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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Alfred Meißner.

wie Dichter, allen politischen und socialen Entwicklungskämpfen seines engeren
wie seines weiterei? Vaterlandes beigesellt, hat er an allen Bestrebungen und
Zielen seiner Zeitgenossen und seines Volkes theilgenommen, andrerseits aber
sich die Unmittelbarkeit zu bewahren gewußt, die ihn heute noch befähigt, die
lyrischen Töne seiner Jugend anzuschlagen. Wenn er heute, am Räude der Fünfzig
stehend, auf sein Leben zurückblickt, wird er wohl manche Enttäuschung zu ver¬
zeichnen, hie und da den Abstand des Gewollten vom Erreichten einzugestehen
haben, aber andrerseits muß man von ihm sagen, daß der Gedankenstrom in ihm
nie gestockt, daß er, mit formenreicher Schöpferkraft ausgestattet, Werke geschaffen,
die auch noch nach Beendigung seines Tagewerkes leben werden und daß man
ihn dereinst nicht bloß zu den bedeutendsten Schriftstellern, sondern anch zu den
Führern der Gesammtbildung in seinem Vaterlande zählen wird.

Es war um die Mitte der Vierziger Jahre, als Alfred Meißner mit dem
ersten Bändchen seiner Gedichte hervortrat. Sie erregten Aufsehen. Die Zeit
war noch von der Julirevolution her in Bewegung. Am Horizonte hatten die
Schriften des jungen Europas und Bornes Briefe gcwetterleuchtet. Das war
abgethan und durch ein weit ernster und mächtiger aufsteigendes Gewitter ver¬
drängt. Man wollte sich aus einem erstickenden Zwange befreien. Eine tiefe
Unzufriedenheit mit dem Bestehenden war eingerissen. Man prüfte, kritisirte,
negirte alle alten Satzungen. Nepubliccmische Ideale stiegen auf; neue Staaten¬
bildungen, neue Gesellschaftsformen wurden angestrebt.

Meißner hatte das alles im Gemüthe durchgemacht und miterlebt; seine
Jugendjahre waren im rastlosen Suchen und Forschen auf allen Gebieten ver¬
gangen. Ein wohlwollendes Schicksal hatte ihn in Prag in einen Kreis mehr
oder minder reifer Talente geführt, die von einem ähnlichen Streben erfüllt
waren; unter ihnen sind besonders Moritz Hartmann und der einige Jahre
jüngere Josef Bayer zu nennen. Das Schauspiel führte ihn in die Dichtkunst
ein, die Erörterung philosophischer, politischer und socialer Fragen, die Besprechung
poetischer Schöpfungen war bei diesen Freunde" nu der Tagesordnung. Man
begeisterte sich an Lenau und Grün, an Byron und Shelley. Kam Meißner
dann in den Ferien nach Karlsbad, wo seine Eltern lebten, so bot wieder das
bunte Leben mit so vielen interessanten Figuren Nahrung für seine Phantasie,
daß er nicht zu sehr ins Abstracte verfalle. Er wurde mit den Sitten und
Charakteren fremder Länder, mit der Gesellschaft höherer Stände bekannt.

Die Sprache und Literatur Englands war Meißner ebenso geläufig, wie
die Sprache und Literatur des alten und jungen Deutschlands. Er las alles
mögliche, altes und neues. Novellen, Balladen, lyrische Gedichte entstanden im
Wettstreite mit den Freunden, theilweise unter Beeinträchtigung der ernsten
Studien. Allmählich zerfiel der gesellige Bund, mehrere seiner Mitglieder zogen
nach Wien, Hartmann wurde Erzieher in einem Wiener Baulierhause. Meißner
begann das medicinische Studium.


Alfred Meißner.

wie Dichter, allen politischen und socialen Entwicklungskämpfen seines engeren
wie seines weiterei? Vaterlandes beigesellt, hat er an allen Bestrebungen und
Zielen seiner Zeitgenossen und seines Volkes theilgenommen, andrerseits aber
sich die Unmittelbarkeit zu bewahren gewußt, die ihn heute noch befähigt, die
lyrischen Töne seiner Jugend anzuschlagen. Wenn er heute, am Räude der Fünfzig
stehend, auf sein Leben zurückblickt, wird er wohl manche Enttäuschung zu ver¬
zeichnen, hie und da den Abstand des Gewollten vom Erreichten einzugestehen
haben, aber andrerseits muß man von ihm sagen, daß der Gedankenstrom in ihm
nie gestockt, daß er, mit formenreicher Schöpferkraft ausgestattet, Werke geschaffen,
die auch noch nach Beendigung seines Tagewerkes leben werden und daß man
ihn dereinst nicht bloß zu den bedeutendsten Schriftstellern, sondern anch zu den
Führern der Gesammtbildung in seinem Vaterlande zählen wird.

Es war um die Mitte der Vierziger Jahre, als Alfred Meißner mit dem
ersten Bändchen seiner Gedichte hervortrat. Sie erregten Aufsehen. Die Zeit
war noch von der Julirevolution her in Bewegung. Am Horizonte hatten die
Schriften des jungen Europas und Bornes Briefe gcwetterleuchtet. Das war
abgethan und durch ein weit ernster und mächtiger aufsteigendes Gewitter ver¬
drängt. Man wollte sich aus einem erstickenden Zwange befreien. Eine tiefe
Unzufriedenheit mit dem Bestehenden war eingerissen. Man prüfte, kritisirte,
negirte alle alten Satzungen. Nepubliccmische Ideale stiegen auf; neue Staaten¬
bildungen, neue Gesellschaftsformen wurden angestrebt.

Meißner hatte das alles im Gemüthe durchgemacht und miterlebt; seine
Jugendjahre waren im rastlosen Suchen und Forschen auf allen Gebieten ver¬
gangen. Ein wohlwollendes Schicksal hatte ihn in Prag in einen Kreis mehr
oder minder reifer Talente geführt, die von einem ähnlichen Streben erfüllt
waren; unter ihnen sind besonders Moritz Hartmann und der einige Jahre
jüngere Josef Bayer zu nennen. Das Schauspiel führte ihn in die Dichtkunst
ein, die Erörterung philosophischer, politischer und socialer Fragen, die Besprechung
poetischer Schöpfungen war bei diesen Freunde» nu der Tagesordnung. Man
begeisterte sich an Lenau und Grün, an Byron und Shelley. Kam Meißner
dann in den Ferien nach Karlsbad, wo seine Eltern lebten, so bot wieder das
bunte Leben mit so vielen interessanten Figuren Nahrung für seine Phantasie,
daß er nicht zu sehr ins Abstracte verfalle. Er wurde mit den Sitten und
Charakteren fremder Länder, mit der Gesellschaft höherer Stände bekannt.

Die Sprache und Literatur Englands war Meißner ebenso geläufig, wie
die Sprache und Literatur des alten und jungen Deutschlands. Er las alles
mögliche, altes und neues. Novellen, Balladen, lyrische Gedichte entstanden im
Wettstreite mit den Freunden, theilweise unter Beeinträchtigung der ernsten
Studien. Allmählich zerfiel der gesellige Bund, mehrere seiner Mitglieder zogen
nach Wien, Hartmann wurde Erzieher in einem Wiener Baulierhause. Meißner
begann das medicinische Studium.


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[0164] Alfred Meißner. wie Dichter, allen politischen und socialen Entwicklungskämpfen seines engeren wie seines weiterei? Vaterlandes beigesellt, hat er an allen Bestrebungen und Zielen seiner Zeitgenossen und seines Volkes theilgenommen, andrerseits aber sich die Unmittelbarkeit zu bewahren gewußt, die ihn heute noch befähigt, die lyrischen Töne seiner Jugend anzuschlagen. Wenn er heute, am Räude der Fünfzig stehend, auf sein Leben zurückblickt, wird er wohl manche Enttäuschung zu ver¬ zeichnen, hie und da den Abstand des Gewollten vom Erreichten einzugestehen haben, aber andrerseits muß man von ihm sagen, daß der Gedankenstrom in ihm nie gestockt, daß er, mit formenreicher Schöpferkraft ausgestattet, Werke geschaffen, die auch noch nach Beendigung seines Tagewerkes leben werden und daß man ihn dereinst nicht bloß zu den bedeutendsten Schriftstellern, sondern anch zu den Führern der Gesammtbildung in seinem Vaterlande zählen wird. Es war um die Mitte der Vierziger Jahre, als Alfred Meißner mit dem ersten Bändchen seiner Gedichte hervortrat. Sie erregten Aufsehen. Die Zeit war noch von der Julirevolution her in Bewegung. Am Horizonte hatten die Schriften des jungen Europas und Bornes Briefe gcwetterleuchtet. Das war abgethan und durch ein weit ernster und mächtiger aufsteigendes Gewitter ver¬ drängt. Man wollte sich aus einem erstickenden Zwange befreien. Eine tiefe Unzufriedenheit mit dem Bestehenden war eingerissen. Man prüfte, kritisirte, negirte alle alten Satzungen. Nepubliccmische Ideale stiegen auf; neue Staaten¬ bildungen, neue Gesellschaftsformen wurden angestrebt. Meißner hatte das alles im Gemüthe durchgemacht und miterlebt; seine Jugendjahre waren im rastlosen Suchen und Forschen auf allen Gebieten ver¬ gangen. Ein wohlwollendes Schicksal hatte ihn in Prag in einen Kreis mehr oder minder reifer Talente geführt, die von einem ähnlichen Streben erfüllt waren; unter ihnen sind besonders Moritz Hartmann und der einige Jahre jüngere Josef Bayer zu nennen. Das Schauspiel führte ihn in die Dichtkunst ein, die Erörterung philosophischer, politischer und socialer Fragen, die Besprechung poetischer Schöpfungen war bei diesen Freunde» nu der Tagesordnung. Man begeisterte sich an Lenau und Grün, an Byron und Shelley. Kam Meißner dann in den Ferien nach Karlsbad, wo seine Eltern lebten, so bot wieder das bunte Leben mit so vielen interessanten Figuren Nahrung für seine Phantasie, daß er nicht zu sehr ins Abstracte verfalle. Er wurde mit den Sitten und Charakteren fremder Länder, mit der Gesellschaft höherer Stände bekannt. Die Sprache und Literatur Englands war Meißner ebenso geläufig, wie die Sprache und Literatur des alten und jungen Deutschlands. Er las alles mögliche, altes und neues. Novellen, Balladen, lyrische Gedichte entstanden im Wettstreite mit den Freunden, theilweise unter Beeinträchtigung der ernsten Studien. Allmählich zerfiel der gesellige Bund, mehrere seiner Mitglieder zogen nach Wien, Hartmann wurde Erzieher in einem Wiener Baulierhause. Meißner begann das medicinische Studium.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/164>, abgerufen am 01.09.2024.