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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Zur Bildung?- und Miichtfrage dos deutschen Volkes.

in Zweifel und Streit, während dort daran überhaupt nichts wesentliches mehr
geändert werden kann und in gewissen entscheidenden Hauptfragen zuletzt alle
Engländer und Franzosen mehr einstimmig unter einander sind als wir Deutschen.
Namentlich dem Auslande gegenüber stehen alle Engländer und Franzosen noch
weit mehr sür einen Mann als wir. Wir haben immer noch zu viel unsers
frühern allgemeinen idealen Humanismus und universalistischen Kosmopolitismus
an uns, um uns vollkommen in die Rolle eines nur auf sich allein beruhenden
und zunächst bloß an seine eignen Interessen gebundnen politisch-nationalen Ge¬
meinwesens hineingefunden zu haben. Daher auch die falsche Sympathie und
Zärtlichkeit mit gewisse" uns fernstehenden und selbst feindlich gesinnten Na¬
tionen, das vaterlcmdslvse Hinüberblicken nach Rom und andre Reste einer frühern
Zeit, in der wir nur in einem allgemeinen Culturideale lebten und keinen feste"
Boden eines heimischen Vaterlandes unter uns hatten. Der Deutsche hat über¬
haupt ein Interesse an allen möglichen nationale" und sonstigen historischen
Kuriositäten, ohne immer nach dem wahrhafte" Werthe und der lebendigen Be-
deutung derselben für ihn selbst zu fragen. Er entnativnalisirt sich darum auch
leicht und geht als ein bloßes Element in irgend einem andern Menschen- oder
Völkertypns auf. Dieses gilt namentlich von den gebildetem Klassen, während
z. B. der Bauernstand im Elsaß der Französirung einen zähen Widerstand ent¬
gegengestellt hat. Es fehlt noch an einer vollkommen festen und entschiednen
Durchbildung des nationalen Charakters bei uns. Alle andern Elemente und
Mittel der Bildung aber haben zuletzt nur in ihrer Beziehung auf den Cha¬
rakter der Nation ihren wahrhaften Zweck oder Werth. Auch hier leben wir
noch viel zu sehr in allgemeinen und unverstandnen Idealen und verwechseln
zu häufig dasjenige, was bloß Mittel sein kann, mit dem wahrhaften hierdurch
zu erreichenden Zweck. Die Phrase von dem Schulmeister, der bei Königgrätz
und sedem gesiegt haben soll, beweist noch gar nicht, daß der ganze Zustand
unsrer Bildung den wahrhaften praktischen Aufgaben oder den weitern Bedürf¬
nissen der Machtstellung der Nation entspreche. Wenn man den Werth unsrer
Bildungsanstalten nur nach dem beurtheilen will, was alles auf ihnen gelernt
wird, so sind wir hierin freilich unbedingt allen andern Nationen überlegen.
Es ist ja unglaublich, was der Mensch alles lernen kann, wenn rechtzeitig hiermit
angefangen wird und ihm der Reihe nach eine Menge der heterogensten Bil-
diingsstosfe zugeführt werden. Es geht immer noch etwas hinein, hört man
unsre Gymnasialdirectoren und Schulräthe sagen. Man hat sich einen Typus
des gebildeten Deutschen als eines Allerweltvielwissers erschaffen, zu dem jeder
nach seiner besondern Lebensstufe so weit als möglich emporgehoben werden soll.
Ein auf die Universität abgehender Gymnasiast ist jetzt eine allgemeine Jdeal-
und Realencyklopädie, welche bereits Proben beinahe aller möglichen Wissens¬
gebiete in sich aufgenommen hat. Auf der Universität aber nimmt das Viel¬
wisser erst recht seinen Anfang. Daß Vielwisser gleichbedeutend ist mit Halbwissen,


Zur Bildung?- und Miichtfrage dos deutschen Volkes.

in Zweifel und Streit, während dort daran überhaupt nichts wesentliches mehr
geändert werden kann und in gewissen entscheidenden Hauptfragen zuletzt alle
Engländer und Franzosen mehr einstimmig unter einander sind als wir Deutschen.
Namentlich dem Auslande gegenüber stehen alle Engländer und Franzosen noch
weit mehr sür einen Mann als wir. Wir haben immer noch zu viel unsers
frühern allgemeinen idealen Humanismus und universalistischen Kosmopolitismus
an uns, um uns vollkommen in die Rolle eines nur auf sich allein beruhenden
und zunächst bloß an seine eignen Interessen gebundnen politisch-nationalen Ge¬
meinwesens hineingefunden zu haben. Daher auch die falsche Sympathie und
Zärtlichkeit mit gewisse» uns fernstehenden und selbst feindlich gesinnten Na¬
tionen, das vaterlcmdslvse Hinüberblicken nach Rom und andre Reste einer frühern
Zeit, in der wir nur in einem allgemeinen Culturideale lebten und keinen feste»
Boden eines heimischen Vaterlandes unter uns hatten. Der Deutsche hat über¬
haupt ein Interesse an allen möglichen nationale» und sonstigen historischen
Kuriositäten, ohne immer nach dem wahrhafte» Werthe und der lebendigen Be-
deutung derselben für ihn selbst zu fragen. Er entnativnalisirt sich darum auch
leicht und geht als ein bloßes Element in irgend einem andern Menschen- oder
Völkertypns auf. Dieses gilt namentlich von den gebildetem Klassen, während
z. B. der Bauernstand im Elsaß der Französirung einen zähen Widerstand ent¬
gegengestellt hat. Es fehlt noch an einer vollkommen festen und entschiednen
Durchbildung des nationalen Charakters bei uns. Alle andern Elemente und
Mittel der Bildung aber haben zuletzt nur in ihrer Beziehung auf den Cha¬
rakter der Nation ihren wahrhaften Zweck oder Werth. Auch hier leben wir
noch viel zu sehr in allgemeinen und unverstandnen Idealen und verwechseln
zu häufig dasjenige, was bloß Mittel sein kann, mit dem wahrhaften hierdurch
zu erreichenden Zweck. Die Phrase von dem Schulmeister, der bei Königgrätz
und sedem gesiegt haben soll, beweist noch gar nicht, daß der ganze Zustand
unsrer Bildung den wahrhaften praktischen Aufgaben oder den weitern Bedürf¬
nissen der Machtstellung der Nation entspreche. Wenn man den Werth unsrer
Bildungsanstalten nur nach dem beurtheilen will, was alles auf ihnen gelernt
wird, so sind wir hierin freilich unbedingt allen andern Nationen überlegen.
Es ist ja unglaublich, was der Mensch alles lernen kann, wenn rechtzeitig hiermit
angefangen wird und ihm der Reihe nach eine Menge der heterogensten Bil-
diingsstosfe zugeführt werden. Es geht immer noch etwas hinein, hört man
unsre Gymnasialdirectoren und Schulräthe sagen. Man hat sich einen Typus
des gebildeten Deutschen als eines Allerweltvielwissers erschaffen, zu dem jeder
nach seiner besondern Lebensstufe so weit als möglich emporgehoben werden soll.
Ein auf die Universität abgehender Gymnasiast ist jetzt eine allgemeine Jdeal-
und Realencyklopädie, welche bereits Proben beinahe aller möglichen Wissens¬
gebiete in sich aufgenommen hat. Auf der Universität aber nimmt das Viel¬
wisser erst recht seinen Anfang. Daß Vielwisser gleichbedeutend ist mit Halbwissen,


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[0019] Zur Bildung?- und Miichtfrage dos deutschen Volkes. in Zweifel und Streit, während dort daran überhaupt nichts wesentliches mehr geändert werden kann und in gewissen entscheidenden Hauptfragen zuletzt alle Engländer und Franzosen mehr einstimmig unter einander sind als wir Deutschen. Namentlich dem Auslande gegenüber stehen alle Engländer und Franzosen noch weit mehr sür einen Mann als wir. Wir haben immer noch zu viel unsers frühern allgemeinen idealen Humanismus und universalistischen Kosmopolitismus an uns, um uns vollkommen in die Rolle eines nur auf sich allein beruhenden und zunächst bloß an seine eignen Interessen gebundnen politisch-nationalen Ge¬ meinwesens hineingefunden zu haben. Daher auch die falsche Sympathie und Zärtlichkeit mit gewisse» uns fernstehenden und selbst feindlich gesinnten Na¬ tionen, das vaterlcmdslvse Hinüberblicken nach Rom und andre Reste einer frühern Zeit, in der wir nur in einem allgemeinen Culturideale lebten und keinen feste» Boden eines heimischen Vaterlandes unter uns hatten. Der Deutsche hat über¬ haupt ein Interesse an allen möglichen nationale» und sonstigen historischen Kuriositäten, ohne immer nach dem wahrhafte» Werthe und der lebendigen Be- deutung derselben für ihn selbst zu fragen. Er entnativnalisirt sich darum auch leicht und geht als ein bloßes Element in irgend einem andern Menschen- oder Völkertypns auf. Dieses gilt namentlich von den gebildetem Klassen, während z. B. der Bauernstand im Elsaß der Französirung einen zähen Widerstand ent¬ gegengestellt hat. Es fehlt noch an einer vollkommen festen und entschiednen Durchbildung des nationalen Charakters bei uns. Alle andern Elemente und Mittel der Bildung aber haben zuletzt nur in ihrer Beziehung auf den Cha¬ rakter der Nation ihren wahrhaften Zweck oder Werth. Auch hier leben wir noch viel zu sehr in allgemeinen und unverstandnen Idealen und verwechseln zu häufig dasjenige, was bloß Mittel sein kann, mit dem wahrhaften hierdurch zu erreichenden Zweck. Die Phrase von dem Schulmeister, der bei Königgrätz und sedem gesiegt haben soll, beweist noch gar nicht, daß der ganze Zustand unsrer Bildung den wahrhaften praktischen Aufgaben oder den weitern Bedürf¬ nissen der Machtstellung der Nation entspreche. Wenn man den Werth unsrer Bildungsanstalten nur nach dem beurtheilen will, was alles auf ihnen gelernt wird, so sind wir hierin freilich unbedingt allen andern Nationen überlegen. Es ist ja unglaublich, was der Mensch alles lernen kann, wenn rechtzeitig hiermit angefangen wird und ihm der Reihe nach eine Menge der heterogensten Bil- diingsstosfe zugeführt werden. Es geht immer noch etwas hinein, hört man unsre Gymnasialdirectoren und Schulräthe sagen. Man hat sich einen Typus des gebildeten Deutschen als eines Allerweltvielwissers erschaffen, zu dem jeder nach seiner besondern Lebensstufe so weit als möglich emporgehoben werden soll. Ein auf die Universität abgehender Gymnasiast ist jetzt eine allgemeine Jdeal- und Realencyklopädie, welche bereits Proben beinahe aller möglichen Wissens¬ gebiete in sich aufgenommen hat. Auf der Universität aber nimmt das Viel¬ wisser erst recht seinen Anfang. Daß Vielwisser gleichbedeutend ist mit Halbwissen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/19>, abgerufen am 01.09.2024.