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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Zum Jubiläum eiues Buches,

als solche mußte sie mit den sogenannten exacten Wissenschaften das Arbeitsfeld
theilen. Je mehr also die letztern erstarkten und ihr Gebiet erweiterten, um so
mehr lief sie Gefahr, aus ihrem Terrain verdrängt und zuletzt als vollständig
überflüssig bei Seite geworfen zu werdem Aus dieser Gefahr hat Kant die
Philosophie befreit, indem er ihr ein selbständiges, von den Gegenständen aller
andern Wissenschaften verschiedenes Object zuwies. Jede Wissenschaft hat ihren
besondern Gegenstand, den sie zu erkennen bestrebt ist, die Mathematik die Großen,
die Physik die Naturerscheinungen u. s. w.; aber dieses Erkennen selbst und seine
Bedingungen wird von jenen Wissenschaften nicht untersucht, und dieses eben
machte Kant zum Gegenstande der Philosophie, Er hat also der Philosophie,
indem er sie zur kritischen machte, ein neues Problem gegeben, und schou dies
allein, ganz abgesehen von seiner Lösung des Problems, sichert ihm eine hervor¬
ragende Stelle in der Geschichte dieser Wissenschaft, Allerdings hat man auch
vor Kant schon über die Erkenntniß nachgedacht; fast alle bedeutender" Philo¬
sophen der neuern Zeit, Locke, Leibniz, Hume u, c>, haben Untersuchungen über
den menschlichen Verstand hinterlassen, aber sie haben im allgemeinen nur die
Thatsache des Erkennens beschrieben, soweit es sich empirisch beobachten läßt,
haben nicht seine Möglichkeit, nicht das untersucht, was dem Erkennen als seine
Bedingungen vorausgeht. Mit Recht sagt daher Harms: "Schon vor dem
Columbus kannte man Amerika, und dennoch hat er es erst entdeckt. Dasselbe
gilt von dem Kritieismus. Die gesammte neuere Philosophie will die Reform
der Logik und tendirt zum Kritieismus. Gegründet ist er aber erst durch Kant,
er ist seiue That in der Geschichte der Philosophie."

Wie ist Erkenntniß möglich? Das ist die Frage, die Kant der Philosophie
stellt und in seinem Hauptwerke beantworte" will. Mit andern Worten: Er
unternimmt in demselben eine Prüfung der menschlichen Erkenntnißkräfte, Und
dn er die letztern unter dem Namen der reinen Vernunft zusammenfaßt, so be¬
zeichnet er sein Werk als eine "Kritik der reinen Vernunft," Diese Kritik dehnt
er nun aber nicht etwa auf alles das aus, was man bisher unter Erkenntnis;
zu verstehen gewohnt war, sondern er beschränkt seine Untersuchung auf die Frage
nach der Möglichkeit synthetischer Urtheile " priori. Kant unterscheidet nämlich
zwischen analytischen und synthetischen Urtheilen. Die erstem sind solche, in
denen das Prädicat zum Subject nichts neues hinzufügt, sondern schon im Be¬
griffe des letztern enthalten ist, sich also durch eine einfache Zergliederung, durch
eine Analyse desselben ergiebt. Im synthetischen Urtheil dagegen wird zum
Subject eine neue, in diesem nicht schon enthaltne Vorstellung hinzugefügt, werden
also zwei von einander verschiedne Vorstellungen mit einander verknüpft, synthesirt,
Säge ich z. B.: alle Körper sind ausgedehnt, so ist dies ein analytisches Urtheil,


Zum Jubiläum eiues Buches,

als solche mußte sie mit den sogenannten exacten Wissenschaften das Arbeitsfeld
theilen. Je mehr also die letztern erstarkten und ihr Gebiet erweiterten, um so
mehr lief sie Gefahr, aus ihrem Terrain verdrängt und zuletzt als vollständig
überflüssig bei Seite geworfen zu werdem Aus dieser Gefahr hat Kant die
Philosophie befreit, indem er ihr ein selbständiges, von den Gegenständen aller
andern Wissenschaften verschiedenes Object zuwies. Jede Wissenschaft hat ihren
besondern Gegenstand, den sie zu erkennen bestrebt ist, die Mathematik die Großen,
die Physik die Naturerscheinungen u. s. w.; aber dieses Erkennen selbst und seine
Bedingungen wird von jenen Wissenschaften nicht untersucht, und dieses eben
machte Kant zum Gegenstande der Philosophie, Er hat also der Philosophie,
indem er sie zur kritischen machte, ein neues Problem gegeben, und schou dies
allein, ganz abgesehen von seiner Lösung des Problems, sichert ihm eine hervor¬
ragende Stelle in der Geschichte dieser Wissenschaft, Allerdings hat man auch
vor Kant schon über die Erkenntniß nachgedacht; fast alle bedeutender» Philo¬
sophen der neuern Zeit, Locke, Leibniz, Hume u, c>, haben Untersuchungen über
den menschlichen Verstand hinterlassen, aber sie haben im allgemeinen nur die
Thatsache des Erkennens beschrieben, soweit es sich empirisch beobachten läßt,
haben nicht seine Möglichkeit, nicht das untersucht, was dem Erkennen als seine
Bedingungen vorausgeht. Mit Recht sagt daher Harms: „Schon vor dem
Columbus kannte man Amerika, und dennoch hat er es erst entdeckt. Dasselbe
gilt von dem Kritieismus. Die gesammte neuere Philosophie will die Reform
der Logik und tendirt zum Kritieismus. Gegründet ist er aber erst durch Kant,
er ist seiue That in der Geschichte der Philosophie."

Wie ist Erkenntniß möglich? Das ist die Frage, die Kant der Philosophie
stellt und in seinem Hauptwerke beantworte» will. Mit andern Worten: Er
unternimmt in demselben eine Prüfung der menschlichen Erkenntnißkräfte, Und
dn er die letztern unter dem Namen der reinen Vernunft zusammenfaßt, so be¬
zeichnet er sein Werk als eine „Kritik der reinen Vernunft," Diese Kritik dehnt
er nun aber nicht etwa auf alles das aus, was man bisher unter Erkenntnis;
zu verstehen gewohnt war, sondern er beschränkt seine Untersuchung auf die Frage
nach der Möglichkeit synthetischer Urtheile » priori. Kant unterscheidet nämlich
zwischen analytischen und synthetischen Urtheilen. Die erstem sind solche, in
denen das Prädicat zum Subject nichts neues hinzufügt, sondern schon im Be¬
griffe des letztern enthalten ist, sich also durch eine einfache Zergliederung, durch
eine Analyse desselben ergiebt. Im synthetischen Urtheil dagegen wird zum
Subject eine neue, in diesem nicht schon enthaltne Vorstellung hinzugefügt, werden
also zwei von einander verschiedne Vorstellungen mit einander verknüpft, synthesirt,
Säge ich z. B.: alle Körper sind ausgedehnt, so ist dies ein analytisches Urtheil,


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[0545] Zum Jubiläum eiues Buches, als solche mußte sie mit den sogenannten exacten Wissenschaften das Arbeitsfeld theilen. Je mehr also die letztern erstarkten und ihr Gebiet erweiterten, um so mehr lief sie Gefahr, aus ihrem Terrain verdrängt und zuletzt als vollständig überflüssig bei Seite geworfen zu werdem Aus dieser Gefahr hat Kant die Philosophie befreit, indem er ihr ein selbständiges, von den Gegenständen aller andern Wissenschaften verschiedenes Object zuwies. Jede Wissenschaft hat ihren besondern Gegenstand, den sie zu erkennen bestrebt ist, die Mathematik die Großen, die Physik die Naturerscheinungen u. s. w.; aber dieses Erkennen selbst und seine Bedingungen wird von jenen Wissenschaften nicht untersucht, und dieses eben machte Kant zum Gegenstande der Philosophie, Er hat also der Philosophie, indem er sie zur kritischen machte, ein neues Problem gegeben, und schou dies allein, ganz abgesehen von seiner Lösung des Problems, sichert ihm eine hervor¬ ragende Stelle in der Geschichte dieser Wissenschaft, Allerdings hat man auch vor Kant schon über die Erkenntniß nachgedacht; fast alle bedeutender» Philo¬ sophen der neuern Zeit, Locke, Leibniz, Hume u, c>, haben Untersuchungen über den menschlichen Verstand hinterlassen, aber sie haben im allgemeinen nur die Thatsache des Erkennens beschrieben, soweit es sich empirisch beobachten läßt, haben nicht seine Möglichkeit, nicht das untersucht, was dem Erkennen als seine Bedingungen vorausgeht. Mit Recht sagt daher Harms: „Schon vor dem Columbus kannte man Amerika, und dennoch hat er es erst entdeckt. Dasselbe gilt von dem Kritieismus. Die gesammte neuere Philosophie will die Reform der Logik und tendirt zum Kritieismus. Gegründet ist er aber erst durch Kant, er ist seiue That in der Geschichte der Philosophie." Wie ist Erkenntniß möglich? Das ist die Frage, die Kant der Philosophie stellt und in seinem Hauptwerke beantworte» will. Mit andern Worten: Er unternimmt in demselben eine Prüfung der menschlichen Erkenntnißkräfte, Und dn er die letztern unter dem Namen der reinen Vernunft zusammenfaßt, so be¬ zeichnet er sein Werk als eine „Kritik der reinen Vernunft," Diese Kritik dehnt er nun aber nicht etwa auf alles das aus, was man bisher unter Erkenntnis; zu verstehen gewohnt war, sondern er beschränkt seine Untersuchung auf die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urtheile » priori. Kant unterscheidet nämlich zwischen analytischen und synthetischen Urtheilen. Die erstem sind solche, in denen das Prädicat zum Subject nichts neues hinzufügt, sondern schon im Be¬ griffe des letztern enthalten ist, sich also durch eine einfache Zergliederung, durch eine Analyse desselben ergiebt. Im synthetischen Urtheil dagegen wird zum Subject eine neue, in diesem nicht schon enthaltne Vorstellung hinzugefügt, werden also zwei von einander verschiedne Vorstellungen mit einander verknüpft, synthesirt, Säge ich z. B.: alle Körper sind ausgedehnt, so ist dies ein analytisches Urtheil,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/545>, abgerufen am 23.07.2024.