiegt haben und
beherrschen, jedem Auge erkennbar zu sein und wie das Feuer des Diamanten
die gemeinen Steine zu überstrahle». Wenn dies der Fall wäre, so wäre nicht
so viel Noth in der Welt um den Sieg der Vernunft. Die praktische
Weisheit, so lange sie nur Theorie ist, sieht für die Narren aus wie die All-
tagSweisheit, und jeder triviale Mund wirft ihr einen Einwand entgegen, und
dem er sie todtgeschlagen zu habe» meint. Darum ist Fürst Bismarck kein
Pädagog, ein Kranz, den ihm treffliche Leute zu andern Kränzen aufsetzen
möchten, kein publicistifcher und parlamentarischer Pädagog, weil er es nicht sei»
darf, wenn er es auch sein könnte. Der Pädagog streut Samen, der Held
bricht die Früchte aus deu Gärten der Hesperiden oder aus deu Dornen der
Wildniß. Den Samen, welchen der Pädagog streut, kann der Held nicht
erwarten, wenn er nicht schon Frucht, wenn auch verlorene Frucht ist. Der
Beruf des Helden ist, die verlorene Weisheit in die Herrschaft einzusetzen
und die Frucht der Weisheit da zu erkennen, wo der Alltagsverstand sie nicht
sieht- . .

Blut und Eisen war kein neugefnndenes Mittel entdeckender Weisheit.
Entscheidend war nur die Einsicht: hier gehört es her, hier kann nur d?es,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/528>, abgerufen am 01.09.2024.