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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Alfred Meißner.

Partei zu vernehmen und wünschte sich auf ganz deutschem Boden niederzulassen.
Er wandte sich zunächst den Alpen zu und begann am Walchensee die Arbeit
an den "Kindern Roms." Im Frühjahr 1869 reiste er an den Genfersee, be¬
suchte Bregenz und brachte den Entschluß zur Reife, sich für weitere Zeit dort
niederzulassen. Er hatte in der Tochter des Majors von Begg ein Herz ge¬
funden, das ihm, in treuer Liebe zugethan, das schönste Familienleben versprach.
Der Frühling 1870 ward zu einer Reise nach Italien benutzt, Florenz, Rom,
Neapel besucht. Als Meißner zurückkehrte, fand er den Druck seiner "Kinder
Roms" vollendet, aber die Wirkung dieses in culturhistorischer Hinsicht so viel
Spannendes bietenden Werkes wurde durch die Ungunst der Zeit beeinträchtigt.
Unmittelbar nach dem Erscheinen desselben brach der deutsch-französische Krieg
aus, die Ereignisse ließen kein Interesse für literarische Erscheinungen aufkommen.

Die "Kinder Roms" führen in das josephinische Zeitalter. Der Kampf
Josephs II. mit der Geistlichkeit bildet den Hintergrund des Gemäldes; doch
greift er nicht in den Mittelpunkt der Handlung, er beeinflußt uur hier und
dort die Geschicke des Helden, des kaiserlichen Raths Eberstein und der Ex¬
Novize Marcelline, was vielleicht ein Fehler in der Komposition ist. Die Fabel
ist übrigens die verwickeltste, spannendste, die Meißner je einem seiner Romane
zu Grunde gelegt. An die Aufhebung des großen und reichen Nonnenklosters
in dem kleinen nordböhmischen Orte Doxcm, mit welcher die Geschichte beginnt,
knüpft sich die Liebe Ebensteins und Marcellinens, das Verhängniß des Grafen
Radlitz, der Haß der Kinder Roms gegen den Kaiser und seine Anhänger. Alle
Verwicklungen und Entwirrungen der Erzählungen, ihre einzelnen Vorfälle,
endlich die Katastrophe ist an dies Ereigniß gebunden, nie verlieren wir es aus
den Augen, alle Fäden führen dahin. Das erste Gesetz der epischen Dichtung,
daß sie sich sowohl vor- wie rückwärts bewege, sowohl in die Zukunft wie in
die Vergangenheit strebe, ist hier in glücklichster Weise durchgeführt. Die Charak¬
tere sind höchst mannigfaltig; einzelne, wie der düstere Graf Radlitz, welcher
durch eine That des Jähzorns zugleich seinen Gewissensbissen und der Geistlichkeit
anheimgefallen ist, der verschlagene Abenteurer Pagomas, in dem die wunderlich
phantastische Seite des Zeitalters zum Ausdruck kommt, die schöne, leidenschaftliche
Adrienne sind bis in die kleinsten Züge ausgearbeitet; aber Eberstein und Mar¬
celline interessiren mehr durch ihr Geschick und die Verfolgungen, welche sie
erdulden, als durch ihr Wesen. An die Spitze der Kinder Roms hat Meißner
den Pater Bonaventura gestellt, eine Gestalt voll lebendigster Anschaulichkeit,
kühn im Angriff, unermüdlich und standhaft in der Vertheidigung, dabei ein
echter Lebemann im Sinne der Mönche des Boccaccio, dem nach unsrer Empfin¬
dung zu der Führerrolle allzusehr die unerläßliche Würde fehlt. Ueberhaupt
nimmt der Autor, gegenüber der katholischen Geistlichkeit, zu sehr den Stand¬
punkt Voltaires ein; an und in den Kindern Roms soll alles nur Lüge, Heuchelei,
Eigennutz und Herrschsucht sein, keine edlere Empfindung soll sie beseelen. Er


Alfred Meißner.

Partei zu vernehmen und wünschte sich auf ganz deutschem Boden niederzulassen.
Er wandte sich zunächst den Alpen zu und begann am Walchensee die Arbeit
an den „Kindern Roms." Im Frühjahr 1869 reiste er an den Genfersee, be¬
suchte Bregenz und brachte den Entschluß zur Reife, sich für weitere Zeit dort
niederzulassen. Er hatte in der Tochter des Majors von Begg ein Herz ge¬
funden, das ihm, in treuer Liebe zugethan, das schönste Familienleben versprach.
Der Frühling 1870 ward zu einer Reise nach Italien benutzt, Florenz, Rom,
Neapel besucht. Als Meißner zurückkehrte, fand er den Druck seiner „Kinder
Roms" vollendet, aber die Wirkung dieses in culturhistorischer Hinsicht so viel
Spannendes bietenden Werkes wurde durch die Ungunst der Zeit beeinträchtigt.
Unmittelbar nach dem Erscheinen desselben brach der deutsch-französische Krieg
aus, die Ereignisse ließen kein Interesse für literarische Erscheinungen aufkommen.

Die „Kinder Roms" führen in das josephinische Zeitalter. Der Kampf
Josephs II. mit der Geistlichkeit bildet den Hintergrund des Gemäldes; doch
greift er nicht in den Mittelpunkt der Handlung, er beeinflußt uur hier und
dort die Geschicke des Helden, des kaiserlichen Raths Eberstein und der Ex¬
Novize Marcelline, was vielleicht ein Fehler in der Komposition ist. Die Fabel
ist übrigens die verwickeltste, spannendste, die Meißner je einem seiner Romane
zu Grunde gelegt. An die Aufhebung des großen und reichen Nonnenklosters
in dem kleinen nordböhmischen Orte Doxcm, mit welcher die Geschichte beginnt,
knüpft sich die Liebe Ebensteins und Marcellinens, das Verhängniß des Grafen
Radlitz, der Haß der Kinder Roms gegen den Kaiser und seine Anhänger. Alle
Verwicklungen und Entwirrungen der Erzählungen, ihre einzelnen Vorfälle,
endlich die Katastrophe ist an dies Ereigniß gebunden, nie verlieren wir es aus
den Augen, alle Fäden führen dahin. Das erste Gesetz der epischen Dichtung,
daß sie sich sowohl vor- wie rückwärts bewege, sowohl in die Zukunft wie in
die Vergangenheit strebe, ist hier in glücklichster Weise durchgeführt. Die Charak¬
tere sind höchst mannigfaltig; einzelne, wie der düstere Graf Radlitz, welcher
durch eine That des Jähzorns zugleich seinen Gewissensbissen und der Geistlichkeit
anheimgefallen ist, der verschlagene Abenteurer Pagomas, in dem die wunderlich
phantastische Seite des Zeitalters zum Ausdruck kommt, die schöne, leidenschaftliche
Adrienne sind bis in die kleinsten Züge ausgearbeitet; aber Eberstein und Mar¬
celline interessiren mehr durch ihr Geschick und die Verfolgungen, welche sie
erdulden, als durch ihr Wesen. An die Spitze der Kinder Roms hat Meißner
den Pater Bonaventura gestellt, eine Gestalt voll lebendigster Anschaulichkeit,
kühn im Angriff, unermüdlich und standhaft in der Vertheidigung, dabei ein
echter Lebemann im Sinne der Mönche des Boccaccio, dem nach unsrer Empfin¬
dung zu der Führerrolle allzusehr die unerläßliche Würde fehlt. Ueberhaupt
nimmt der Autor, gegenüber der katholischen Geistlichkeit, zu sehr den Stand¬
punkt Voltaires ein; an und in den Kindern Roms soll alles nur Lüge, Heuchelei,
Eigennutz und Herrschsucht sein, keine edlere Empfindung soll sie beseelen. Er


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[0216] Alfred Meißner. Partei zu vernehmen und wünschte sich auf ganz deutschem Boden niederzulassen. Er wandte sich zunächst den Alpen zu und begann am Walchensee die Arbeit an den „Kindern Roms." Im Frühjahr 1869 reiste er an den Genfersee, be¬ suchte Bregenz und brachte den Entschluß zur Reife, sich für weitere Zeit dort niederzulassen. Er hatte in der Tochter des Majors von Begg ein Herz ge¬ funden, das ihm, in treuer Liebe zugethan, das schönste Familienleben versprach. Der Frühling 1870 ward zu einer Reise nach Italien benutzt, Florenz, Rom, Neapel besucht. Als Meißner zurückkehrte, fand er den Druck seiner „Kinder Roms" vollendet, aber die Wirkung dieses in culturhistorischer Hinsicht so viel Spannendes bietenden Werkes wurde durch die Ungunst der Zeit beeinträchtigt. Unmittelbar nach dem Erscheinen desselben brach der deutsch-französische Krieg aus, die Ereignisse ließen kein Interesse für literarische Erscheinungen aufkommen. Die „Kinder Roms" führen in das josephinische Zeitalter. Der Kampf Josephs II. mit der Geistlichkeit bildet den Hintergrund des Gemäldes; doch greift er nicht in den Mittelpunkt der Handlung, er beeinflußt uur hier und dort die Geschicke des Helden, des kaiserlichen Raths Eberstein und der Ex¬ Novize Marcelline, was vielleicht ein Fehler in der Komposition ist. Die Fabel ist übrigens die verwickeltste, spannendste, die Meißner je einem seiner Romane zu Grunde gelegt. An die Aufhebung des großen und reichen Nonnenklosters in dem kleinen nordböhmischen Orte Doxcm, mit welcher die Geschichte beginnt, knüpft sich die Liebe Ebensteins und Marcellinens, das Verhängniß des Grafen Radlitz, der Haß der Kinder Roms gegen den Kaiser und seine Anhänger. Alle Verwicklungen und Entwirrungen der Erzählungen, ihre einzelnen Vorfälle, endlich die Katastrophe ist an dies Ereigniß gebunden, nie verlieren wir es aus den Augen, alle Fäden führen dahin. Das erste Gesetz der epischen Dichtung, daß sie sich sowohl vor- wie rückwärts bewege, sowohl in die Zukunft wie in die Vergangenheit strebe, ist hier in glücklichster Weise durchgeführt. Die Charak¬ tere sind höchst mannigfaltig; einzelne, wie der düstere Graf Radlitz, welcher durch eine That des Jähzorns zugleich seinen Gewissensbissen und der Geistlichkeit anheimgefallen ist, der verschlagene Abenteurer Pagomas, in dem die wunderlich phantastische Seite des Zeitalters zum Ausdruck kommt, die schöne, leidenschaftliche Adrienne sind bis in die kleinsten Züge ausgearbeitet; aber Eberstein und Mar¬ celline interessiren mehr durch ihr Geschick und die Verfolgungen, welche sie erdulden, als durch ihr Wesen. An die Spitze der Kinder Roms hat Meißner den Pater Bonaventura gestellt, eine Gestalt voll lebendigster Anschaulichkeit, kühn im Angriff, unermüdlich und standhaft in der Vertheidigung, dabei ein echter Lebemann im Sinne der Mönche des Boccaccio, dem nach unsrer Empfin¬ dung zu der Führerrolle allzusehr die unerläßliche Würde fehlt. Ueberhaupt nimmt der Autor, gegenüber der katholischen Geistlichkeit, zu sehr den Stand¬ punkt Voltaires ein; an und in den Kindern Roms soll alles nur Lüge, Heuchelei, Eigennutz und Herrschsucht sein, keine edlere Empfindung soll sie beseelen. Er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/216>, abgerufen am 01.09.2024.