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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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Sominermärchen,

Seite trägt, ist längst geleert. Sehnsüchtig schweifen seine Augen über die wallenden
Achrenfelder, aber nirgends ragt ein einladendes Dach über die Flur, nur hie
und da ein Obstbaum und in weiter, bläulicher Ferne die Mauern und Thürme
der Stadt, nach der er wandert. Wie die Mittagszeit da ist, denkt er an seine
letzte Rast in der Güldnen Rose und nu den kühlen Trunk, der dort aus eichenen
Faßgebinde rann. Da seufzt er, drückt sich den Hut in die Stirn, daß der Rand
seine sonnengeblendeten Augen beschattet, und schreitet weiter. Als er wieder
so weit gegangen, wie eines kräftigen Mannes Stimme reicht, hemmt er erstaunt
seinen Fuß, denn dicht vor ihm liegen Häuser, umringt von Baumgärten und
überragt von der durchbrochnen Spitze eines Kirchthurms, Der Wandrer reibt
sich die Augen. "Wie war es möglich, das Dorf zu übersehen?" fragt er sich.
"Das macht der Sonnenglast, der mich geblendet hat." Er beschleunigt seine
Schritte und kommt nun -- in das märchenhafte "stille Dorf." Diese Einführung
ist vortrefflich gelungen. Der Leser meint ganz sicher, es handle sich um ein
wirkliches Dorf, und er ist in der Sphäre des Märchens gefangen, ehe er sichs
versieht.

So glücklich ist die Verbindung zwischen beiden Sphären freilich nicht immer
hergestellt. Ein paarmal greift Baumbach zu dem verbrauchten Motiv des Traums.
Aber verbraucht oder nicht -- wenn der Beginn des Traums gehörig verschleiert
ist, wird das Mittel immer seinen Reiz haben. Vom "Goldbaum" kann man das
nicht sagen. Wenn vor zwei Knaben, die an einem heißen Sommertage bei ihren
Aufgaben sitzen -- der eine brütet über dem Cornelius Nepos, der andre zieht
Kubikwurzeln aus -- plötzlich, nachdem ganz natnralistisch geschildert ist, was
für Allotria die beiden zwischen der Arbeit treiben, ein grünes Reis aus dem
Tintenfasse emporwächst, bis an die Decke steigt, die Decke schließlich verschwindet
und die Jungen beide im Walde stehen, so ist das doch, als wenn zwei Farben-
streifen unvermittelt aneinander gesetzt würden. Aehnlich ist es, wenn in dem
Märchen "Schleierweiß", das abgesehen von der etwas unheimlichen Gestalt des
Jägerbnrschen, welcher so wunderbare Treffer thut, ziemlich lange auf ganz
realistischem Boden bleibt, plötzlich die Ziege Schleierweiß zu der armen, wegen
der zudringlichen Werbung des Jägerbnrschen geängsteten Försterstvchter zu
reden anfängt. Was aber von dem Uebergange aus der Novelle ins Märchen
gilt, das gilt auch von dem Verkehr zwischen den realistischen und den Märchen¬
figuren untereinander. Hier liegt die Gefahr nahe, daß die Menschen aufhören
zu handeln und zu bloßen Werkzeugen in der Hand der Fabelwesen werden.
Baumbach hat auch diese Gefahr in den meisten Fällen glücklich vermieden; in
einer Geschichte wie "Ranunculus" aber erscheinen die beiden Liebenden, der
Magister und die Müllerstochter, doch nur als Marionetten in der Hand des
Wiescngeistes; ihr Rendezvous ist sein Arrangement.

Eine Schwäche der meisten Kunstmärcheu ist der Mangel einer Pointe.
Das echte Volksmärchen hat stets eine Pointe. Im Kunstmärchen läßt sich der


Sominermärchen,

Seite trägt, ist längst geleert. Sehnsüchtig schweifen seine Augen über die wallenden
Achrenfelder, aber nirgends ragt ein einladendes Dach über die Flur, nur hie
und da ein Obstbaum und in weiter, bläulicher Ferne die Mauern und Thürme
der Stadt, nach der er wandert. Wie die Mittagszeit da ist, denkt er an seine
letzte Rast in der Güldnen Rose und nu den kühlen Trunk, der dort aus eichenen
Faßgebinde rann. Da seufzt er, drückt sich den Hut in die Stirn, daß der Rand
seine sonnengeblendeten Augen beschattet, und schreitet weiter. Als er wieder
so weit gegangen, wie eines kräftigen Mannes Stimme reicht, hemmt er erstaunt
seinen Fuß, denn dicht vor ihm liegen Häuser, umringt von Baumgärten und
überragt von der durchbrochnen Spitze eines Kirchthurms, Der Wandrer reibt
sich die Augen. „Wie war es möglich, das Dorf zu übersehen?" fragt er sich.
„Das macht der Sonnenglast, der mich geblendet hat." Er beschleunigt seine
Schritte und kommt nun — in das märchenhafte „stille Dorf." Diese Einführung
ist vortrefflich gelungen. Der Leser meint ganz sicher, es handle sich um ein
wirkliches Dorf, und er ist in der Sphäre des Märchens gefangen, ehe er sichs
versieht.

So glücklich ist die Verbindung zwischen beiden Sphären freilich nicht immer
hergestellt. Ein paarmal greift Baumbach zu dem verbrauchten Motiv des Traums.
Aber verbraucht oder nicht — wenn der Beginn des Traums gehörig verschleiert
ist, wird das Mittel immer seinen Reiz haben. Vom „Goldbaum" kann man das
nicht sagen. Wenn vor zwei Knaben, die an einem heißen Sommertage bei ihren
Aufgaben sitzen — der eine brütet über dem Cornelius Nepos, der andre zieht
Kubikwurzeln aus — plötzlich, nachdem ganz natnralistisch geschildert ist, was
für Allotria die beiden zwischen der Arbeit treiben, ein grünes Reis aus dem
Tintenfasse emporwächst, bis an die Decke steigt, die Decke schließlich verschwindet
und die Jungen beide im Walde stehen, so ist das doch, als wenn zwei Farben-
streifen unvermittelt aneinander gesetzt würden. Aehnlich ist es, wenn in dem
Märchen „Schleierweiß", das abgesehen von der etwas unheimlichen Gestalt des
Jägerbnrschen, welcher so wunderbare Treffer thut, ziemlich lange auf ganz
realistischem Boden bleibt, plötzlich die Ziege Schleierweiß zu der armen, wegen
der zudringlichen Werbung des Jägerbnrschen geängsteten Försterstvchter zu
reden anfängt. Was aber von dem Uebergange aus der Novelle ins Märchen
gilt, das gilt auch von dem Verkehr zwischen den realistischen und den Märchen¬
figuren untereinander. Hier liegt die Gefahr nahe, daß die Menschen aufhören
zu handeln und zu bloßen Werkzeugen in der Hand der Fabelwesen werden.
Baumbach hat auch diese Gefahr in den meisten Fällen glücklich vermieden; in
einer Geschichte wie „Ranunculus" aber erscheinen die beiden Liebenden, der
Magister und die Müllerstochter, doch nur als Marionetten in der Hand des
Wiescngeistes; ihr Rendezvous ist sein Arrangement.

Eine Schwäche der meisten Kunstmärcheu ist der Mangel einer Pointe.
Das echte Volksmärchen hat stets eine Pointe. Im Kunstmärchen läßt sich der


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[0126] Sominermärchen, Seite trägt, ist längst geleert. Sehnsüchtig schweifen seine Augen über die wallenden Achrenfelder, aber nirgends ragt ein einladendes Dach über die Flur, nur hie und da ein Obstbaum und in weiter, bläulicher Ferne die Mauern und Thürme der Stadt, nach der er wandert. Wie die Mittagszeit da ist, denkt er an seine letzte Rast in der Güldnen Rose und nu den kühlen Trunk, der dort aus eichenen Faßgebinde rann. Da seufzt er, drückt sich den Hut in die Stirn, daß der Rand seine sonnengeblendeten Augen beschattet, und schreitet weiter. Als er wieder so weit gegangen, wie eines kräftigen Mannes Stimme reicht, hemmt er erstaunt seinen Fuß, denn dicht vor ihm liegen Häuser, umringt von Baumgärten und überragt von der durchbrochnen Spitze eines Kirchthurms, Der Wandrer reibt sich die Augen. „Wie war es möglich, das Dorf zu übersehen?" fragt er sich. „Das macht der Sonnenglast, der mich geblendet hat." Er beschleunigt seine Schritte und kommt nun — in das märchenhafte „stille Dorf." Diese Einführung ist vortrefflich gelungen. Der Leser meint ganz sicher, es handle sich um ein wirkliches Dorf, und er ist in der Sphäre des Märchens gefangen, ehe er sichs versieht. So glücklich ist die Verbindung zwischen beiden Sphären freilich nicht immer hergestellt. Ein paarmal greift Baumbach zu dem verbrauchten Motiv des Traums. Aber verbraucht oder nicht — wenn der Beginn des Traums gehörig verschleiert ist, wird das Mittel immer seinen Reiz haben. Vom „Goldbaum" kann man das nicht sagen. Wenn vor zwei Knaben, die an einem heißen Sommertage bei ihren Aufgaben sitzen — der eine brütet über dem Cornelius Nepos, der andre zieht Kubikwurzeln aus — plötzlich, nachdem ganz natnralistisch geschildert ist, was für Allotria die beiden zwischen der Arbeit treiben, ein grünes Reis aus dem Tintenfasse emporwächst, bis an die Decke steigt, die Decke schließlich verschwindet und die Jungen beide im Walde stehen, so ist das doch, als wenn zwei Farben- streifen unvermittelt aneinander gesetzt würden. Aehnlich ist es, wenn in dem Märchen „Schleierweiß", das abgesehen von der etwas unheimlichen Gestalt des Jägerbnrschen, welcher so wunderbare Treffer thut, ziemlich lange auf ganz realistischem Boden bleibt, plötzlich die Ziege Schleierweiß zu der armen, wegen der zudringlichen Werbung des Jägerbnrschen geängsteten Försterstvchter zu reden anfängt. Was aber von dem Uebergange aus der Novelle ins Märchen gilt, das gilt auch von dem Verkehr zwischen den realistischen und den Märchen¬ figuren untereinander. Hier liegt die Gefahr nahe, daß die Menschen aufhören zu handeln und zu bloßen Werkzeugen in der Hand der Fabelwesen werden. Baumbach hat auch diese Gefahr in den meisten Fällen glücklich vermieden; in einer Geschichte wie „Ranunculus" aber erscheinen die beiden Liebenden, der Magister und die Müllerstochter, doch nur als Marionetten in der Hand des Wiescngeistes; ihr Rendezvous ist sein Arrangement. Eine Schwäche der meisten Kunstmärcheu ist der Mangel einer Pointe. Das echte Volksmärchen hat stets eine Pointe. Im Kunstmärchen läßt sich der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/126>, abgerufen am 01.09.2024.