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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Zum Jubiläum eines Buches.

geradezu der Unehrlichkeit ziehen, die ihn beschuldigten, er habe jene Resultate
seiner praktischen Philosophie nur deshalb aufgestellt, um mit der Polizei nicht
in Conflict zu gerathen, während seine wirkliche Ueberzeugung einzig und allein
in seinem Hauptwerke, der "Kritik der reinen Verminst", niedergelegt sei. Auch
ganz abgesehen von Knuts Charakter, den seine Reinheit vor solchen Verläum-
dungen unter allen Umständen schlitzen sollte, verrathen solche Aeußerungen nicht
gerade ein sehr tiefes Eindringen ihrer Urheber in den Geist der Kantischen
Philosophie. Wer diese Philosophie mir einigermaßen ernst studirt hat, dem
kann der enge Zusammenhang zwischen Kants theoretischer und praktischer Lehre
unmöglich entgehen. Seine theoretische Philosophie fordert geradezu seine praktische
als ihre nothwendige Ergänzung, in der sie sich erst vollendet. Zu den Nega¬
tionen, mit welchen jene abschließt, enthält diese die Positionen, und beide zu¬
sammen enthalten erst Kants vollständige Lehre, während jede ohne die andre
nur ein Bruchstück wäre. "Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben
Platz zu bekommen," sagt Kant in der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner
"Kritik der reinen Vernunft", und er bezeichnet es damit selbst als einen Zweck
dieses Werkes, dnrch seine Negationen Raum zu schaffen zum Aufbau einer posi¬
tiven, einer ethischen Weltauffassung.

Man hat seit einigen Jahren, nicht selten mit übertriebner Geringschätzung
der nachkantischcn Leistungen, von den verschiedensten Seiten den Ruf ertönen
lassen, eS müsse auf Kant zurückgegangen, an ihn direct wieder angeknüpft werden,
wenn die Philosophie zu neuem Leben erstarken solle. Und es ist wahr, der
Eifer, mit dem sich seit dieser Zeit die philosophische Forschung ans Kant warf,
hat nicht wenig zum Verständniß seiner Lehre beigetragen und der heutigen Philo¬
sophie manchen Impuls gegeben, der hoffentlich nicht ohne Früchte bleiben wird.
Aber dieser Eifer hat sich hauptsächlich Kants Erkenntnißtheorie zugewandt, während
seine Ethik uuverdientcrmaßm ziemlich vernachlässigt wurde. Und doch verdiente
es diese nicht weniger, daß man ans sie wieder znrückgiuge und in dem Wirrsal
der ethischen Meinungen an ihr sich wieder orientirte. Wenn man erwägt, was
heute alles unter der Flagge der Ethik segelt, wie vor allem Egoismus und
Eudämonismus, die doch, sollte man denken, Kant für immer ans ihr verbannt
hat, in ihr sich wieder breitmachen und Bürgerrecht verlangen, dann muß man
von Herzen wünschen, es möchte endlich anch auf ethischem Gebiete die Parole
ausgegeben werden, die ans dem der Erkenntnißthcorie schon so schönes gewirkt
hat, die Parole: Zurück zu Kant!


Carl Gerhard.


Zum Jubiläum eines Buches.

geradezu der Unehrlichkeit ziehen, die ihn beschuldigten, er habe jene Resultate
seiner praktischen Philosophie nur deshalb aufgestellt, um mit der Polizei nicht
in Conflict zu gerathen, während seine wirkliche Ueberzeugung einzig und allein
in seinem Hauptwerke, der „Kritik der reinen Verminst", niedergelegt sei. Auch
ganz abgesehen von Knuts Charakter, den seine Reinheit vor solchen Verläum-
dungen unter allen Umständen schlitzen sollte, verrathen solche Aeußerungen nicht
gerade ein sehr tiefes Eindringen ihrer Urheber in den Geist der Kantischen
Philosophie. Wer diese Philosophie mir einigermaßen ernst studirt hat, dem
kann der enge Zusammenhang zwischen Kants theoretischer und praktischer Lehre
unmöglich entgehen. Seine theoretische Philosophie fordert geradezu seine praktische
als ihre nothwendige Ergänzung, in der sie sich erst vollendet. Zu den Nega¬
tionen, mit welchen jene abschließt, enthält diese die Positionen, und beide zu¬
sammen enthalten erst Kants vollständige Lehre, während jede ohne die andre
nur ein Bruchstück wäre. „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben
Platz zu bekommen," sagt Kant in der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner
„Kritik der reinen Vernunft", und er bezeichnet es damit selbst als einen Zweck
dieses Werkes, dnrch seine Negationen Raum zu schaffen zum Aufbau einer posi¬
tiven, einer ethischen Weltauffassung.

Man hat seit einigen Jahren, nicht selten mit übertriebner Geringschätzung
der nachkantischcn Leistungen, von den verschiedensten Seiten den Ruf ertönen
lassen, eS müsse auf Kant zurückgegangen, an ihn direct wieder angeknüpft werden,
wenn die Philosophie zu neuem Leben erstarken solle. Und es ist wahr, der
Eifer, mit dem sich seit dieser Zeit die philosophische Forschung ans Kant warf,
hat nicht wenig zum Verständniß seiner Lehre beigetragen und der heutigen Philo¬
sophie manchen Impuls gegeben, der hoffentlich nicht ohne Früchte bleiben wird.
Aber dieser Eifer hat sich hauptsächlich Kants Erkenntnißtheorie zugewandt, während
seine Ethik uuverdientcrmaßm ziemlich vernachlässigt wurde. Und doch verdiente
es diese nicht weniger, daß man ans sie wieder znrückgiuge und in dem Wirrsal
der ethischen Meinungen an ihr sich wieder orientirte. Wenn man erwägt, was
heute alles unter der Flagge der Ethik segelt, wie vor allem Egoismus und
Eudämonismus, die doch, sollte man denken, Kant für immer ans ihr verbannt
hat, in ihr sich wieder breitmachen und Bürgerrecht verlangen, dann muß man
von Herzen wünschen, es möchte endlich anch auf ethischem Gebiete die Parole
ausgegeben werden, die ans dem der Erkenntnißthcorie schon so schönes gewirkt
hat, die Parole: Zurück zu Kant!


Carl Gerhard.


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[0553] Zum Jubiläum eines Buches. geradezu der Unehrlichkeit ziehen, die ihn beschuldigten, er habe jene Resultate seiner praktischen Philosophie nur deshalb aufgestellt, um mit der Polizei nicht in Conflict zu gerathen, während seine wirkliche Ueberzeugung einzig und allein in seinem Hauptwerke, der „Kritik der reinen Verminst", niedergelegt sei. Auch ganz abgesehen von Knuts Charakter, den seine Reinheit vor solchen Verläum- dungen unter allen Umständen schlitzen sollte, verrathen solche Aeußerungen nicht gerade ein sehr tiefes Eindringen ihrer Urheber in den Geist der Kantischen Philosophie. Wer diese Philosophie mir einigermaßen ernst studirt hat, dem kann der enge Zusammenhang zwischen Kants theoretischer und praktischer Lehre unmöglich entgehen. Seine theoretische Philosophie fordert geradezu seine praktische als ihre nothwendige Ergänzung, in der sie sich erst vollendet. Zu den Nega¬ tionen, mit welchen jene abschließt, enthält diese die Positionen, und beide zu¬ sammen enthalten erst Kants vollständige Lehre, während jede ohne die andre nur ein Bruchstück wäre. „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen," sagt Kant in der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner „Kritik der reinen Vernunft", und er bezeichnet es damit selbst als einen Zweck dieses Werkes, dnrch seine Negationen Raum zu schaffen zum Aufbau einer posi¬ tiven, einer ethischen Weltauffassung. Man hat seit einigen Jahren, nicht selten mit übertriebner Geringschätzung der nachkantischcn Leistungen, von den verschiedensten Seiten den Ruf ertönen lassen, eS müsse auf Kant zurückgegangen, an ihn direct wieder angeknüpft werden, wenn die Philosophie zu neuem Leben erstarken solle. Und es ist wahr, der Eifer, mit dem sich seit dieser Zeit die philosophische Forschung ans Kant warf, hat nicht wenig zum Verständniß seiner Lehre beigetragen und der heutigen Philo¬ sophie manchen Impuls gegeben, der hoffentlich nicht ohne Früchte bleiben wird. Aber dieser Eifer hat sich hauptsächlich Kants Erkenntnißtheorie zugewandt, während seine Ethik uuverdientcrmaßm ziemlich vernachlässigt wurde. Und doch verdiente es diese nicht weniger, daß man ans sie wieder znrückgiuge und in dem Wirrsal der ethischen Meinungen an ihr sich wieder orientirte. Wenn man erwägt, was heute alles unter der Flagge der Ethik segelt, wie vor allem Egoismus und Eudämonismus, die doch, sollte man denken, Kant für immer ans ihr verbannt hat, in ihr sich wieder breitmachen und Bürgerrecht verlangen, dann muß man von Herzen wünschen, es möchte endlich anch auf ethischem Gebiete die Parole ausgegeben werden, die ans dem der Erkenntnißthcorie schon so schönes gewirkt hat, die Parole: Zurück zu Kant! Carl Gerhard.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/553>, abgerufen am 25.08.2024.