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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Gambetta und das Listonscrntminm.

einen Zuwachs republicauischer Deputirten aus andern Gegenden numerisch aus¬
geglichen werden, aber es ist doch keine gleichgiltige Sache, wenn 15 oder 20 De¬
partements nicht in einem der Republik freundlichen Geiste vertreten sind, und
das departemeutale Wahlsystem bedeutet die vollständige Unterdrückung der Mino¬
ritäten," Das Listeuserutiuium werde eine schwer zu ertrageude Ungleichheit in
betreff der Rechte der Wähler zur Folge haben. Die Macht des Wählers in
den größern Departements würde außerordentlich erhöht, die des Wählers in
den kleinern ebenso außerordentlich vermindert werden, jener würde an Einfluß
auf die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses erheblich gewinnen, dieser er¬
heblich verlieren, der Bewohner der Hautes-Alpes oder der Basses-Alpes würde
nur zwei, der des Departements Seine et Loire dagegen neun und der Pariser
gar vierunddreißig Namen auf seinen Stimmzettel schreiben dürfen. "Es handelt
sich hier," so schließt der Boyssctsche Bericht, "weder um ein Prineip noch um
eine stetig fortlaufende Ueberlieferung; je nach Ort und Zeit kann bald dieses,
bald jenes Wahlsystem den Vorzug verdienen. Für jetzt aber liegt nicht der
geringste Grund zu einem Wechsel vor, und aus Achtung vor der Volkssouverünetät
verlangen wir Beibehaltung des bisherigen Wahlmodus. Die vor sechs Jahren
begonnene Emancipation hat ununterbrochen Fortschritte gemacht, und nicht die
Bevormundung, sondern die Freiheit des Wählers ist jetzt am Platze."

Das waren gewiß keine Übeln Gründe gegen das Listenscrntinium und für
den bestehenden Wahlmodus. Aber politische Controversen werden nur selten
durch Ueberlegenheit in der Beweisführung entschieden. Der eigentliche Schlüssel
der Situation ist die Ansicht Gambcttas, daß er nicht eher aus der Sphäre
unverantwortlicher Gewalt in die der verantwortlichen hinübertreten, nicht eher
Ministerpräsident oder'Präsident der Republik werden kaun, als bis er eine
Volksvertretung neben sich -- oder unter sich -- hat, die noch gefügiger und
abhängiger von ihm ist als die gegenwärtige. Er glaubt, daß der unzweifel¬
haft große Einfluß, den er ausübt, durch persönliche und locale Ursachen in
den Provinzen vielfach gehemmt und beeinträchtigt werde, so lange es kleine
Wahlkörper giebt, und deshalb will er große an deren Stelle setzen. Jedes
Departement wird von jetzt an wie eine weite Bucht sein, in die sich die von
Paris kommende Strömung der öffentlichen Meinung, welche sich von Jahr zu
Jahr mehr zu Gambetta als dem eigentlichen Machthaber hingezogen gefühlt
hat, mit voller Kraft ergießt, während sie sich bisher häufig an localen Hinder¬
nissen brach und an Kraft verlor. Man wird in jeder Departements-Hauptstadt
ein Wahlcomitö entstehen sehen, zusammengesetzt aus den eifrigsten und rührigsten
Führern der republicanischen Partei, von Paris aus mit Geld, Rath und Parole
versehen und in letzter Instanz von Gambetta selbst geleitet und beaufsichtigt.


Gambetta und das Listonscrntminm.

einen Zuwachs republicauischer Deputirten aus andern Gegenden numerisch aus¬
geglichen werden, aber es ist doch keine gleichgiltige Sache, wenn 15 oder 20 De¬
partements nicht in einem der Republik freundlichen Geiste vertreten sind, und
das departemeutale Wahlsystem bedeutet die vollständige Unterdrückung der Mino¬
ritäten," Das Listeuserutiuium werde eine schwer zu ertrageude Ungleichheit in
betreff der Rechte der Wähler zur Folge haben. Die Macht des Wählers in
den größern Departements würde außerordentlich erhöht, die des Wählers in
den kleinern ebenso außerordentlich vermindert werden, jener würde an Einfluß
auf die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses erheblich gewinnen, dieser er¬
heblich verlieren, der Bewohner der Hautes-Alpes oder der Basses-Alpes würde
nur zwei, der des Departements Seine et Loire dagegen neun und der Pariser
gar vierunddreißig Namen auf seinen Stimmzettel schreiben dürfen. „Es handelt
sich hier," so schließt der Boyssctsche Bericht, „weder um ein Prineip noch um
eine stetig fortlaufende Ueberlieferung; je nach Ort und Zeit kann bald dieses,
bald jenes Wahlsystem den Vorzug verdienen. Für jetzt aber liegt nicht der
geringste Grund zu einem Wechsel vor, und aus Achtung vor der Volkssouverünetät
verlangen wir Beibehaltung des bisherigen Wahlmodus. Die vor sechs Jahren
begonnene Emancipation hat ununterbrochen Fortschritte gemacht, und nicht die
Bevormundung, sondern die Freiheit des Wählers ist jetzt am Platze."

Das waren gewiß keine Übeln Gründe gegen das Listenscrntinium und für
den bestehenden Wahlmodus. Aber politische Controversen werden nur selten
durch Ueberlegenheit in der Beweisführung entschieden. Der eigentliche Schlüssel
der Situation ist die Ansicht Gambcttas, daß er nicht eher aus der Sphäre
unverantwortlicher Gewalt in die der verantwortlichen hinübertreten, nicht eher
Ministerpräsident oder'Präsident der Republik werden kaun, als bis er eine
Volksvertretung neben sich — oder unter sich — hat, die noch gefügiger und
abhängiger von ihm ist als die gegenwärtige. Er glaubt, daß der unzweifel¬
haft große Einfluß, den er ausübt, durch persönliche und locale Ursachen in
den Provinzen vielfach gehemmt und beeinträchtigt werde, so lange es kleine
Wahlkörper giebt, und deshalb will er große an deren Stelle setzen. Jedes
Departement wird von jetzt an wie eine weite Bucht sein, in die sich die von
Paris kommende Strömung der öffentlichen Meinung, welche sich von Jahr zu
Jahr mehr zu Gambetta als dem eigentlichen Machthaber hingezogen gefühlt
hat, mit voller Kraft ergießt, während sie sich bisher häufig an localen Hinder¬
nissen brach und an Kraft verlor. Man wird in jeder Departements-Hauptstadt
ein Wahlcomitö entstehen sehen, zusammengesetzt aus den eifrigsten und rührigsten
Führern der republicanischen Partei, von Paris aus mit Geld, Rath und Parole
versehen und in letzter Instanz von Gambetta selbst geleitet und beaufsichtigt.


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[0385] Gambetta und das Listonscrntminm. einen Zuwachs republicauischer Deputirten aus andern Gegenden numerisch aus¬ geglichen werden, aber es ist doch keine gleichgiltige Sache, wenn 15 oder 20 De¬ partements nicht in einem der Republik freundlichen Geiste vertreten sind, und das departemeutale Wahlsystem bedeutet die vollständige Unterdrückung der Mino¬ ritäten," Das Listeuserutiuium werde eine schwer zu ertrageude Ungleichheit in betreff der Rechte der Wähler zur Folge haben. Die Macht des Wählers in den größern Departements würde außerordentlich erhöht, die des Wählers in den kleinern ebenso außerordentlich vermindert werden, jener würde an Einfluß auf die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses erheblich gewinnen, dieser er¬ heblich verlieren, der Bewohner der Hautes-Alpes oder der Basses-Alpes würde nur zwei, der des Departements Seine et Loire dagegen neun und der Pariser gar vierunddreißig Namen auf seinen Stimmzettel schreiben dürfen. „Es handelt sich hier," so schließt der Boyssctsche Bericht, „weder um ein Prineip noch um eine stetig fortlaufende Ueberlieferung; je nach Ort und Zeit kann bald dieses, bald jenes Wahlsystem den Vorzug verdienen. Für jetzt aber liegt nicht der geringste Grund zu einem Wechsel vor, und aus Achtung vor der Volkssouverünetät verlangen wir Beibehaltung des bisherigen Wahlmodus. Die vor sechs Jahren begonnene Emancipation hat ununterbrochen Fortschritte gemacht, und nicht die Bevormundung, sondern die Freiheit des Wählers ist jetzt am Platze." Das waren gewiß keine Übeln Gründe gegen das Listenscrntinium und für den bestehenden Wahlmodus. Aber politische Controversen werden nur selten durch Ueberlegenheit in der Beweisführung entschieden. Der eigentliche Schlüssel der Situation ist die Ansicht Gambcttas, daß er nicht eher aus der Sphäre unverantwortlicher Gewalt in die der verantwortlichen hinübertreten, nicht eher Ministerpräsident oder'Präsident der Republik werden kaun, als bis er eine Volksvertretung neben sich — oder unter sich — hat, die noch gefügiger und abhängiger von ihm ist als die gegenwärtige. Er glaubt, daß der unzweifel¬ haft große Einfluß, den er ausübt, durch persönliche und locale Ursachen in den Provinzen vielfach gehemmt und beeinträchtigt werde, so lange es kleine Wahlkörper giebt, und deshalb will er große an deren Stelle setzen. Jedes Departement wird von jetzt an wie eine weite Bucht sein, in die sich die von Paris kommende Strömung der öffentlichen Meinung, welche sich von Jahr zu Jahr mehr zu Gambetta als dem eigentlichen Machthaber hingezogen gefühlt hat, mit voller Kraft ergießt, während sie sich bisher häufig an localen Hinder¬ nissen brach und an Kraft verlor. Man wird in jeder Departements-Hauptstadt ein Wahlcomitö entstehen sehen, zusammengesetzt aus den eifrigsten und rührigsten Führern der republicanischen Partei, von Paris aus mit Geld, Rath und Parole versehen und in letzter Instanz von Gambetta selbst geleitet und beaufsichtigt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/385>, abgerufen am 26.06.2024.