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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben.
von Fritz Anders.
3. Der Herr Pnragrnphendirector.

s geschieht aber doch auch viel gutes. Sehen Sie nur diese Un¬
zahl von Vereinen an, die sämmtlich überaus segensreich wirken! Wir
dürfen stolz sein auf deu bewährten Wohlthätigkeitssiuuu nsrer Zeit."
"Das ist wahr! Ja, das ist wahr!"----
Vorm Jahre gab es inEbcustadt ein großes Brandunglück. Es war
in Neu-Amerika, der Arbeitervorstadt, Feuer ausgebrochen, durch
welches in kurzer Zeit ein nur von armen Leute", Arbeitern und Tagelöhnern bewohnter
Hänscrcomplex in Asche gelegt wurde. Dabei kamen fünf Kiuder im Alter von ein bis
sieben Jahren ums Leben. Der allgemeine Unwille richtete sich zunächst gegen
die Feuerwehr, doch stellte die Untersuchung fest, daß die Kinder von ihren auf
Arbeit befindlichen Eltern eingeschlossen worden waren, daß diese Kinder vermuthlich
mit Streichhölzern gespielt hatten und gewiß schon erstickt waren, ehe die Feuer¬
wehr an Ort und Stelle erscheinen konnte.

"Aber es ist doch unverantwortlich vou diesen Eltern! Warum blieb die
Mutter nicht zu Hause?" -- Weil sie arbeiten, verdienen mußte, um die große
Familie zu ernähren. -- "Gab es denu uicht Schulen genug, gab es nicht eine
Kinderbeivahrnnstnlt?" -- Gewiß, aber wo bleiben die ganz kleinen Kiuder? Wenn
leicht eine alte Frau im Hause wohnt, welche sich zur Kinderwärterin hergiebt, so muß
das kleine Kind das kleinere bewachen. Um hierfür einige Sicherheit zu haben,
schließt man die Stubenthür ub -- das ist der allgemeine Gebrauch.

Kurze Zeit darauf wiederholte sich das nämliche Unglück im benachbarten Dorfe,
während eine medicinal-statistische Erhebung feststellte, daß die Sterblichkeitsziffer
der Kinder der arbeitenden Bevölkerung in den ersten beiden Lebensjahren eine
ganz exorbitante Höhe erreiche. Ein im polytechnischen Verein gehaltner und im
Tageblatte abgedruckter Bortrag legte die Gründe dieser betrübenden Erscheinung
dar: Vernachlässigung, ungenügender Raum, ungenügendes Licht, schlechte Ernäh¬
rung, schlechte Luft und ansteckende Krankheiten. Als besonders traurig wurde die
Lage der sogenannten Pflegekinder geschildert, armer Würmer, die in deu Händen
eines alten Weibes, einer gewissenlosen Kinderhalteriu, einer Frau mit starker Fa¬
milie, welche "die paar Thaler" mitnehmen will und denkt, wo sieben durchkommen,
sei auch für das achte Raum, in den meisten Fällen zu Gründe gehen.

So war über Nacht ein neuer Nothstand emporgewachsen, der gebieterisch Ab¬
hilfe heischte. Wer nur hätte sagen können, wie Abhilfe zu schaffen möglich sei.

Ein Verein! Ja, ein Verein! Das ist das erlösende Wort. Es muß ein
Verein gegründet werden!

Die Stadt fühlte sich durch diesen Fund sichtlich erleichtert und war gewillt,
für den zu gründenden "segensreichen" Berein erhebliche Opfer im Betrage von
1--3 Mark zu bringen.


Grenzboten III. 1881. 62
Skizzen aus unserm heutigen Volksleben.
von Fritz Anders.
3. Der Herr Pnragrnphendirector.

s geschieht aber doch auch viel gutes. Sehen Sie nur diese Un¬
zahl von Vereinen an, die sämmtlich überaus segensreich wirken! Wir
dürfen stolz sein auf deu bewährten Wohlthätigkeitssiuuu nsrer Zeit."
„Das ist wahr! Ja, das ist wahr!"----
Vorm Jahre gab es inEbcustadt ein großes Brandunglück. Es war
in Neu-Amerika, der Arbeitervorstadt, Feuer ausgebrochen, durch
welches in kurzer Zeit ein nur von armen Leute», Arbeitern und Tagelöhnern bewohnter
Hänscrcomplex in Asche gelegt wurde. Dabei kamen fünf Kiuder im Alter von ein bis
sieben Jahren ums Leben. Der allgemeine Unwille richtete sich zunächst gegen
die Feuerwehr, doch stellte die Untersuchung fest, daß die Kinder von ihren auf
Arbeit befindlichen Eltern eingeschlossen worden waren, daß diese Kinder vermuthlich
mit Streichhölzern gespielt hatten und gewiß schon erstickt waren, ehe die Feuer¬
wehr an Ort und Stelle erscheinen konnte.

„Aber es ist doch unverantwortlich vou diesen Eltern! Warum blieb die
Mutter nicht zu Hause?" — Weil sie arbeiten, verdienen mußte, um die große
Familie zu ernähren. — „Gab es denu uicht Schulen genug, gab es nicht eine
Kinderbeivahrnnstnlt?" — Gewiß, aber wo bleiben die ganz kleinen Kiuder? Wenn
leicht eine alte Frau im Hause wohnt, welche sich zur Kinderwärterin hergiebt, so muß
das kleine Kind das kleinere bewachen. Um hierfür einige Sicherheit zu haben,
schließt man die Stubenthür ub — das ist der allgemeine Gebrauch.

Kurze Zeit darauf wiederholte sich das nämliche Unglück im benachbarten Dorfe,
während eine medicinal-statistische Erhebung feststellte, daß die Sterblichkeitsziffer
der Kinder der arbeitenden Bevölkerung in den ersten beiden Lebensjahren eine
ganz exorbitante Höhe erreiche. Ein im polytechnischen Verein gehaltner und im
Tageblatte abgedruckter Bortrag legte die Gründe dieser betrübenden Erscheinung
dar: Vernachlässigung, ungenügender Raum, ungenügendes Licht, schlechte Ernäh¬
rung, schlechte Luft und ansteckende Krankheiten. Als besonders traurig wurde die
Lage der sogenannten Pflegekinder geschildert, armer Würmer, die in deu Händen
eines alten Weibes, einer gewissenlosen Kinderhalteriu, einer Frau mit starker Fa¬
milie, welche „die paar Thaler" mitnehmen will und denkt, wo sieben durchkommen,
sei auch für das achte Raum, in den meisten Fällen zu Gründe gehen.

So war über Nacht ein neuer Nothstand emporgewachsen, der gebieterisch Ab¬
hilfe heischte. Wer nur hätte sagen können, wie Abhilfe zu schaffen möglich sei.

Ein Verein! Ja, ein Verein! Das ist das erlösende Wort. Es muß ein
Verein gegründet werden!

Die Stadt fühlte sich durch diesen Fund sichtlich erleichtert und war gewillt,
für den zu gründenden „segensreichen" Berein erhebliche Opfer im Betrage von
1—3 Mark zu bringen.


Grenzboten III. 1881. 62
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[0497] Skizzen aus unserm heutigen Volksleben. von Fritz Anders. 3. Der Herr Pnragrnphendirector. s geschieht aber doch auch viel gutes. Sehen Sie nur diese Un¬ zahl von Vereinen an, die sämmtlich überaus segensreich wirken! Wir dürfen stolz sein auf deu bewährten Wohlthätigkeitssiuuu nsrer Zeit." „Das ist wahr! Ja, das ist wahr!"---- Vorm Jahre gab es inEbcustadt ein großes Brandunglück. Es war in Neu-Amerika, der Arbeitervorstadt, Feuer ausgebrochen, durch welches in kurzer Zeit ein nur von armen Leute», Arbeitern und Tagelöhnern bewohnter Hänscrcomplex in Asche gelegt wurde. Dabei kamen fünf Kiuder im Alter von ein bis sieben Jahren ums Leben. Der allgemeine Unwille richtete sich zunächst gegen die Feuerwehr, doch stellte die Untersuchung fest, daß die Kinder von ihren auf Arbeit befindlichen Eltern eingeschlossen worden waren, daß diese Kinder vermuthlich mit Streichhölzern gespielt hatten und gewiß schon erstickt waren, ehe die Feuer¬ wehr an Ort und Stelle erscheinen konnte. „Aber es ist doch unverantwortlich vou diesen Eltern! Warum blieb die Mutter nicht zu Hause?" — Weil sie arbeiten, verdienen mußte, um die große Familie zu ernähren. — „Gab es denu uicht Schulen genug, gab es nicht eine Kinderbeivahrnnstnlt?" — Gewiß, aber wo bleiben die ganz kleinen Kiuder? Wenn leicht eine alte Frau im Hause wohnt, welche sich zur Kinderwärterin hergiebt, so muß das kleine Kind das kleinere bewachen. Um hierfür einige Sicherheit zu haben, schließt man die Stubenthür ub — das ist der allgemeine Gebrauch. Kurze Zeit darauf wiederholte sich das nämliche Unglück im benachbarten Dorfe, während eine medicinal-statistische Erhebung feststellte, daß die Sterblichkeitsziffer der Kinder der arbeitenden Bevölkerung in den ersten beiden Lebensjahren eine ganz exorbitante Höhe erreiche. Ein im polytechnischen Verein gehaltner und im Tageblatte abgedruckter Bortrag legte die Gründe dieser betrübenden Erscheinung dar: Vernachlässigung, ungenügender Raum, ungenügendes Licht, schlechte Ernäh¬ rung, schlechte Luft und ansteckende Krankheiten. Als besonders traurig wurde die Lage der sogenannten Pflegekinder geschildert, armer Würmer, die in deu Händen eines alten Weibes, einer gewissenlosen Kinderhalteriu, einer Frau mit starker Fa¬ milie, welche „die paar Thaler" mitnehmen will und denkt, wo sieben durchkommen, sei auch für das achte Raum, in den meisten Fällen zu Gründe gehen. So war über Nacht ein neuer Nothstand emporgewachsen, der gebieterisch Ab¬ hilfe heischte. Wer nur hätte sagen können, wie Abhilfe zu schaffen möglich sei. Ein Verein! Ja, ein Verein! Das ist das erlösende Wort. Es muß ein Verein gegründet werden! Die Stadt fühlte sich durch diesen Fund sichtlich erleichtert und war gewillt, für den zu gründenden „segensreichen" Berein erhebliche Opfer im Betrage von 1—3 Mark zu bringen. Grenzboten III. 1881. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/497>, abgerufen am 01.09.2024.