Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

Durchschnittsgeschmack der Zeit sprechen, in welcher ihre Großväter und Gro߬
mütter jung waren. Man darf Lassen nicht nach diesen Liedern beurtheilen.
Wer ihn kennen und Respect vor ihm gewinnen will, muß seine Composition
des "König Oedipus" studiren, eine Stil- und wirkungsvolle Musik, nobel, schlicht
und gehaltreich. Lassen besitzt ein großes Talent, dessen Schwäche nur in seiner
noch größern Willigkeit zu liegen scheint, die den Komponisten verleitet, zu leicht
zu spenden. So kommt es, daß er häufig auf das tiefe Niveau geräth, auf
dem sich jenes "Ich hatte einst ein schönes Vaterland" befindet, daher kommt
die Ungleichheit in einem und demselben Stücke wie in dem ebenfalls angeführten
"Admiral", der in den Stellen, wo vom Meere die Rede ist, bedeutende Musik,
in deu Nefrainpartien, wo an das Gefühl cippellirt wird, bänkelsängerische Sen¬
timentalität bringt. Lassen wirft die Lieder zuweilen nur so hin, gleichviel ob
zu edeln Worten gewöhnliche Tanzweiscn kommen, ob die Gedanken von ihm
selbst oder aus Gounods Fürst, Wagners Lohengrin sind, und verfährt da, wo
ein Cabinetsbild bestellt ist, mit der Ungenirthcit eines Coulissenmalers. Etwas
Stimmung, etwas Klang -- voils, 1s tAdles-u. Eine Seal" für die Singstimme,
eine andre in Gegenbewegung für das Clavier, und ein Lied von vier Seiten
ist fertig. Wer das nicht glauben will, schlage in Opus 59 die "Lerchen" auf.
Sehr schade! Denn Lassen ist ein Vollblutmusiker, der aus unscheinbaren Motiven
mit feinem Griff etwas Apartes und Fesselndes zu macheu versteht, feurig empfindet
und in natürlich fließenden Melodien sich zu äußern weiß. Das Genre, bei dem
man ihn aufsuchen muß, sind fröhliche, leicht heitre Sachen. Diese weiß er mit
einem Reichthum von hübschen Gedanken und mit jenem anmuthigen Ton vor¬
zutragen, welcher der französischen Romanze eigen ist. Es lebt in ihm etwas
von dem Geiste Börcmgers. Die besten Lieder in dieser Richtung sind von ihm
"Vöglein wohin so schnell". "Immer bei Dir", "Mein Alles Du" (letztre aus
Opus 68) und "Du wandelst unter Blumen."

Lassen gehört auch unter die wenigen Componisten, welche Coloraturlieder
geschrieben haben, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf. Es sind darunter
Lieder mit längern Melismen auf eine Silbe gemeint. Bei diesem Kunstmittel
fing bekanntlich im Mittelalter die Musik nach ihrer kirchenobrigkeitlichen Hin¬
richtung wieder an, es mit dem Leben zu versuchen. In allen Vocalen Werken,
namentlich den chorischen, die bis zum Anfang dieses Jahrhunderts geschrieben
wurden, ist es stark gebraucht. Seit aber die Tendenz der Vvcalcomponisten
sich mit besonderm Nachdruck der richtigen Wiedergabe des Wortes zugewendet
hat, gilt es fast als verpönt. Man stutzt schon in neuen Liedern, wenn man
einmal auf eine Silbe mehr als einen Ton verwendet sieht, so sehr haben sich
die Componisten bereits das Melismiren und das Klingen beim Singen ab¬
gewöhnt. Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn man von einer solchen
Ausnahme, wie wir sie bei Lassen treffen, besonders spricht. Auch Lassen macht
von diesem Mittel nur unter besondern Umständen Gebrauch: wenn das Gedicht


Das deutsche Lied seit Robert Schumann.

Durchschnittsgeschmack der Zeit sprechen, in welcher ihre Großväter und Gro߬
mütter jung waren. Man darf Lassen nicht nach diesen Liedern beurtheilen.
Wer ihn kennen und Respect vor ihm gewinnen will, muß seine Composition
des „König Oedipus" studiren, eine Stil- und wirkungsvolle Musik, nobel, schlicht
und gehaltreich. Lassen besitzt ein großes Talent, dessen Schwäche nur in seiner
noch größern Willigkeit zu liegen scheint, die den Komponisten verleitet, zu leicht
zu spenden. So kommt es, daß er häufig auf das tiefe Niveau geräth, auf
dem sich jenes „Ich hatte einst ein schönes Vaterland" befindet, daher kommt
die Ungleichheit in einem und demselben Stücke wie in dem ebenfalls angeführten
„Admiral", der in den Stellen, wo vom Meere die Rede ist, bedeutende Musik,
in deu Nefrainpartien, wo an das Gefühl cippellirt wird, bänkelsängerische Sen¬
timentalität bringt. Lassen wirft die Lieder zuweilen nur so hin, gleichviel ob
zu edeln Worten gewöhnliche Tanzweiscn kommen, ob die Gedanken von ihm
selbst oder aus Gounods Fürst, Wagners Lohengrin sind, und verfährt da, wo
ein Cabinetsbild bestellt ist, mit der Ungenirthcit eines Coulissenmalers. Etwas
Stimmung, etwas Klang — voils, 1s tAdles-u. Eine Seal« für die Singstimme,
eine andre in Gegenbewegung für das Clavier, und ein Lied von vier Seiten
ist fertig. Wer das nicht glauben will, schlage in Opus 59 die „Lerchen" auf.
Sehr schade! Denn Lassen ist ein Vollblutmusiker, der aus unscheinbaren Motiven
mit feinem Griff etwas Apartes und Fesselndes zu macheu versteht, feurig empfindet
und in natürlich fließenden Melodien sich zu äußern weiß. Das Genre, bei dem
man ihn aufsuchen muß, sind fröhliche, leicht heitre Sachen. Diese weiß er mit
einem Reichthum von hübschen Gedanken und mit jenem anmuthigen Ton vor¬
zutragen, welcher der französischen Romanze eigen ist. Es lebt in ihm etwas
von dem Geiste Börcmgers. Die besten Lieder in dieser Richtung sind von ihm
„Vöglein wohin so schnell". „Immer bei Dir", „Mein Alles Du" (letztre aus
Opus 68) und „Du wandelst unter Blumen."

Lassen gehört auch unter die wenigen Componisten, welche Coloraturlieder
geschrieben haben, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf. Es sind darunter
Lieder mit längern Melismen auf eine Silbe gemeint. Bei diesem Kunstmittel
fing bekanntlich im Mittelalter die Musik nach ihrer kirchenobrigkeitlichen Hin¬
richtung wieder an, es mit dem Leben zu versuchen. In allen Vocalen Werken,
namentlich den chorischen, die bis zum Anfang dieses Jahrhunderts geschrieben
wurden, ist es stark gebraucht. Seit aber die Tendenz der Vvcalcomponisten
sich mit besonderm Nachdruck der richtigen Wiedergabe des Wortes zugewendet
hat, gilt es fast als verpönt. Man stutzt schon in neuen Liedern, wenn man
einmal auf eine Silbe mehr als einen Ton verwendet sieht, so sehr haben sich
die Componisten bereits das Melismiren und das Klingen beim Singen ab¬
gewöhnt. Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn man von einer solchen
Ausnahme, wie wir sie bei Lassen treffen, besonders spricht. Auch Lassen macht
von diesem Mittel nur unter besondern Umständen Gebrauch: wenn das Gedicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0038" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150188"/>
          <fw type="header" place="top"> Das deutsche Lied seit Robert Schumann.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_124" prev="#ID_123"> Durchschnittsgeschmack der Zeit sprechen, in welcher ihre Großväter und Gro߬<lb/>
mütter jung waren. Man darf Lassen nicht nach diesen Liedern beurtheilen.<lb/>
Wer ihn kennen und Respect vor ihm gewinnen will, muß seine Composition<lb/>
des &#x201E;König Oedipus" studiren, eine Stil- und wirkungsvolle Musik, nobel, schlicht<lb/>
und gehaltreich. Lassen besitzt ein großes Talent, dessen Schwäche nur in seiner<lb/>
noch größern Willigkeit zu liegen scheint, die den Komponisten verleitet, zu leicht<lb/>
zu spenden. So kommt es, daß er häufig auf das tiefe Niveau geräth, auf<lb/>
dem sich jenes &#x201E;Ich hatte einst ein schönes Vaterland" befindet, daher kommt<lb/>
die Ungleichheit in einem und demselben Stücke wie in dem ebenfalls angeführten<lb/>
&#x201E;Admiral", der in den Stellen, wo vom Meere die Rede ist, bedeutende Musik,<lb/>
in deu Nefrainpartien, wo an das Gefühl cippellirt wird, bänkelsängerische Sen¬<lb/>
timentalität bringt. Lassen wirft die Lieder zuweilen nur so hin, gleichviel ob<lb/>
zu edeln Worten gewöhnliche Tanzweiscn kommen, ob die Gedanken von ihm<lb/>
selbst oder aus Gounods Fürst, Wagners Lohengrin sind, und verfährt da, wo<lb/>
ein Cabinetsbild bestellt ist, mit der Ungenirthcit eines Coulissenmalers. Etwas<lb/>
Stimmung, etwas Klang &#x2014; voils, 1s tAdles-u. Eine Seal« für die Singstimme,<lb/>
eine andre in Gegenbewegung für das Clavier, und ein Lied von vier Seiten<lb/>
ist fertig. Wer das nicht glauben will, schlage in Opus 59 die &#x201E;Lerchen" auf.<lb/>
Sehr schade! Denn Lassen ist ein Vollblutmusiker, der aus unscheinbaren Motiven<lb/>
mit feinem Griff etwas Apartes und Fesselndes zu macheu versteht, feurig empfindet<lb/>
und in natürlich fließenden Melodien sich zu äußern weiß. Das Genre, bei dem<lb/>
man ihn aufsuchen muß, sind fröhliche, leicht heitre Sachen. Diese weiß er mit<lb/>
einem Reichthum von hübschen Gedanken und mit jenem anmuthigen Ton vor¬<lb/>
zutragen, welcher der französischen Romanze eigen ist. Es lebt in ihm etwas<lb/>
von dem Geiste Börcmgers. Die besten Lieder in dieser Richtung sind von ihm<lb/>
&#x201E;Vöglein wohin so schnell". &#x201E;Immer bei Dir", &#x201E;Mein Alles Du" (letztre aus<lb/>
Opus 68) und &#x201E;Du wandelst unter Blumen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_125" next="#ID_126"> Lassen gehört auch unter die wenigen Componisten, welche Coloraturlieder<lb/>
geschrieben haben, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf. Es sind darunter<lb/>
Lieder mit längern Melismen auf eine Silbe gemeint. Bei diesem Kunstmittel<lb/>
fing bekanntlich im Mittelalter die Musik nach ihrer kirchenobrigkeitlichen Hin¬<lb/>
richtung wieder an, es mit dem Leben zu versuchen. In allen Vocalen Werken,<lb/>
namentlich den chorischen, die bis zum Anfang dieses Jahrhunderts geschrieben<lb/>
wurden, ist es stark gebraucht. Seit aber die Tendenz der Vvcalcomponisten<lb/>
sich mit besonderm Nachdruck der richtigen Wiedergabe des Wortes zugewendet<lb/>
hat, gilt es fast als verpönt. Man stutzt schon in neuen Liedern, wenn man<lb/>
einmal auf eine Silbe mehr als einen Ton verwendet sieht, so sehr haben sich<lb/>
die Componisten bereits das Melismiren und das Klingen beim Singen ab¬<lb/>
gewöhnt. Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn man von einer solchen<lb/>
Ausnahme, wie wir sie bei Lassen treffen, besonders spricht. Auch Lassen macht<lb/>
von diesem Mittel nur unter besondern Umständen Gebrauch: wenn das Gedicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0038] Das deutsche Lied seit Robert Schumann. Durchschnittsgeschmack der Zeit sprechen, in welcher ihre Großväter und Gro߬ mütter jung waren. Man darf Lassen nicht nach diesen Liedern beurtheilen. Wer ihn kennen und Respect vor ihm gewinnen will, muß seine Composition des „König Oedipus" studiren, eine Stil- und wirkungsvolle Musik, nobel, schlicht und gehaltreich. Lassen besitzt ein großes Talent, dessen Schwäche nur in seiner noch größern Willigkeit zu liegen scheint, die den Komponisten verleitet, zu leicht zu spenden. So kommt es, daß er häufig auf das tiefe Niveau geräth, auf dem sich jenes „Ich hatte einst ein schönes Vaterland" befindet, daher kommt die Ungleichheit in einem und demselben Stücke wie in dem ebenfalls angeführten „Admiral", der in den Stellen, wo vom Meere die Rede ist, bedeutende Musik, in deu Nefrainpartien, wo an das Gefühl cippellirt wird, bänkelsängerische Sen¬ timentalität bringt. Lassen wirft die Lieder zuweilen nur so hin, gleichviel ob zu edeln Worten gewöhnliche Tanzweiscn kommen, ob die Gedanken von ihm selbst oder aus Gounods Fürst, Wagners Lohengrin sind, und verfährt da, wo ein Cabinetsbild bestellt ist, mit der Ungenirthcit eines Coulissenmalers. Etwas Stimmung, etwas Klang — voils, 1s tAdles-u. Eine Seal« für die Singstimme, eine andre in Gegenbewegung für das Clavier, und ein Lied von vier Seiten ist fertig. Wer das nicht glauben will, schlage in Opus 59 die „Lerchen" auf. Sehr schade! Denn Lassen ist ein Vollblutmusiker, der aus unscheinbaren Motiven mit feinem Griff etwas Apartes und Fesselndes zu macheu versteht, feurig empfindet und in natürlich fließenden Melodien sich zu äußern weiß. Das Genre, bei dem man ihn aufsuchen muß, sind fröhliche, leicht heitre Sachen. Diese weiß er mit einem Reichthum von hübschen Gedanken und mit jenem anmuthigen Ton vor¬ zutragen, welcher der französischen Romanze eigen ist. Es lebt in ihm etwas von dem Geiste Börcmgers. Die besten Lieder in dieser Richtung sind von ihm „Vöglein wohin so schnell". „Immer bei Dir", „Mein Alles Du" (letztre aus Opus 68) und „Du wandelst unter Blumen." Lassen gehört auch unter die wenigen Componisten, welche Coloraturlieder geschrieben haben, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf. Es sind darunter Lieder mit längern Melismen auf eine Silbe gemeint. Bei diesem Kunstmittel fing bekanntlich im Mittelalter die Musik nach ihrer kirchenobrigkeitlichen Hin¬ richtung wieder an, es mit dem Leben zu versuchen. In allen Vocalen Werken, namentlich den chorischen, die bis zum Anfang dieses Jahrhunderts geschrieben wurden, ist es stark gebraucht. Seit aber die Tendenz der Vvcalcomponisten sich mit besonderm Nachdruck der richtigen Wiedergabe des Wortes zugewendet hat, gilt es fast als verpönt. Man stutzt schon in neuen Liedern, wenn man einmal auf eine Silbe mehr als einen Ton verwendet sieht, so sehr haben sich die Componisten bereits das Melismiren und das Klingen beim Singen ab¬ gewöhnt. Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn man von einer solchen Ausnahme, wie wir sie bei Lassen treffen, besonders spricht. Auch Lassen macht von diesem Mittel nur unter besondern Umständen Gebrauch: wenn das Gedicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/38
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/38>, abgerufen am 25.11.2024.