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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Zur Bildlmgs- und Machtfrage des deutschen Volkes,

klassische Land und das Musterbild alles parlamentarischen Lebens. Die Bewun¬
derung dieser insularischen Erbweisheit hat aber doch jetzt wohl ihren Höhepunkt
überschritten, und man fühlt, daß man zuletzt auf einer wahrhaftem und sicherer"
politischen Basis steht als dort. In Frankreich aber ist alles parlamentarische Leben
der Hauptsache nach nur Schein und ein Uebergnugszustand gewesen, um irgend
eine neue allein entscheidende und maßgebende Persönlichkeit an die Spitze zu
bringen. Alle die Phrasen von Volkssouveränität und parlamentarischem Selbst¬
regiment sind nicht imstande, die Wahrheit zu verdecken, daß doch zuletzt im
wesentlichen immer von oben herab regiert wird und daß namentlich da, wo
irgend etwas neues und entscheidendes geschehen soll, dieses nur durch eine
gegebne oberste Spitze und Autorität sich zu vollziehen pflegt. Es ist eine Art
von Dogma des gewöhnlichen Liberalisinus, daß aus dem hölzernen Kasten,
welchen man die Wahlurne nennt, dnrch eine geheimnißvolle Erleuchtung die
entscheidende Macht und Weisheit im politischen Leben in Gestalt der parla¬
mentarischen Majorität aus der Unmittelbarkeit des Volkswillens hervorgehen
solle. Diese ganze Rechnung aber beruht einem großen Theile nach auf ein¬
gebildeten Factoren oder auf falschen und doetrinciren Voraussetzungen über die
wirklichen Grundlagen alles politischen Lebens. Wäre es bei uns nach der strengen
constitutionellen oder parlamentarischen Theorie zugegangen, so stünden wir
heute noch ans demselben Standpunkte wie vor 1866. Das jetzige Beispiel
Oesterreichs zeigt uns, was unter Umständen alles aus einer parlamentarische"
Majorität werden und wie dieselbe zustande kommen kann. Auch in England
ist der verrottete Conservatismus einer herzlosen und egoistischen Aristokratie
unfähig, das Wort der Lösung fiir die Schäden der Gesellschaft und die
Sünden der frühern Zeit zu finden. Das Beispiel Belgiens allein kann nicht
ausreichen, um das Wahre und Beglückende jener Theorie für alle Zustände
der Völker zu documentiren. Das ist noch nicht das wahre und gesunde öffentliche
oder politische Leben, in dessen Strömung wir uns gegenwärtig befinden! Jede
unsrer Parteien steht auf einem einseitigen doctrinären oder utopischen Standpunkte
und kommt über dem Bann ihrer Phraseologie nicht dazu, die wahren, concreten
und praktischen Interessen des Vaterlandes richtig ins Auge zu fassen. Auch das
aber ist ein Erbfehler des Deutschen, immer nur seinen eignen Standpunkt und
seine eigne Ueberzeugung wahren zu wollen, während es sich draußen in der
Welt oft um Dinge handelt, die ganz außerhalb der Grenze einer jeden einzelnen
Lehrformel oder Parteidoetrin liegen. Alles was wir gegenwärtig sind, sind
wir wesentlich geworden durch die Initiative der Monarchie und eines gewissen
Kreises einsichtiger und entschlossucr Männer. Die ganze Grundlage unsers
politischen Lebens ist und bleibt einmal eine monarchische, und es ist eine Illusion
und eine Thorheit in dem quasirepublikanischen Apparat des Parlaments den eigent¬
lich entscheidenden Factor und Grundstein unsers ganzen Gemeinwesens erblicken
zu wollen. Wenn es irgend etwas populäres unter uns giebt, so ist es die


Zur Bildlmgs- und Machtfrage des deutschen Volkes,

klassische Land und das Musterbild alles parlamentarischen Lebens. Die Bewun¬
derung dieser insularischen Erbweisheit hat aber doch jetzt wohl ihren Höhepunkt
überschritten, und man fühlt, daß man zuletzt auf einer wahrhaftem und sicherer»
politischen Basis steht als dort. In Frankreich aber ist alles parlamentarische Leben
der Hauptsache nach nur Schein und ein Uebergnugszustand gewesen, um irgend
eine neue allein entscheidende und maßgebende Persönlichkeit an die Spitze zu
bringen. Alle die Phrasen von Volkssouveränität und parlamentarischem Selbst¬
regiment sind nicht imstande, die Wahrheit zu verdecken, daß doch zuletzt im
wesentlichen immer von oben herab regiert wird und daß namentlich da, wo
irgend etwas neues und entscheidendes geschehen soll, dieses nur durch eine
gegebne oberste Spitze und Autorität sich zu vollziehen pflegt. Es ist eine Art
von Dogma des gewöhnlichen Liberalisinus, daß aus dem hölzernen Kasten,
welchen man die Wahlurne nennt, dnrch eine geheimnißvolle Erleuchtung die
entscheidende Macht und Weisheit im politischen Leben in Gestalt der parla¬
mentarischen Majorität aus der Unmittelbarkeit des Volkswillens hervorgehen
solle. Diese ganze Rechnung aber beruht einem großen Theile nach auf ein¬
gebildeten Factoren oder auf falschen und doetrinciren Voraussetzungen über die
wirklichen Grundlagen alles politischen Lebens. Wäre es bei uns nach der strengen
constitutionellen oder parlamentarischen Theorie zugegangen, so stünden wir
heute noch ans demselben Standpunkte wie vor 1866. Das jetzige Beispiel
Oesterreichs zeigt uns, was unter Umständen alles aus einer parlamentarische»
Majorität werden und wie dieselbe zustande kommen kann. Auch in England
ist der verrottete Conservatismus einer herzlosen und egoistischen Aristokratie
unfähig, das Wort der Lösung fiir die Schäden der Gesellschaft und die
Sünden der frühern Zeit zu finden. Das Beispiel Belgiens allein kann nicht
ausreichen, um das Wahre und Beglückende jener Theorie für alle Zustände
der Völker zu documentiren. Das ist noch nicht das wahre und gesunde öffentliche
oder politische Leben, in dessen Strömung wir uns gegenwärtig befinden! Jede
unsrer Parteien steht auf einem einseitigen doctrinären oder utopischen Standpunkte
und kommt über dem Bann ihrer Phraseologie nicht dazu, die wahren, concreten
und praktischen Interessen des Vaterlandes richtig ins Auge zu fassen. Auch das
aber ist ein Erbfehler des Deutschen, immer nur seinen eignen Standpunkt und
seine eigne Ueberzeugung wahren zu wollen, während es sich draußen in der
Welt oft um Dinge handelt, die ganz außerhalb der Grenze einer jeden einzelnen
Lehrformel oder Parteidoetrin liegen. Alles was wir gegenwärtig sind, sind
wir wesentlich geworden durch die Initiative der Monarchie und eines gewissen
Kreises einsichtiger und entschlossucr Männer. Die ganze Grundlage unsers
politischen Lebens ist und bleibt einmal eine monarchische, und es ist eine Illusion
und eine Thorheit in dem quasirepublikanischen Apparat des Parlaments den eigent¬
lich entscheidenden Factor und Grundstein unsers ganzen Gemeinwesens erblicken
zu wollen. Wenn es irgend etwas populäres unter uns giebt, so ist es die


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[0023] Zur Bildlmgs- und Machtfrage des deutschen Volkes, klassische Land und das Musterbild alles parlamentarischen Lebens. Die Bewun¬ derung dieser insularischen Erbweisheit hat aber doch jetzt wohl ihren Höhepunkt überschritten, und man fühlt, daß man zuletzt auf einer wahrhaftem und sicherer» politischen Basis steht als dort. In Frankreich aber ist alles parlamentarische Leben der Hauptsache nach nur Schein und ein Uebergnugszustand gewesen, um irgend eine neue allein entscheidende und maßgebende Persönlichkeit an die Spitze zu bringen. Alle die Phrasen von Volkssouveränität und parlamentarischem Selbst¬ regiment sind nicht imstande, die Wahrheit zu verdecken, daß doch zuletzt im wesentlichen immer von oben herab regiert wird und daß namentlich da, wo irgend etwas neues und entscheidendes geschehen soll, dieses nur durch eine gegebne oberste Spitze und Autorität sich zu vollziehen pflegt. Es ist eine Art von Dogma des gewöhnlichen Liberalisinus, daß aus dem hölzernen Kasten, welchen man die Wahlurne nennt, dnrch eine geheimnißvolle Erleuchtung die entscheidende Macht und Weisheit im politischen Leben in Gestalt der parla¬ mentarischen Majorität aus der Unmittelbarkeit des Volkswillens hervorgehen solle. Diese ganze Rechnung aber beruht einem großen Theile nach auf ein¬ gebildeten Factoren oder auf falschen und doetrinciren Voraussetzungen über die wirklichen Grundlagen alles politischen Lebens. Wäre es bei uns nach der strengen constitutionellen oder parlamentarischen Theorie zugegangen, so stünden wir heute noch ans demselben Standpunkte wie vor 1866. Das jetzige Beispiel Oesterreichs zeigt uns, was unter Umständen alles aus einer parlamentarische» Majorität werden und wie dieselbe zustande kommen kann. Auch in England ist der verrottete Conservatismus einer herzlosen und egoistischen Aristokratie unfähig, das Wort der Lösung fiir die Schäden der Gesellschaft und die Sünden der frühern Zeit zu finden. Das Beispiel Belgiens allein kann nicht ausreichen, um das Wahre und Beglückende jener Theorie für alle Zustände der Völker zu documentiren. Das ist noch nicht das wahre und gesunde öffentliche oder politische Leben, in dessen Strömung wir uns gegenwärtig befinden! Jede unsrer Parteien steht auf einem einseitigen doctrinären oder utopischen Standpunkte und kommt über dem Bann ihrer Phraseologie nicht dazu, die wahren, concreten und praktischen Interessen des Vaterlandes richtig ins Auge zu fassen. Auch das aber ist ein Erbfehler des Deutschen, immer nur seinen eignen Standpunkt und seine eigne Ueberzeugung wahren zu wollen, während es sich draußen in der Welt oft um Dinge handelt, die ganz außerhalb der Grenze einer jeden einzelnen Lehrformel oder Parteidoetrin liegen. Alles was wir gegenwärtig sind, sind wir wesentlich geworden durch die Initiative der Monarchie und eines gewissen Kreises einsichtiger und entschlossucr Männer. Die ganze Grundlage unsers politischen Lebens ist und bleibt einmal eine monarchische, und es ist eine Illusion und eine Thorheit in dem quasirepublikanischen Apparat des Parlaments den eigent¬ lich entscheidenden Factor und Grundstein unsers ganzen Gemeinwesens erblicken zu wollen. Wenn es irgend etwas populäres unter uns giebt, so ist es die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/23>, abgerufen am 01.09.2024.