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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Rümelin über die deutschen Schulen.

Sättigung mitraten, ja die Gesundheit der Schüler ernstlicher Gefahr ausgesetzt
werde.

Wie will nun Rümelin das Gymnasium geändert wissen? "Das Gym¬
nasium," sagt er, "soll die geistigen Anlagen und Kräfte entwickeln und üben
an denjenigen Stoffen, die sich eben hierzu allein oder am besten eignen, auch
wenn sie an unmittelbarer Anwendbarkeit auf Wissenschaft und praktisches Leben
hinter andern Wissensstoffen zurückstehen. Es kann keine abgerundete, in sich
geschlossene allgemeine Bildung erzielen, aber es kann und soll sowohl die Lust
als die Fähigkeit des eignen, freien Wciterlcrncns wecken und kräftigen; es kann
und soll den Reiz hinterlassen, die unvermeidlichen weiten Lücken des positiven
Wissens im Verlauf des Lebens und der Berufsübung nach Kräften auszufüllen;
es kann und soll einen Einblick eröffnen in den Reichthum und die Fülle des
Wissenswerthen, aber es lahmt dies Interesse, wenn es zum voraus einen Aus¬
zug, ein Excerpt daraus bieten will, das die Meinung erwecken muß, daß die
Sache damit abgemacht sei, und das in der Regel jenen Reiz mehr abstumpft
als weckt."

Von diesem Standpunkte aus geht Rümelin die einzelnen Lehrfächer durch
und erörtert ihren Nutzen für den menschlichen Geist. In erster Linie stehen
als Bildungsmittel die gebildeten Sprachen, die in den Wortarten, in den Um¬
formungen derselben, in der Satzbildung, in dem Wortschätze die ganze Errungen¬
schaft eines vieltausendjährigen, bewährten Wahrnehmens, Vorstellens und Den¬
kens geben. Hier steht Rümelin noch ganz auf altwürtembergischcn Standpunkte.
Genaue Kenntniß der Regeln der lateinischen Sprache erscheint ihm sür den
Knabcnkopf unendlich fruchtbarer und werthvoller, als wenn er weiß, wie man
die Vögel oder Würmer eintheilt, wie sich Kryptogamen und Phanerogamen
unterscheiden, welche Arten von Comitien es im alten Rom gegeben hat, wie
die Planeten heißen und aufeinander folgen, wann und wo Schiller geboren
oder gestorben ist. Die eingehende Kenntniß der realen Seite des antiken Lebens,
wie sie neuerdings gelehrt wird, erscheint ihm kein Bedürfniß des modernen
Lebens. Auch die sprachgeschichtlichcn und sprachphilosophischen Forschungen
schlägt er von pädagogischen Standpunkte aus gering an. Von den beiden alten
Sprachen habe das Latein den Vorrang einzunehmen, denn es sei dem Grie¬
chischen überlegen "durch den Vorzug der einfachern Formenlehre, den strengern
logischen Satzball, die festern Regeln, einen deutlich erkennbaren normirenden
Höhepunkt der classische" Diction eines goldnen Zeitalters, überhaupt den der
Schule so willkommenen, so unerläßlichen Charakter des Disciplinirten, die Willkür
Ausschließenden, das subjective Belieben einer festen Ordnung Einfügenden." Im
Griechischen sollen daher die hohen Anforderungen beschränkt werden.

Mit den neuern Sprachen sich zu befassen, hätte das Gymnasium von seinen
leitenden Gesichtspunkten aus nach Rümelin überhaupt keinen Grund. Es könnte
sie dem Privatunterrichte überlassen. Da es sich aber den auf guten, praktischen
Gründen gestützten Anforderungen des Publicums nicht zu entziehen vermag,
so solle sich seine Aufgabe wenigstens darauf beschränken, die Schüler soweit zu
führen, daß sie einen Alltor mit einiger Leichtigkeit lesen können. Den letzten
Platz in dem Lehrplan der Gymnasien hätten an pädagogischen Werth Geschichte,
Geographie und deutsche Literatur einzunehmen. Denn "sie haben die gemein¬
same Eigenschaft, daß man, um sie zu erlernen, keiner Schule und keines Leh¬
rers bedarf, daß sie wenig Selbstthätigkeit und fast nur ein receptives Verhalten
bedingen, daß sie zu keinen Aufgaben Stoff und Anlaß geben außer zu solchen,


Rümelin über die deutschen Schulen.

Sättigung mitraten, ja die Gesundheit der Schüler ernstlicher Gefahr ausgesetzt
werde.

Wie will nun Rümelin das Gymnasium geändert wissen? „Das Gym¬
nasium," sagt er, „soll die geistigen Anlagen und Kräfte entwickeln und üben
an denjenigen Stoffen, die sich eben hierzu allein oder am besten eignen, auch
wenn sie an unmittelbarer Anwendbarkeit auf Wissenschaft und praktisches Leben
hinter andern Wissensstoffen zurückstehen. Es kann keine abgerundete, in sich
geschlossene allgemeine Bildung erzielen, aber es kann und soll sowohl die Lust
als die Fähigkeit des eignen, freien Wciterlcrncns wecken und kräftigen; es kann
und soll den Reiz hinterlassen, die unvermeidlichen weiten Lücken des positiven
Wissens im Verlauf des Lebens und der Berufsübung nach Kräften auszufüllen;
es kann und soll einen Einblick eröffnen in den Reichthum und die Fülle des
Wissenswerthen, aber es lahmt dies Interesse, wenn es zum voraus einen Aus¬
zug, ein Excerpt daraus bieten will, das die Meinung erwecken muß, daß die
Sache damit abgemacht sei, und das in der Regel jenen Reiz mehr abstumpft
als weckt."

Von diesem Standpunkte aus geht Rümelin die einzelnen Lehrfächer durch
und erörtert ihren Nutzen für den menschlichen Geist. In erster Linie stehen
als Bildungsmittel die gebildeten Sprachen, die in den Wortarten, in den Um¬
formungen derselben, in der Satzbildung, in dem Wortschätze die ganze Errungen¬
schaft eines vieltausendjährigen, bewährten Wahrnehmens, Vorstellens und Den¬
kens geben. Hier steht Rümelin noch ganz auf altwürtembergischcn Standpunkte.
Genaue Kenntniß der Regeln der lateinischen Sprache erscheint ihm sür den
Knabcnkopf unendlich fruchtbarer und werthvoller, als wenn er weiß, wie man
die Vögel oder Würmer eintheilt, wie sich Kryptogamen und Phanerogamen
unterscheiden, welche Arten von Comitien es im alten Rom gegeben hat, wie
die Planeten heißen und aufeinander folgen, wann und wo Schiller geboren
oder gestorben ist. Die eingehende Kenntniß der realen Seite des antiken Lebens,
wie sie neuerdings gelehrt wird, erscheint ihm kein Bedürfniß des modernen
Lebens. Auch die sprachgeschichtlichcn und sprachphilosophischen Forschungen
schlägt er von pädagogischen Standpunkte aus gering an. Von den beiden alten
Sprachen habe das Latein den Vorrang einzunehmen, denn es sei dem Grie¬
chischen überlegen „durch den Vorzug der einfachern Formenlehre, den strengern
logischen Satzball, die festern Regeln, einen deutlich erkennbaren normirenden
Höhepunkt der classische» Diction eines goldnen Zeitalters, überhaupt den der
Schule so willkommenen, so unerläßlichen Charakter des Disciplinirten, die Willkür
Ausschließenden, das subjective Belieben einer festen Ordnung Einfügenden." Im
Griechischen sollen daher die hohen Anforderungen beschränkt werden.

Mit den neuern Sprachen sich zu befassen, hätte das Gymnasium von seinen
leitenden Gesichtspunkten aus nach Rümelin überhaupt keinen Grund. Es könnte
sie dem Privatunterrichte überlassen. Da es sich aber den auf guten, praktischen
Gründen gestützten Anforderungen des Publicums nicht zu entziehen vermag,
so solle sich seine Aufgabe wenigstens darauf beschränken, die Schüler soweit zu
führen, daß sie einen Alltor mit einiger Leichtigkeit lesen können. Den letzten
Platz in dem Lehrplan der Gymnasien hätten an pädagogischen Werth Geschichte,
Geographie und deutsche Literatur einzunehmen. Denn „sie haben die gemein¬
same Eigenschaft, daß man, um sie zu erlernen, keiner Schule und keines Leh¬
rers bedarf, daß sie wenig Selbstthätigkeit und fast nur ein receptives Verhalten
bedingen, daß sie zu keinen Aufgaben Stoff und Anlaß geben außer zu solchen,


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[0436] Rümelin über die deutschen Schulen. Sättigung mitraten, ja die Gesundheit der Schüler ernstlicher Gefahr ausgesetzt werde. Wie will nun Rümelin das Gymnasium geändert wissen? „Das Gym¬ nasium," sagt er, „soll die geistigen Anlagen und Kräfte entwickeln und üben an denjenigen Stoffen, die sich eben hierzu allein oder am besten eignen, auch wenn sie an unmittelbarer Anwendbarkeit auf Wissenschaft und praktisches Leben hinter andern Wissensstoffen zurückstehen. Es kann keine abgerundete, in sich geschlossene allgemeine Bildung erzielen, aber es kann und soll sowohl die Lust als die Fähigkeit des eignen, freien Wciterlcrncns wecken und kräftigen; es kann und soll den Reiz hinterlassen, die unvermeidlichen weiten Lücken des positiven Wissens im Verlauf des Lebens und der Berufsübung nach Kräften auszufüllen; es kann und soll einen Einblick eröffnen in den Reichthum und die Fülle des Wissenswerthen, aber es lahmt dies Interesse, wenn es zum voraus einen Aus¬ zug, ein Excerpt daraus bieten will, das die Meinung erwecken muß, daß die Sache damit abgemacht sei, und das in der Regel jenen Reiz mehr abstumpft als weckt." Von diesem Standpunkte aus geht Rümelin die einzelnen Lehrfächer durch und erörtert ihren Nutzen für den menschlichen Geist. In erster Linie stehen als Bildungsmittel die gebildeten Sprachen, die in den Wortarten, in den Um¬ formungen derselben, in der Satzbildung, in dem Wortschätze die ganze Errungen¬ schaft eines vieltausendjährigen, bewährten Wahrnehmens, Vorstellens und Den¬ kens geben. Hier steht Rümelin noch ganz auf altwürtembergischcn Standpunkte. Genaue Kenntniß der Regeln der lateinischen Sprache erscheint ihm sür den Knabcnkopf unendlich fruchtbarer und werthvoller, als wenn er weiß, wie man die Vögel oder Würmer eintheilt, wie sich Kryptogamen und Phanerogamen unterscheiden, welche Arten von Comitien es im alten Rom gegeben hat, wie die Planeten heißen und aufeinander folgen, wann und wo Schiller geboren oder gestorben ist. Die eingehende Kenntniß der realen Seite des antiken Lebens, wie sie neuerdings gelehrt wird, erscheint ihm kein Bedürfniß des modernen Lebens. Auch die sprachgeschichtlichcn und sprachphilosophischen Forschungen schlägt er von pädagogischen Standpunkte aus gering an. Von den beiden alten Sprachen habe das Latein den Vorrang einzunehmen, denn es sei dem Grie¬ chischen überlegen „durch den Vorzug der einfachern Formenlehre, den strengern logischen Satzball, die festern Regeln, einen deutlich erkennbaren normirenden Höhepunkt der classische» Diction eines goldnen Zeitalters, überhaupt den der Schule so willkommenen, so unerläßlichen Charakter des Disciplinirten, die Willkür Ausschließenden, das subjective Belieben einer festen Ordnung Einfügenden." Im Griechischen sollen daher die hohen Anforderungen beschränkt werden. Mit den neuern Sprachen sich zu befassen, hätte das Gymnasium von seinen leitenden Gesichtspunkten aus nach Rümelin überhaupt keinen Grund. Es könnte sie dem Privatunterrichte überlassen. Da es sich aber den auf guten, praktischen Gründen gestützten Anforderungen des Publicums nicht zu entziehen vermag, so solle sich seine Aufgabe wenigstens darauf beschränken, die Schüler soweit zu führen, daß sie einen Alltor mit einiger Leichtigkeit lesen können. Den letzten Platz in dem Lehrplan der Gymnasien hätten an pädagogischen Werth Geschichte, Geographie und deutsche Literatur einzunehmen. Denn „sie haben die gemein¬ same Eigenschaft, daß man, um sie zu erlernen, keiner Schule und keines Leh¬ rers bedarf, daß sie wenig Selbstthätigkeit und fast nur ein receptives Verhalten bedingen, daß sie zu keinen Aufgaben Stoff und Anlaß geben außer zu solchen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/436>, abgerufen am 25.11.2024.