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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Kampfe des Gewordnen und Werdenden ihn dialektisch entwickelt. Dieser Ge¬
danke macht von selbst das menschliche Individuum zu einem sich selbst bewußten
Mitfactor der Weltgeschichte. Der Weg, auf welchem dieser Gedanke in die
Nation dringt, kann nur die Poesie sein; in ihr muß er wieder die Form zu
gewinnen suchen, welche ihn am lebendigsten in allen seinen Wendungen sichtbar
macht. Diese Form ist die Tragödie. Von ihm emporgetragen muß die moderne
Tragödie die eigentlich historische werden. Darf man daher sagen, daß erst in
unsern Tagen die Gesetze der Weltgeschichte in das menschliche Bewußtsein
getreten sind, so stellt sich von selbst dem modernen Tragöden die Ausgabe, die
Momente der Geschichte zu ergreifen, wo der ewig lebende Gedanke der Mensch¬
heit potenziert zur That hervorspringt. Wo sich dieser Gedanke durch die ge¬
gebnen Conflicte zur That drängt, muß von selbst ein solcher tragischer Moment
in der Geschichte entstehen."

Unter dem Drucke dieser Vorstellung, irregeleitet durch die Annahme, daß
die Aufgabe der eigentlichen Poesie gewissermaßen bloß eine Entwicklungsstufe
zur höhern Poesie bilde, schuf Mosen seine folgenden Werke. Die Nahrung,
welche die wirkliche Geschichte dem Dichter in reicher Fülle bietet, unterschied
er nicht von der wunderlich destillirten Abstraction, die angeblich die Quintessenz
der Welt und Menschheit enthalten sollte und in Wahrheit einem Tränke glich,
der in dem Genießenden fiebrische, fliegende Hitze erregt, seine Nerven anspannt
und ihn schließlich verschmachten läßt. Im Ernst kann ein echter Dichter (und
daß Mosen ein solcher war, müssen wir immer wieder betonen) nie gemeint
haben, ganze Seiten der Poesie aufzugeben; der Dichter des "Bernhard von
Weimar" und des "Congresses von Verona" scheint gehofft oder instinctiv be¬
absichtigt zu haben, alles Werthvolle der seitherigen dramatischen Poesie un¬
bemerkt in die neue hochpolitische abstracte Tragödie des weltgeschichtlichen Ge¬
dankens hinüberzuretten. Daß ihm dies theilweise gelungen ist, darauf beruht
der bleibende ästhetische Werth der spätern Schöpfungen Mosers. Denn daß
die Dramen "Bernhard von Weimar", "Der Sohn des Fürsten", "Don'Juan
d'Austria" und der schon genannte historische Roman "Der Congreß von Verona"
außerdem interessante Zeugnisse einer bestimmten irrigen Richtung unsrer Lite¬
ratur, einer rasch vorübergegangenen Ueberschätzung, eines kurzathmiger Anlaufs
sind, über Nacht eine neue Poesie zu gewinnen, geht nur dem Kritiker und
Literarhistoriker an. Der Versuch, "die Ideen der Politik in universaler Tiefe
dramatisch zu gestalten", war mit lebendiger poetischer Anschauung und Gestalt
unvereinbar, "Geist der Geschichte" geht die Poesie nur insoweit an, als er sich
in lebendigen Menschengestalten und ergreifenden Menschenschicksalen ausspricht.
So angeschaut, war "Der Sohn des Fürsten" mit den Gestalten des unglück¬
lichen Katte und des jugendlichen Friedrich entschieden Mosers glücklichster Griff


Kampfe des Gewordnen und Werdenden ihn dialektisch entwickelt. Dieser Ge¬
danke macht von selbst das menschliche Individuum zu einem sich selbst bewußten
Mitfactor der Weltgeschichte. Der Weg, auf welchem dieser Gedanke in die
Nation dringt, kann nur die Poesie sein; in ihr muß er wieder die Form zu
gewinnen suchen, welche ihn am lebendigsten in allen seinen Wendungen sichtbar
macht. Diese Form ist die Tragödie. Von ihm emporgetragen muß die moderne
Tragödie die eigentlich historische werden. Darf man daher sagen, daß erst in
unsern Tagen die Gesetze der Weltgeschichte in das menschliche Bewußtsein
getreten sind, so stellt sich von selbst dem modernen Tragöden die Ausgabe, die
Momente der Geschichte zu ergreifen, wo der ewig lebende Gedanke der Mensch¬
heit potenziert zur That hervorspringt. Wo sich dieser Gedanke durch die ge¬
gebnen Conflicte zur That drängt, muß von selbst ein solcher tragischer Moment
in der Geschichte entstehen."

Unter dem Drucke dieser Vorstellung, irregeleitet durch die Annahme, daß
die Aufgabe der eigentlichen Poesie gewissermaßen bloß eine Entwicklungsstufe
zur höhern Poesie bilde, schuf Mosen seine folgenden Werke. Die Nahrung,
welche die wirkliche Geschichte dem Dichter in reicher Fülle bietet, unterschied
er nicht von der wunderlich destillirten Abstraction, die angeblich die Quintessenz
der Welt und Menschheit enthalten sollte und in Wahrheit einem Tränke glich,
der in dem Genießenden fiebrische, fliegende Hitze erregt, seine Nerven anspannt
und ihn schließlich verschmachten läßt. Im Ernst kann ein echter Dichter (und
daß Mosen ein solcher war, müssen wir immer wieder betonen) nie gemeint
haben, ganze Seiten der Poesie aufzugeben; der Dichter des „Bernhard von
Weimar" und des „Congresses von Verona" scheint gehofft oder instinctiv be¬
absichtigt zu haben, alles Werthvolle der seitherigen dramatischen Poesie un¬
bemerkt in die neue hochpolitische abstracte Tragödie des weltgeschichtlichen Ge¬
dankens hinüberzuretten. Daß ihm dies theilweise gelungen ist, darauf beruht
der bleibende ästhetische Werth der spätern Schöpfungen Mosers. Denn daß
die Dramen „Bernhard von Weimar", „Der Sohn des Fürsten", „Don'Juan
d'Austria" und der schon genannte historische Roman „Der Congreß von Verona"
außerdem interessante Zeugnisse einer bestimmten irrigen Richtung unsrer Lite¬
ratur, einer rasch vorübergegangenen Ueberschätzung, eines kurzathmiger Anlaufs
sind, über Nacht eine neue Poesie zu gewinnen, geht nur dem Kritiker und
Literarhistoriker an. Der Versuch, „die Ideen der Politik in universaler Tiefe
dramatisch zu gestalten", war mit lebendiger poetischer Anschauung und Gestalt
unvereinbar, „Geist der Geschichte" geht die Poesie nur insoweit an, als er sich
in lebendigen Menschengestalten und ergreifenden Menschenschicksalen ausspricht.
So angeschaut, war „Der Sohn des Fürsten" mit den Gestalten des unglück¬
lichen Katte und des jugendlichen Friedrich entschieden Mosers glücklichster Griff


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/36>, abgerufen am 27.12.2024.