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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Zum Jubiläum l'iucs Buches.

andern zweifelten diese Möglichkeit der Erkenntniß an und suchten die Unmög¬
lichkeit derselben nachzuweisen. Die erstre Richtung bezeichnet man als Dogma¬
tismus, die andre als Skepticismus, und diese beiden sind es, welche die Geschichte
der Philosophie vor Kant in endlosem Streite durchziehen und sie fast nirgends
zu einem gesicherten Resultate kommen lassen. Beiden setzt Kant eine neue Ver-
fahrungsweise, die kritische entgegen, welche vor jeder Aussage über die Dinge
selbst vor allein eine Untersuchung und Prüfung unsres Erkenntnißvermögens
unternimmt; weder einfaches Annehmen noch unbegründetes Bezweifeln der Mög¬
lichkeit des Erkennens, sondern einzig und allein eine kritische Prüfung seiner
Bedingungen und Factoren ist nach Kant das der Philosophie geziemende Ver¬
fahren.

Will mau die Verdienste eines Mannes von einem spätern Standpunkte
aus richtig würdigen, so darf man nicht etwa nur die Leistungen desselben ins
Ange fasse", die als dauernde, von der Zeit nicht überholte Resultate seines
Wirkens vor uns stehen, sondern man muß ihn aus seiner eignen Zeit heraus
beurtheilen, muß vor allem in Erwägung ziehen, welche Verhältnisse er in seiner
Wissenschaft vorfand und inwieweit er umgestaltend auf dieselben eingewirkt hat.
Als Kant seine philosophische Thätigkeit begann, war der Leibniz-Wvlffische Ra-
twimlismns die in Deutschland allgemein herrschende philosophische Richtung. Es
war dies jene Philosophie der trocknen, nüchternen Verständigkeit, die in der Auf¬
klärung des Verstandes, in klaren Begriffen und logisch richtigen Schlußfolgerungen
uns vernünftigen Principien alle theoretische Erkenntniß der Wahrheit wie alle
praktische Glückseligkeit finde" zu tonnen glaubte. Wolffs Shstem war Dogma¬
tismus, und zwar im wesentlichen rationalistischer Dogmatismus. Innerhalb
des Dogmatismus der neuern Philosophie gehen zwei Richtungen neben ein¬
ander her, die, obwohl beide dogmatisch, doch durch ihre Principien einander
diametral entgegengesetzt sind. Die eine, die empiristische, die von Bacon aus¬
geht und ihre Anhänger hauptsächlich auf englischem Boden hatte, sah die Er¬
fahrung als die einzige Quelle unsrer Vorstellungen an und glaubte durch diese
zu einer Erkenntniß der Dinge zu gelangen; die andre, die rationalistische, die
in Cnrtesius ihren Begründer hatte und besonders in Frankreich und Deutsch¬
land Verbreitung fand, sah in der Verminst, in dem reinen Verstand das
einzige Erkenntnißprincip und wollte durch Speculation, durch eine logische und
mathematische Bearbeitung der Begriffe die Erkenntniß der natürlichen wie der
übernatürlichen Dinge erreichen. Eine Zeit lang hatte Leibniz durch die Viel¬
seitigkeit seines Geistes, durch die er in gleich hervorragender Weise in den Natur-
wie in den Geisteswissenschaften heimisch war, beide Richtungen zu versöhnen,
Speculation und Erfahrung in seiner Philosophie zu vereinigen gewußt. Aber


Zum Jubiläum l'iucs Buches.

andern zweifelten diese Möglichkeit der Erkenntniß an und suchten die Unmög¬
lichkeit derselben nachzuweisen. Die erstre Richtung bezeichnet man als Dogma¬
tismus, die andre als Skepticismus, und diese beiden sind es, welche die Geschichte
der Philosophie vor Kant in endlosem Streite durchziehen und sie fast nirgends
zu einem gesicherten Resultate kommen lassen. Beiden setzt Kant eine neue Ver-
fahrungsweise, die kritische entgegen, welche vor jeder Aussage über die Dinge
selbst vor allein eine Untersuchung und Prüfung unsres Erkenntnißvermögens
unternimmt; weder einfaches Annehmen noch unbegründetes Bezweifeln der Mög¬
lichkeit des Erkennens, sondern einzig und allein eine kritische Prüfung seiner
Bedingungen und Factoren ist nach Kant das der Philosophie geziemende Ver¬
fahren.

Will mau die Verdienste eines Mannes von einem spätern Standpunkte
aus richtig würdigen, so darf man nicht etwa nur die Leistungen desselben ins
Ange fasse», die als dauernde, von der Zeit nicht überholte Resultate seines
Wirkens vor uns stehen, sondern man muß ihn aus seiner eignen Zeit heraus
beurtheilen, muß vor allem in Erwägung ziehen, welche Verhältnisse er in seiner
Wissenschaft vorfand und inwieweit er umgestaltend auf dieselben eingewirkt hat.
Als Kant seine philosophische Thätigkeit begann, war der Leibniz-Wvlffische Ra-
twimlismns die in Deutschland allgemein herrschende philosophische Richtung. Es
war dies jene Philosophie der trocknen, nüchternen Verständigkeit, die in der Auf¬
klärung des Verstandes, in klaren Begriffen und logisch richtigen Schlußfolgerungen
uns vernünftigen Principien alle theoretische Erkenntniß der Wahrheit wie alle
praktische Glückseligkeit finde» zu tonnen glaubte. Wolffs Shstem war Dogma¬
tismus, und zwar im wesentlichen rationalistischer Dogmatismus. Innerhalb
des Dogmatismus der neuern Philosophie gehen zwei Richtungen neben ein¬
ander her, die, obwohl beide dogmatisch, doch durch ihre Principien einander
diametral entgegengesetzt sind. Die eine, die empiristische, die von Bacon aus¬
geht und ihre Anhänger hauptsächlich auf englischem Boden hatte, sah die Er¬
fahrung als die einzige Quelle unsrer Vorstellungen an und glaubte durch diese
zu einer Erkenntniß der Dinge zu gelangen; die andre, die rationalistische, die
in Cnrtesius ihren Begründer hatte und besonders in Frankreich und Deutsch¬
land Verbreitung fand, sah in der Verminst, in dem reinen Verstand das
einzige Erkenntnißprincip und wollte durch Speculation, durch eine logische und
mathematische Bearbeitung der Begriffe die Erkenntniß der natürlichen wie der
übernatürlichen Dinge erreichen. Eine Zeit lang hatte Leibniz durch die Viel¬
seitigkeit seines Geistes, durch die er in gleich hervorragender Weise in den Natur-
wie in den Geisteswissenschaften heimisch war, beide Richtungen zu versöhnen,
Speculation und Erfahrung in seiner Philosophie zu vereinigen gewußt. Aber


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[0543] Zum Jubiläum l'iucs Buches. andern zweifelten diese Möglichkeit der Erkenntniß an und suchten die Unmög¬ lichkeit derselben nachzuweisen. Die erstre Richtung bezeichnet man als Dogma¬ tismus, die andre als Skepticismus, und diese beiden sind es, welche die Geschichte der Philosophie vor Kant in endlosem Streite durchziehen und sie fast nirgends zu einem gesicherten Resultate kommen lassen. Beiden setzt Kant eine neue Ver- fahrungsweise, die kritische entgegen, welche vor jeder Aussage über die Dinge selbst vor allein eine Untersuchung und Prüfung unsres Erkenntnißvermögens unternimmt; weder einfaches Annehmen noch unbegründetes Bezweifeln der Mög¬ lichkeit des Erkennens, sondern einzig und allein eine kritische Prüfung seiner Bedingungen und Factoren ist nach Kant das der Philosophie geziemende Ver¬ fahren. Will mau die Verdienste eines Mannes von einem spätern Standpunkte aus richtig würdigen, so darf man nicht etwa nur die Leistungen desselben ins Ange fasse», die als dauernde, von der Zeit nicht überholte Resultate seines Wirkens vor uns stehen, sondern man muß ihn aus seiner eignen Zeit heraus beurtheilen, muß vor allem in Erwägung ziehen, welche Verhältnisse er in seiner Wissenschaft vorfand und inwieweit er umgestaltend auf dieselben eingewirkt hat. Als Kant seine philosophische Thätigkeit begann, war der Leibniz-Wvlffische Ra- twimlismns die in Deutschland allgemein herrschende philosophische Richtung. Es war dies jene Philosophie der trocknen, nüchternen Verständigkeit, die in der Auf¬ klärung des Verstandes, in klaren Begriffen und logisch richtigen Schlußfolgerungen uns vernünftigen Principien alle theoretische Erkenntniß der Wahrheit wie alle praktische Glückseligkeit finde» zu tonnen glaubte. Wolffs Shstem war Dogma¬ tismus, und zwar im wesentlichen rationalistischer Dogmatismus. Innerhalb des Dogmatismus der neuern Philosophie gehen zwei Richtungen neben ein¬ ander her, die, obwohl beide dogmatisch, doch durch ihre Principien einander diametral entgegengesetzt sind. Die eine, die empiristische, die von Bacon aus¬ geht und ihre Anhänger hauptsächlich auf englischem Boden hatte, sah die Er¬ fahrung als die einzige Quelle unsrer Vorstellungen an und glaubte durch diese zu einer Erkenntniß der Dinge zu gelangen; die andre, die rationalistische, die in Cnrtesius ihren Begründer hatte und besonders in Frankreich und Deutsch¬ land Verbreitung fand, sah in der Verminst, in dem reinen Verstand das einzige Erkenntnißprincip und wollte durch Speculation, durch eine logische und mathematische Bearbeitung der Begriffe die Erkenntniß der natürlichen wie der übernatürlichen Dinge erreichen. Eine Zeit lang hatte Leibniz durch die Viel¬ seitigkeit seines Geistes, durch die er in gleich hervorragender Weise in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften heimisch war, beide Richtungen zu versöhnen, Speculation und Erfahrung in seiner Philosophie zu vereinigen gewußt. Aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/543>, abgerufen am 23.07.2024.