Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.Zur Bildungs- und Machtfrage des doutscheu Volkes. Phantasie des kindlichen und des jugendlichen Alters aber ist ohnedies fort¬ Zur Bildungs- und Machtfrage des doutscheu Volkes. Phantasie des kindlichen und des jugendlichen Alters aber ist ohnedies fort¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150171"/> <fw type="header" place="top"> Zur Bildungs- und Machtfrage des doutscheu Volkes.</fw><lb/> <p xml:id="ID_38" prev="#ID_37" next="#ID_39"> Phantasie des kindlichen und des jugendlichen Alters aber ist ohnedies fort¬<lb/> während geschäftig und bedarf zu ihrer weitern Förderung und Anregung immer<lb/> nur weniger und einfacher Mittel oder Stoffe. Das Geringste aber, was sich<lb/> der menschliche Geist durch eigne Selbstthätigkeit erwirbt, hat mehr wahr¬<lb/> haften Werth für ihn als alles, was ihm mechanisch und gewaltsam von<lb/> außen her zugeführt wird. Wir sind vollkommen von jenen frühern idealen<lb/> Anschauungen über die menschliche Natur abgefallen und haben es verlernt,<lb/> im Menschen eine eigenthümliche, sich selbständig entwickelnde Triebkraft zu achten<lb/> und anzuerkennen. Es ist schwer, gegen das jetzt herrschende System anzu¬<lb/> kämpfen, weil alle Welt überfließt von Phrasen in der Tonart jenes Wagner<lb/> und über den siegenden Schulmeister von Sedan. Die ganze stramme Zucht<lb/> des preußischen Staates ist ja von einem schlechthin unschätzbaren Werth; aber<lb/> die Disciplin der Geister wird immer eine andre sein müssen als die beim<lb/> Militär und in der Bureaukratie. Dort handelt es sich nicht bloß darum, den<lb/> einzelnen Menschen auf einen bestimmten allgemeinen Typus der Ausbildung<lb/> und Leistungsfähigkeit zu erheben, sondern namentlich und vielmehr darum, ihn<lb/> in seiner ganz besondern Eigenart an allgemeinen Bildungsmitteln sich soweit<lb/> möglich entwickeln zu lassen. Wir bestreiten nicht die Tüchtigkeit und den guten<lb/> Willen des Lehrerstandes und seiner vorgesetzten Autoritäten, aber das System<lb/> als solches ist überspannt und beruht auf falschen Voraussetzungen über die<lb/> Fähigkeit und die Bedürfnisse und Zwecke der menschlichen Natur. Es ist jede<lb/> Zeit befangen in gewissen Vorurtheilen und Irrthümern; die Neigung zur mecha¬<lb/> nischen Bildungs- und Wissensdressur wird man in Zukunft als eine be¬<lb/> zeichnende Krankheitserscheinung der gegenwärtigen Epoche in das Buch der Ge¬<lb/> schichte einzutragen haben. Die wahre innere Rohheit des Menschen wird durch<lb/> alle angelernte Wissenschaft nicht überwunden, und es kann auch die Kunst des<lb/> Lesens und Schreibens oder der sogenannte Alphabetismus keineswegs allein<lb/> zum Maßstab der wahren Bildungshöhe eines Volkes genommen werden. Alles<lb/> unverstandne und halbe Wissen aber bringt nur Confusion, Dünkel und Unsicher¬<lb/> heit in den Geistern hervor. Die Wissenschaft, als ein gelehrtes Handwerk ge¬<lb/> nommen, muß sich mit allen möglichen Dingen und Einzelheiten beschäftigen; so<lb/> wie aber jeder Handwerker nur fertige und wahrhaft brauchbare Waare auf den<lb/> Markt bringt, so muß auch bei den Producten der Wissenschaft überall gefragt<lb/> werden, wie sie zu den Zwecken der Bildung wahrhaft angewandt und nutzbar<lb/> gemacht werden können. Bei uns aber trägt sich der Handwerksstand der ge¬<lb/> lehrten Studirstube viel zu sehr auch in das allgemeine oder öffentliche Leben<lb/> über. Nicht alles, was an sich wahr, richtig oder gut ist, hat deswegen auch<lb/> einen Werth oder eine Bedeutung für das praktische Lebe». Das wahrhaft bil¬<lb/> dende für den Geist aber sind immer nur die idealen Vorstellungen und An¬<lb/> schauungen, welche durch die einzelnen Wissensgebiete in ihm hervorgerufen und<lb/> angeregt werden sollen. Der ganze gegenwärtige Bildungsmechanismus aber</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0021]
Zur Bildungs- und Machtfrage des doutscheu Volkes.
Phantasie des kindlichen und des jugendlichen Alters aber ist ohnedies fort¬
während geschäftig und bedarf zu ihrer weitern Förderung und Anregung immer
nur weniger und einfacher Mittel oder Stoffe. Das Geringste aber, was sich
der menschliche Geist durch eigne Selbstthätigkeit erwirbt, hat mehr wahr¬
haften Werth für ihn als alles, was ihm mechanisch und gewaltsam von
außen her zugeführt wird. Wir sind vollkommen von jenen frühern idealen
Anschauungen über die menschliche Natur abgefallen und haben es verlernt,
im Menschen eine eigenthümliche, sich selbständig entwickelnde Triebkraft zu achten
und anzuerkennen. Es ist schwer, gegen das jetzt herrschende System anzu¬
kämpfen, weil alle Welt überfließt von Phrasen in der Tonart jenes Wagner
und über den siegenden Schulmeister von Sedan. Die ganze stramme Zucht
des preußischen Staates ist ja von einem schlechthin unschätzbaren Werth; aber
die Disciplin der Geister wird immer eine andre sein müssen als die beim
Militär und in der Bureaukratie. Dort handelt es sich nicht bloß darum, den
einzelnen Menschen auf einen bestimmten allgemeinen Typus der Ausbildung
und Leistungsfähigkeit zu erheben, sondern namentlich und vielmehr darum, ihn
in seiner ganz besondern Eigenart an allgemeinen Bildungsmitteln sich soweit
möglich entwickeln zu lassen. Wir bestreiten nicht die Tüchtigkeit und den guten
Willen des Lehrerstandes und seiner vorgesetzten Autoritäten, aber das System
als solches ist überspannt und beruht auf falschen Voraussetzungen über die
Fähigkeit und die Bedürfnisse und Zwecke der menschlichen Natur. Es ist jede
Zeit befangen in gewissen Vorurtheilen und Irrthümern; die Neigung zur mecha¬
nischen Bildungs- und Wissensdressur wird man in Zukunft als eine be¬
zeichnende Krankheitserscheinung der gegenwärtigen Epoche in das Buch der Ge¬
schichte einzutragen haben. Die wahre innere Rohheit des Menschen wird durch
alle angelernte Wissenschaft nicht überwunden, und es kann auch die Kunst des
Lesens und Schreibens oder der sogenannte Alphabetismus keineswegs allein
zum Maßstab der wahren Bildungshöhe eines Volkes genommen werden. Alles
unverstandne und halbe Wissen aber bringt nur Confusion, Dünkel und Unsicher¬
heit in den Geistern hervor. Die Wissenschaft, als ein gelehrtes Handwerk ge¬
nommen, muß sich mit allen möglichen Dingen und Einzelheiten beschäftigen; so
wie aber jeder Handwerker nur fertige und wahrhaft brauchbare Waare auf den
Markt bringt, so muß auch bei den Producten der Wissenschaft überall gefragt
werden, wie sie zu den Zwecken der Bildung wahrhaft angewandt und nutzbar
gemacht werden können. Bei uns aber trägt sich der Handwerksstand der ge¬
lehrten Studirstube viel zu sehr auch in das allgemeine oder öffentliche Leben
über. Nicht alles, was an sich wahr, richtig oder gut ist, hat deswegen auch
einen Werth oder eine Bedeutung für das praktische Lebe». Das wahrhaft bil¬
dende für den Geist aber sind immer nur die idealen Vorstellungen und An¬
schauungen, welche durch die einzelnen Wissensgebiete in ihm hervorgerufen und
angeregt werden sollen. Der ganze gegenwärtige Bildungsmechanismus aber
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