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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Hermann Lotzes System der Philosophie.

festhalten können; er ist zu völliger Aufhebung der geschiedenen Existenz fortge¬
gangen. Hält er dagegen an der Realität der Zeit, also an der wirklichen
Geschiedenheit zeitlicher Momente fest, so dürfen wir sagen: Das Wirkliche ist
nach ihm einzig und allein der eigne geistige Lebensstrom des durch die Zeiten
hindurch ewig in sich selbst wirkenden Gottes.

Wir finden diesen wirkenden Gott als den Gott der Liebe, als den
ethischen Gott bezeichnet, in welchem die Idee des Guten das allein Wirkende
ist, sein wahrhaftes, innerstes Wesen ausmacht. Es ist nöthig, auch dieser Seite
der Lehre Lotzes bis zu ihrem schärfsten Ausdrucke zu folgen, obwohl die "Meta¬
physik" nur wenige Andeutungen dazu liefert. Wenn wir bei unsrer Darstellung
im Sinne hatten, zugleich die Richtung aufzuweisen, in welcher der Einfluß der
theistisch-idealistischen Philosophie Weißes zur Umwandlung und Ergänzung
der naturwissenschaftlich-atomistischen Grundlage geführt hat, so ist es offenbar
der gegenwärtig erreichte Punkt, an dem wir uns zum erstenmale direct mit
Lehren Weißes begegnen müssen. Für Herbart war der Gottesglaube über¬
haupt kein Gegenstand theoretischer Verarbeitung und kein Hilfsmittel theo¬
retischer Erkenntniß gewesen, welche letztere vielmehr dnrch die Grundbegriffe
eines mvnadologischen Pluralismus allein gedeckt werden sollte; bei Leibniz
schien es wesentlich anders zu sein, aber verabschiedete nicht auch er die schaffende
göttliche Monas sogleich wieder, nachdem er ans ihren Händen wohlgeordnet
die Welt der geschaffenen Monaden empfangen/ um diese dann für sich allein,
unabhängig, den Erklärungen des Weltlaufs zu Grunde zu legen? Der Theis¬
mus Weißes kannte weder Atome noch Monaden; der Schöpfungsact bestand
hier in dem Entlassen einer Gotteskraft aus dem Innern der göttlichen Ge¬
dankenwelt und in der Ncrselbständignng dieser Gotteskraft zu einem fast gcgen-
göttlichen, nur allmählich und schwer zu überwindenden materiellen UrPrincip,
dem die fortgesetzte göttliche Einwirkung immer höhere und höhere, geistigere
und gottähnlichere Schöpfungen abringe. Diese fortgehende göttliche Mitwir¬
kung hatte Lotze in seine monadvlogisch gedachten "Bcziehungspunkte" hinein-
zuleiten, und es war natürlich, daß sie bei der Dünne, Leerheit, Unselbständig¬
keit dieser Punkte zur ausschließlichen Wirkung ward, die alle geschöpfliche
Mitwirkung verschlang. Um so cntschiedner wurde an dem Grundgedanken
Weißes festgehalten, daß die Welt ihre letzte Erklärung nur durch den ethischen
Gehalt des Schöpferwillens empfängt, durch den zweckvollen Sinn, der alle
ihre einzelnen Elemente, Züge, Ereignisse dieser ethischen Urquelle entsprechend
zusammenfügt. Dies ist Kern und Stern der Lehre Lotzes geblieben von An¬
fang bis Ende. So wenig er den Sinn der Welt im einzelnen nach Gottes
ethischem Willen zu enträthseln sich getrauen kann, ja so sehr er diesen einzigen
Schlüssel des Weltdaseins anzurühren und handhaben zu wollen menschlichem
Witze als völlig aussichtslos widcrmthcn muß, so fest steht ihm doch dies, daß
nur dieser eine Schlüssel schließt. Wiederholt begegnen uns die unumwundensten


Hermann Lotzes System der Philosophie.

festhalten können; er ist zu völliger Aufhebung der geschiedenen Existenz fortge¬
gangen. Hält er dagegen an der Realität der Zeit, also an der wirklichen
Geschiedenheit zeitlicher Momente fest, so dürfen wir sagen: Das Wirkliche ist
nach ihm einzig und allein der eigne geistige Lebensstrom des durch die Zeiten
hindurch ewig in sich selbst wirkenden Gottes.

Wir finden diesen wirkenden Gott als den Gott der Liebe, als den
ethischen Gott bezeichnet, in welchem die Idee des Guten das allein Wirkende
ist, sein wahrhaftes, innerstes Wesen ausmacht. Es ist nöthig, auch dieser Seite
der Lehre Lotzes bis zu ihrem schärfsten Ausdrucke zu folgen, obwohl die „Meta¬
physik" nur wenige Andeutungen dazu liefert. Wenn wir bei unsrer Darstellung
im Sinne hatten, zugleich die Richtung aufzuweisen, in welcher der Einfluß der
theistisch-idealistischen Philosophie Weißes zur Umwandlung und Ergänzung
der naturwissenschaftlich-atomistischen Grundlage geführt hat, so ist es offenbar
der gegenwärtig erreichte Punkt, an dem wir uns zum erstenmale direct mit
Lehren Weißes begegnen müssen. Für Herbart war der Gottesglaube über¬
haupt kein Gegenstand theoretischer Verarbeitung und kein Hilfsmittel theo¬
retischer Erkenntniß gewesen, welche letztere vielmehr dnrch die Grundbegriffe
eines mvnadologischen Pluralismus allein gedeckt werden sollte; bei Leibniz
schien es wesentlich anders zu sein, aber verabschiedete nicht auch er die schaffende
göttliche Monas sogleich wieder, nachdem er ans ihren Händen wohlgeordnet
die Welt der geschaffenen Monaden empfangen/ um diese dann für sich allein,
unabhängig, den Erklärungen des Weltlaufs zu Grunde zu legen? Der Theis¬
mus Weißes kannte weder Atome noch Monaden; der Schöpfungsact bestand
hier in dem Entlassen einer Gotteskraft aus dem Innern der göttlichen Ge¬
dankenwelt und in der Ncrselbständignng dieser Gotteskraft zu einem fast gcgen-
göttlichen, nur allmählich und schwer zu überwindenden materiellen UrPrincip,
dem die fortgesetzte göttliche Einwirkung immer höhere und höhere, geistigere
und gottähnlichere Schöpfungen abringe. Diese fortgehende göttliche Mitwir¬
kung hatte Lotze in seine monadvlogisch gedachten „Bcziehungspunkte" hinein-
zuleiten, und es war natürlich, daß sie bei der Dünne, Leerheit, Unselbständig¬
keit dieser Punkte zur ausschließlichen Wirkung ward, die alle geschöpfliche
Mitwirkung verschlang. Um so cntschiedner wurde an dem Grundgedanken
Weißes festgehalten, daß die Welt ihre letzte Erklärung nur durch den ethischen
Gehalt des Schöpferwillens empfängt, durch den zweckvollen Sinn, der alle
ihre einzelnen Elemente, Züge, Ereignisse dieser ethischen Urquelle entsprechend
zusammenfügt. Dies ist Kern und Stern der Lehre Lotzes geblieben von An¬
fang bis Ende. So wenig er den Sinn der Welt im einzelnen nach Gottes
ethischem Willen zu enträthseln sich getrauen kann, ja so sehr er diesen einzigen
Schlüssel des Weltdaseins anzurühren und handhaben zu wollen menschlichem
Witze als völlig aussichtslos widcrmthcn muß, so fest steht ihm doch dies, daß
nur dieser eine Schlüssel schließt. Wiederholt begegnen uns die unumwundensten


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[0302] Hermann Lotzes System der Philosophie. festhalten können; er ist zu völliger Aufhebung der geschiedenen Existenz fortge¬ gangen. Hält er dagegen an der Realität der Zeit, also an der wirklichen Geschiedenheit zeitlicher Momente fest, so dürfen wir sagen: Das Wirkliche ist nach ihm einzig und allein der eigne geistige Lebensstrom des durch die Zeiten hindurch ewig in sich selbst wirkenden Gottes. Wir finden diesen wirkenden Gott als den Gott der Liebe, als den ethischen Gott bezeichnet, in welchem die Idee des Guten das allein Wirkende ist, sein wahrhaftes, innerstes Wesen ausmacht. Es ist nöthig, auch dieser Seite der Lehre Lotzes bis zu ihrem schärfsten Ausdrucke zu folgen, obwohl die „Meta¬ physik" nur wenige Andeutungen dazu liefert. Wenn wir bei unsrer Darstellung im Sinne hatten, zugleich die Richtung aufzuweisen, in welcher der Einfluß der theistisch-idealistischen Philosophie Weißes zur Umwandlung und Ergänzung der naturwissenschaftlich-atomistischen Grundlage geführt hat, so ist es offenbar der gegenwärtig erreichte Punkt, an dem wir uns zum erstenmale direct mit Lehren Weißes begegnen müssen. Für Herbart war der Gottesglaube über¬ haupt kein Gegenstand theoretischer Verarbeitung und kein Hilfsmittel theo¬ retischer Erkenntniß gewesen, welche letztere vielmehr dnrch die Grundbegriffe eines mvnadologischen Pluralismus allein gedeckt werden sollte; bei Leibniz schien es wesentlich anders zu sein, aber verabschiedete nicht auch er die schaffende göttliche Monas sogleich wieder, nachdem er ans ihren Händen wohlgeordnet die Welt der geschaffenen Monaden empfangen/ um diese dann für sich allein, unabhängig, den Erklärungen des Weltlaufs zu Grunde zu legen? Der Theis¬ mus Weißes kannte weder Atome noch Monaden; der Schöpfungsact bestand hier in dem Entlassen einer Gotteskraft aus dem Innern der göttlichen Ge¬ dankenwelt und in der Ncrselbständignng dieser Gotteskraft zu einem fast gcgen- göttlichen, nur allmählich und schwer zu überwindenden materiellen UrPrincip, dem die fortgesetzte göttliche Einwirkung immer höhere und höhere, geistigere und gottähnlichere Schöpfungen abringe. Diese fortgehende göttliche Mitwir¬ kung hatte Lotze in seine monadvlogisch gedachten „Bcziehungspunkte" hinein- zuleiten, und es war natürlich, daß sie bei der Dünne, Leerheit, Unselbständig¬ keit dieser Punkte zur ausschließlichen Wirkung ward, die alle geschöpfliche Mitwirkung verschlang. Um so cntschiedner wurde an dem Grundgedanken Weißes festgehalten, daß die Welt ihre letzte Erklärung nur durch den ethischen Gehalt des Schöpferwillens empfängt, durch den zweckvollen Sinn, der alle ihre einzelnen Elemente, Züge, Ereignisse dieser ethischen Urquelle entsprechend zusammenfügt. Dies ist Kern und Stern der Lehre Lotzes geblieben von An¬ fang bis Ende. So wenig er den Sinn der Welt im einzelnen nach Gottes ethischem Willen zu enträthseln sich getrauen kann, ja so sehr er diesen einzigen Schlüssel des Weltdaseins anzurühren und handhaben zu wollen menschlichem Witze als völlig aussichtslos widcrmthcn muß, so fest steht ihm doch dies, daß nur dieser eine Schlüssel schließt. Wiederholt begegnen uns die unumwundensten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/302>, abgerufen am 01.09.2024.