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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Das deutsche Act seit Robert Schumann.
von Hermann Uretzschmar.

l e Bedeutung einer Kunstperiode wird durch die großen Talente
bestimmt und durch den Durchschnittswerth des Mittelgutes, Reich
beiden Beziehungen ist der Blick auf die Liederprvduetion der drei
letzten Jahrzehnte ein sehr erfreulicher. In dieser Zeit ist eine
große Anzahl von Meisterliederu geschrieben worden, an denen sich
noch die spätre Nachwelt erfreuen wird, und das Mittelgut zeigt eine edle künst¬
lerische Tendenz, welche es über die Durchschnittsleistungen der vorhergehenden
Periode erhebt. Man trifft zwar noch auf genug Menschlichkeiten. Hier singt
einer: "Wenn ich auf dem Lager liege," dort bringt einer durch seine Composition
in ein allerliebstes Gedicht: "Ich wollt', du könntest lesen--was mir im
Herzen liegt" eine minutenlange Confusion. Aber im allgemeinen gehören die
Sünden wider den Sinn eines Gedichtes zu den Seltenheiten. Wenn eiuer
vom "verwundeten Herzen" mit einer lustigen Wendung singt oder die Qualen
eines enttäuschten Liebhabers in einem fideler Walzer ausklagt, erregt er ziemlich
allgemeine" Anstoß. Das erkennt man dankbar als einen Fortschritt an, sobald
man zurückblickt auf die Lieblingsgesäuge einer Periode, wo Proch und Rcißiger
den Ton angaben, wo der "Blinde Geiger" und das "Alphorn" entstand.

Die Entwicklung des Liedes seit Schumann bezeichnet einen Sieg des Geistes
über die Form. Für die Componisten der Gegenwart handelt es sich nicht mehr
um Scholle, glatte Melodien um jeden Preis, sondern in erster Linie um richtige"
Ausdruck des Gedichtes, selbst auf Kosten der Form. Wir haben gegen früher
in den Melodien ein Minus an Symmetrie, aber eil? Plus an poetischer Kraft
aufzuweisen.

Mit einigem Rechte datiren wir diese Periode des Liedes von Schumann
ab. Er hat als Schriftsteller nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Musik
mehr als ein vergnügliches Ohreuspiel sein soll, und er hat als Componist darnach
gehandelt. Einzelne seiner Lieder gleichen Melodramen: Melodie und Musik
liegt im Clavier, statt des Gesanges setzt er eine Declamation hin. Es ist zum
Theil auf sein Beispiel zurückzuführen, daß -- um ein Jenu Paulsches Bild zu
brauchen -- in dem neuen Liede der Streckvers neben dem Reim (im lnusitalischeu
Sinne) aufgekommen ist. Doch haben auch andre Factoren mitgewirkt. Die
Wagnersche'Oper ist nicht der geringste. Wenigstens steht das moderne Lied
zu ihr in demselben Verwandtschaftsgrade wie die Wiener Lieder der vormärz-
lichen Zeit zur Rossinischcn und italienischen Oper. Das heutige Lied, sammt
der Wagnerschen Oper, lag aber in der Luft, natürlich in der dentschen Luft,


Grenzboten III. 1331. 4
Das deutsche Act seit Robert Schumann.
von Hermann Uretzschmar.

l e Bedeutung einer Kunstperiode wird durch die großen Talente
bestimmt und durch den Durchschnittswerth des Mittelgutes, Reich
beiden Beziehungen ist der Blick auf die Liederprvduetion der drei
letzten Jahrzehnte ein sehr erfreulicher. In dieser Zeit ist eine
große Anzahl von Meisterliederu geschrieben worden, an denen sich
noch die spätre Nachwelt erfreuen wird, und das Mittelgut zeigt eine edle künst¬
lerische Tendenz, welche es über die Durchschnittsleistungen der vorhergehenden
Periode erhebt. Man trifft zwar noch auf genug Menschlichkeiten. Hier singt
einer: „Wenn ich auf dem Lager liege," dort bringt einer durch seine Composition
in ein allerliebstes Gedicht: „Ich wollt', du könntest lesen--was mir im
Herzen liegt" eine minutenlange Confusion. Aber im allgemeinen gehören die
Sünden wider den Sinn eines Gedichtes zu den Seltenheiten. Wenn eiuer
vom „verwundeten Herzen" mit einer lustigen Wendung singt oder die Qualen
eines enttäuschten Liebhabers in einem fideler Walzer ausklagt, erregt er ziemlich
allgemeine» Anstoß. Das erkennt man dankbar als einen Fortschritt an, sobald
man zurückblickt auf die Lieblingsgesäuge einer Periode, wo Proch und Rcißiger
den Ton angaben, wo der „Blinde Geiger" und das „Alphorn" entstand.

Die Entwicklung des Liedes seit Schumann bezeichnet einen Sieg des Geistes
über die Form. Für die Componisten der Gegenwart handelt es sich nicht mehr
um Scholle, glatte Melodien um jeden Preis, sondern in erster Linie um richtige»
Ausdruck des Gedichtes, selbst auf Kosten der Form. Wir haben gegen früher
in den Melodien ein Minus an Symmetrie, aber eil? Plus an poetischer Kraft
aufzuweisen.

Mit einigem Rechte datiren wir diese Periode des Liedes von Schumann
ab. Er hat als Schriftsteller nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Musik
mehr als ein vergnügliches Ohreuspiel sein soll, und er hat als Componist darnach
gehandelt. Einzelne seiner Lieder gleichen Melodramen: Melodie und Musik
liegt im Clavier, statt des Gesanges setzt er eine Declamation hin. Es ist zum
Theil auf sein Beispiel zurückzuführen, daß — um ein Jenu Paulsches Bild zu
brauchen — in dem neuen Liede der Streckvers neben dem Reim (im lnusitalischeu
Sinne) aufgekommen ist. Doch haben auch andre Factoren mitgewirkt. Die
Wagnersche'Oper ist nicht der geringste. Wenigstens steht das moderne Lied
zu ihr in demselben Verwandtschaftsgrade wie die Wiener Lieder der vormärz-
lichen Zeit zur Rossinischcn und italienischen Oper. Das heutige Lied, sammt
der Wagnerschen Oper, lag aber in der Luft, natürlich in der dentschen Luft,


Grenzboten III. 1331. 4
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/33>, abgerufen am 24.11.2024.