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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Politische Briefe.

Welche Mittel giebt es, die natürlichen Gegner des Entwurfs umzustimmen
oder -- unschädlich zu machen? Den Zaghaften kann man nicht anders Muth ein¬
flößen als durch das Beispiel; diese Gegner zu gewinnen, muß man zuvor die ener¬
gischen Gegner gewonnen haben. Der Widerstand des Particularismus in dieser
Frage wird wohl nur durch die Regierungen selbst zu brechen sein. Den Regierunge"
wird zu Gemüthe geführt werden müssen, und hoffentlich wird diese Vorstellung
Eingang finden, daß sie die Wurzel ihres eignen Bestandes untergraben, wenn
sie das Reich, nachdem sie es zugelassen, aus übel angebrachter Sorge um die
partienlaristischcn Existenzen an der Erfüllung derjenigen Aufgaben hindern wollen,
welche nur das Reich in die Hand nehmen kann und welche für den Fortbestand
der Nation unumgänglich sind. Wenn die Regierungen vom Bundesrathstisch
aus einmüthig und nachdrücklich für die Vorlage eintreten, wird der Widerstand
des Particularismus im Reichstag wohl sich geben. Mit der Widerstandskraft
der Großindustrie hat es nicht zu viel ans sich, was keiner Darlegung bedarf.
Die wirksamen Gegner der Vorlage sind die Freihändler. Ihre Einwände sind
zweifacher Art. Dieselben richten sich gegen das Gefährliche der Vorlage und
gegen das Vergebliche. Anscheinend ist dies ein Widerspruch, der sich aber so
ausglicht, daß der Grundgedanke des Entwurfs für gefährlich erklärt wird, weil
er zu immer weiter sich verzweigenden Experimenten bedenklicher Art zu führen
geeignet sei, daß man aber die Einzelbcstimmnngen des gegenwärtigen Entwurfs
für solche erklärt, deren praktische Undurchführbarkcit sich sehr bald zeigen müsse.

Die individualistische Wirthschaftötheorie, deren Charakter darin besteht, die
menschheitliche Wirthschaft aus der individuellen Initiative allein aufzubauen mit
der Schränke, daß die individuelle Freiheit sich niemals principiell beschränken
darf; und zweitens darin, daß der Wirthschaftszweck für den höchsten Zweck der
Menschheit überhaupt erklärt wird, der zu Gunsten andrer sittlicher Zwecke wo¬
möglich garnicht oder nur im geringsten Maße beschränkt werden darf -- diese
Theorie also hat zwar neuerdings überraschend schnell an Einfluß und Geltung
bei uns verloren. Viele bekennen sich zum Schutzzoll oder erklären, in der
Wirthschaftspolitik sich nicht von allgemeinen Sätzen, sondern von der Erfahrung
leiten zu lassen u. s. w. Nichtsdestoweniger ist damit nur die principielle Unter¬
werfung unter die individualistische Wirthschaftstheorie aufgegeben, im ganzen
und großen wird die Anschauung volkswirthschaftlicher Dinge nach wie vor durch
diese Theorie beherrscht. Und wie könnte es auch anders sein? Eine folgerichtige,
keineswegs bloß auf einem wissenschaftlichen Schulgebäude, sondern auf einer
langen socialen Entwicklung beruhende Theorie wird nicht an einem Tage ge¬
stürzt und ist nicht schon damit gestürzt, daß sie aufgehört hat, für ein unan¬
fechtbares Dogma zu gelten. Erst wenn eine Reihe entgegenstehender Thatsachen


Politische Briefe.

Welche Mittel giebt es, die natürlichen Gegner des Entwurfs umzustimmen
oder — unschädlich zu machen? Den Zaghaften kann man nicht anders Muth ein¬
flößen als durch das Beispiel; diese Gegner zu gewinnen, muß man zuvor die ener¬
gischen Gegner gewonnen haben. Der Widerstand des Particularismus in dieser
Frage wird wohl nur durch die Regierungen selbst zu brechen sein. Den Regierunge»
wird zu Gemüthe geführt werden müssen, und hoffentlich wird diese Vorstellung
Eingang finden, daß sie die Wurzel ihres eignen Bestandes untergraben, wenn
sie das Reich, nachdem sie es zugelassen, aus übel angebrachter Sorge um die
partienlaristischcn Existenzen an der Erfüllung derjenigen Aufgaben hindern wollen,
welche nur das Reich in die Hand nehmen kann und welche für den Fortbestand
der Nation unumgänglich sind. Wenn die Regierungen vom Bundesrathstisch
aus einmüthig und nachdrücklich für die Vorlage eintreten, wird der Widerstand
des Particularismus im Reichstag wohl sich geben. Mit der Widerstandskraft
der Großindustrie hat es nicht zu viel ans sich, was keiner Darlegung bedarf.
Die wirksamen Gegner der Vorlage sind die Freihändler. Ihre Einwände sind
zweifacher Art. Dieselben richten sich gegen das Gefährliche der Vorlage und
gegen das Vergebliche. Anscheinend ist dies ein Widerspruch, der sich aber so
ausglicht, daß der Grundgedanke des Entwurfs für gefährlich erklärt wird, weil
er zu immer weiter sich verzweigenden Experimenten bedenklicher Art zu führen
geeignet sei, daß man aber die Einzelbcstimmnngen des gegenwärtigen Entwurfs
für solche erklärt, deren praktische Undurchführbarkcit sich sehr bald zeigen müsse.

Die individualistische Wirthschaftötheorie, deren Charakter darin besteht, die
menschheitliche Wirthschaft aus der individuellen Initiative allein aufzubauen mit
der Schränke, daß die individuelle Freiheit sich niemals principiell beschränken
darf; und zweitens darin, daß der Wirthschaftszweck für den höchsten Zweck der
Menschheit überhaupt erklärt wird, der zu Gunsten andrer sittlicher Zwecke wo¬
möglich garnicht oder nur im geringsten Maße beschränkt werden darf — diese
Theorie also hat zwar neuerdings überraschend schnell an Einfluß und Geltung
bei uns verloren. Viele bekennen sich zum Schutzzoll oder erklären, in der
Wirthschaftspolitik sich nicht von allgemeinen Sätzen, sondern von der Erfahrung
leiten zu lassen u. s. w. Nichtsdestoweniger ist damit nur die principielle Unter¬
werfung unter die individualistische Wirthschaftstheorie aufgegeben, im ganzen
und großen wird die Anschauung volkswirthschaftlicher Dinge nach wie vor durch
diese Theorie beherrscht. Und wie könnte es auch anders sein? Eine folgerichtige,
keineswegs bloß auf einem wissenschaftlichen Schulgebäude, sondern auf einer
langen socialen Entwicklung beruhende Theorie wird nicht an einem Tage ge¬
stürzt und ist nicht schon damit gestürzt, daß sie aufgehört hat, für ein unan¬
fechtbares Dogma zu gelten. Erst wenn eine Reihe entgegenstehender Thatsachen


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[0095] Politische Briefe. Welche Mittel giebt es, die natürlichen Gegner des Entwurfs umzustimmen oder — unschädlich zu machen? Den Zaghaften kann man nicht anders Muth ein¬ flößen als durch das Beispiel; diese Gegner zu gewinnen, muß man zuvor die ener¬ gischen Gegner gewonnen haben. Der Widerstand des Particularismus in dieser Frage wird wohl nur durch die Regierungen selbst zu brechen sein. Den Regierunge» wird zu Gemüthe geführt werden müssen, und hoffentlich wird diese Vorstellung Eingang finden, daß sie die Wurzel ihres eignen Bestandes untergraben, wenn sie das Reich, nachdem sie es zugelassen, aus übel angebrachter Sorge um die partienlaristischcn Existenzen an der Erfüllung derjenigen Aufgaben hindern wollen, welche nur das Reich in die Hand nehmen kann und welche für den Fortbestand der Nation unumgänglich sind. Wenn die Regierungen vom Bundesrathstisch aus einmüthig und nachdrücklich für die Vorlage eintreten, wird der Widerstand des Particularismus im Reichstag wohl sich geben. Mit der Widerstandskraft der Großindustrie hat es nicht zu viel ans sich, was keiner Darlegung bedarf. Die wirksamen Gegner der Vorlage sind die Freihändler. Ihre Einwände sind zweifacher Art. Dieselben richten sich gegen das Gefährliche der Vorlage und gegen das Vergebliche. Anscheinend ist dies ein Widerspruch, der sich aber so ausglicht, daß der Grundgedanke des Entwurfs für gefährlich erklärt wird, weil er zu immer weiter sich verzweigenden Experimenten bedenklicher Art zu führen geeignet sei, daß man aber die Einzelbcstimmnngen des gegenwärtigen Entwurfs für solche erklärt, deren praktische Undurchführbarkcit sich sehr bald zeigen müsse. Die individualistische Wirthschaftötheorie, deren Charakter darin besteht, die menschheitliche Wirthschaft aus der individuellen Initiative allein aufzubauen mit der Schränke, daß die individuelle Freiheit sich niemals principiell beschränken darf; und zweitens darin, daß der Wirthschaftszweck für den höchsten Zweck der Menschheit überhaupt erklärt wird, der zu Gunsten andrer sittlicher Zwecke wo¬ möglich garnicht oder nur im geringsten Maße beschränkt werden darf — diese Theorie also hat zwar neuerdings überraschend schnell an Einfluß und Geltung bei uns verloren. Viele bekennen sich zum Schutzzoll oder erklären, in der Wirthschaftspolitik sich nicht von allgemeinen Sätzen, sondern von der Erfahrung leiten zu lassen u. s. w. Nichtsdestoweniger ist damit nur die principielle Unter¬ werfung unter die individualistische Wirthschaftstheorie aufgegeben, im ganzen und großen wird die Anschauung volkswirthschaftlicher Dinge nach wie vor durch diese Theorie beherrscht. Und wie könnte es auch anders sein? Eine folgerichtige, keineswegs bloß auf einem wissenschaftlichen Schulgebäude, sondern auf einer langen socialen Entwicklung beruhende Theorie wird nicht an einem Tage ge¬ stürzt und ist nicht schon damit gestürzt, daß sie aufgehört hat, für ein unan¬ fechtbares Dogma zu gelten. Erst wenn eine Reihe entgegenstehender Thatsachen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/95>, abgerufen am 23.07.2024.