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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Zum Jubiläum eines Buches.

Stoff wird erst dadurch zu unsrer Vorstellung, daß wir selbst gewisse apriorische
Erkeuntnißfvrmen zu demselben hinzubringen, Formen, welche eben das Ich un¬
abhängig von aller Erfahrung selbstthätig erzeugt. Nun giebt, es zwei Stämme
der menschlichen Erkenntniß, nämlich Sinnlichkeit und Verstand. Vermittelst der
Sinnlichkeit werden uus Gegenstände gegeben und sie allein liefert uns An¬
schauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht und von ihm ent¬
springen Begriffe. Demgemäß sind auch unsre apriorischen Erlcnntnißformen
doppelter Art, nämlich Anschauungs- und Denkformen. Die reinen Formen
der Anschauung sind Raum und Zeit. Eine Anschauung kommt dadurch zu
stände, daß wir von einem Gegenstande afficirt werden. Es ist uns also an
einer Erscheinung die Materie gegeben, dasjenige aber, wodurch das Mannich-
faltige der Anschauung erst in gewisse Verhältnisse geordnet wird, die Form der
Erscheinung muß "im Genüithe " priori bereit liegen." Diese reinen Formen
der Anschauung, Raum und Zeit, sind also keine Verhältnisse der Dinge selbst,
sondern bloß subjective Bedingungen der Sinnlichkeit, bloß die subjectiven Formen,
in denen wir Menschen die Gegenstände anzuschauen genöthigt sind. Die Dinge
sind daher nicht an sich selbst das, wofür wir sie anschauen, noch sind ihre Ver¬
hältnisse so an sich selbst beschaffen, wie sie uns erscheinen. Würde das an¬
schauende Subject oder auch mir unsre subjective Beschaffenheit der Sinne auf¬
gehoben, so würde auch alle Beschaffenheit der Objecte in Raum und Zeit, ja
Raum und Zeit selbst verschwinden. "Was es für eine Bewandtniß mit den
Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Neceptivitüt unsrer Sinn¬
lichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt."

Zu einem gleichen Resultate kommt Kant bei der Untersuchung der zweiten
Art apriorischer Erkenntnißformen, der reinen Formen des Denkens. An¬
schauungen allein machen ja noch keine Erfahrung, keine Erkenntnisse aus, sondern
sie werden dazu erst durch den Begriff, dadurch, daß sie vom Verstände gedacht
werden. Alle Erscheinungen, wie sie im Raum als nebeneinander liegend, in
der Zeit als auf einander folgend sich uns darstellen, sind zunächst nur mannich-
fache Einzelwahrnchmungen; aus diesen bildet der Verstand erst Begriffe, indem
er jenes Mannichfaltige der Wahrnehmung zu einer Einheit verbindet. An¬
schauungen und Begriffe machen also nur in ihrer Vereinigung eine Erkenntniß
aus; "Gedanken ohne Inhalt", d. h. eben ohne zu Grunde liegende Anschauung,
"find leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." Durch die Anschauungen
wird ein Mannichfaltiges der Erscheinungen gegeben, in den Begriffen wird dieses
Mannichfaltige zur Einheit verknüpft. Diese Verknüpfung bewirkt der Verstand,
und zwar bringt sie derselbe, ganz ebenso wie die Sinnlichkeit die Anschauungen,
durch gewisse ihm eigenthümliche ursprüngliche Formen zustande, welche Kant


Zum Jubiläum eines Buches.

Stoff wird erst dadurch zu unsrer Vorstellung, daß wir selbst gewisse apriorische
Erkeuntnißfvrmen zu demselben hinzubringen, Formen, welche eben das Ich un¬
abhängig von aller Erfahrung selbstthätig erzeugt. Nun giebt, es zwei Stämme
der menschlichen Erkenntniß, nämlich Sinnlichkeit und Verstand. Vermittelst der
Sinnlichkeit werden uus Gegenstände gegeben und sie allein liefert uns An¬
schauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht und von ihm ent¬
springen Begriffe. Demgemäß sind auch unsre apriorischen Erlcnntnißformen
doppelter Art, nämlich Anschauungs- und Denkformen. Die reinen Formen
der Anschauung sind Raum und Zeit. Eine Anschauung kommt dadurch zu
stände, daß wir von einem Gegenstande afficirt werden. Es ist uns also an
einer Erscheinung die Materie gegeben, dasjenige aber, wodurch das Mannich-
faltige der Anschauung erst in gewisse Verhältnisse geordnet wird, die Form der
Erscheinung muß „im Genüithe » priori bereit liegen." Diese reinen Formen
der Anschauung, Raum und Zeit, sind also keine Verhältnisse der Dinge selbst,
sondern bloß subjective Bedingungen der Sinnlichkeit, bloß die subjectiven Formen,
in denen wir Menschen die Gegenstände anzuschauen genöthigt sind. Die Dinge
sind daher nicht an sich selbst das, wofür wir sie anschauen, noch sind ihre Ver¬
hältnisse so an sich selbst beschaffen, wie sie uns erscheinen. Würde das an¬
schauende Subject oder auch mir unsre subjective Beschaffenheit der Sinne auf¬
gehoben, so würde auch alle Beschaffenheit der Objecte in Raum und Zeit, ja
Raum und Zeit selbst verschwinden. „Was es für eine Bewandtniß mit den
Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Neceptivitüt unsrer Sinn¬
lichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt."

Zu einem gleichen Resultate kommt Kant bei der Untersuchung der zweiten
Art apriorischer Erkenntnißformen, der reinen Formen des Denkens. An¬
schauungen allein machen ja noch keine Erfahrung, keine Erkenntnisse aus, sondern
sie werden dazu erst durch den Begriff, dadurch, daß sie vom Verstände gedacht
werden. Alle Erscheinungen, wie sie im Raum als nebeneinander liegend, in
der Zeit als auf einander folgend sich uns darstellen, sind zunächst nur mannich-
fache Einzelwahrnchmungen; aus diesen bildet der Verstand erst Begriffe, indem
er jenes Mannichfaltige der Wahrnehmung zu einer Einheit verbindet. An¬
schauungen und Begriffe machen also nur in ihrer Vereinigung eine Erkenntniß
aus; „Gedanken ohne Inhalt", d. h. eben ohne zu Grunde liegende Anschauung,
„find leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." Durch die Anschauungen
wird ein Mannichfaltiges der Erscheinungen gegeben, in den Begriffen wird dieses
Mannichfaltige zur Einheit verknüpft. Diese Verknüpfung bewirkt der Verstand,
und zwar bringt sie derselbe, ganz ebenso wie die Sinnlichkeit die Anschauungen,
durch gewisse ihm eigenthümliche ursprüngliche Formen zustande, welche Kant


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[0547] Zum Jubiläum eines Buches. Stoff wird erst dadurch zu unsrer Vorstellung, daß wir selbst gewisse apriorische Erkeuntnißfvrmen zu demselben hinzubringen, Formen, welche eben das Ich un¬ abhängig von aller Erfahrung selbstthätig erzeugt. Nun giebt, es zwei Stämme der menschlichen Erkenntniß, nämlich Sinnlichkeit und Verstand. Vermittelst der Sinnlichkeit werden uus Gegenstände gegeben und sie allein liefert uns An¬ schauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht und von ihm ent¬ springen Begriffe. Demgemäß sind auch unsre apriorischen Erlcnntnißformen doppelter Art, nämlich Anschauungs- und Denkformen. Die reinen Formen der Anschauung sind Raum und Zeit. Eine Anschauung kommt dadurch zu stände, daß wir von einem Gegenstande afficirt werden. Es ist uns also an einer Erscheinung die Materie gegeben, dasjenige aber, wodurch das Mannich- faltige der Anschauung erst in gewisse Verhältnisse geordnet wird, die Form der Erscheinung muß „im Genüithe » priori bereit liegen." Diese reinen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, sind also keine Verhältnisse der Dinge selbst, sondern bloß subjective Bedingungen der Sinnlichkeit, bloß die subjectiven Formen, in denen wir Menschen die Gegenstände anzuschauen genöthigt sind. Die Dinge sind daher nicht an sich selbst das, wofür wir sie anschauen, noch sind ihre Ver¬ hältnisse so an sich selbst beschaffen, wie sie uns erscheinen. Würde das an¬ schauende Subject oder auch mir unsre subjective Beschaffenheit der Sinne auf¬ gehoben, so würde auch alle Beschaffenheit der Objecte in Raum und Zeit, ja Raum und Zeit selbst verschwinden. „Was es für eine Bewandtniß mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Neceptivitüt unsrer Sinn¬ lichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt." Zu einem gleichen Resultate kommt Kant bei der Untersuchung der zweiten Art apriorischer Erkenntnißformen, der reinen Formen des Denkens. An¬ schauungen allein machen ja noch keine Erfahrung, keine Erkenntnisse aus, sondern sie werden dazu erst durch den Begriff, dadurch, daß sie vom Verstände gedacht werden. Alle Erscheinungen, wie sie im Raum als nebeneinander liegend, in der Zeit als auf einander folgend sich uns darstellen, sind zunächst nur mannich- fache Einzelwahrnchmungen; aus diesen bildet der Verstand erst Begriffe, indem er jenes Mannichfaltige der Wahrnehmung zu einer Einheit verbindet. An¬ schauungen und Begriffe machen also nur in ihrer Vereinigung eine Erkenntniß aus; „Gedanken ohne Inhalt", d. h. eben ohne zu Grunde liegende Anschauung, „find leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." Durch die Anschauungen wird ein Mannichfaltiges der Erscheinungen gegeben, in den Begriffen wird dieses Mannichfaltige zur Einheit verknüpft. Diese Verknüpfung bewirkt der Verstand, und zwar bringt sie derselbe, ganz ebenso wie die Sinnlichkeit die Anschauungen, durch gewisse ihm eigenthümliche ursprüngliche Formen zustande, welche Kant

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/547>, abgerufen am 23.07.2024.