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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Der Parlamentarismus in England,

Politik, wenigstens dem Namen nach, fern und besprachen nur gesellschaftliche Re¬
formen. "Es ist aber klar, daß Erörterungen gesellschaftlicher Zustände ohne Ein¬
gehen auf die staatlichen im günstigsten Falle sehr an der Oberfläche bleiben müsse",
daß schon die nnerlänterte Aufstellung und Einschärfung des Gegensatzes zwischen
Staat und Gesellschaft irre führt, daß der Schriftsteller selbst unaufhörlich auf das
politische Gebiet abschweifen muß, und daß die Nothwendigkeit, solche Gednuken-
reihen entweder ganz liegen zu lassen oder nur in einem flüchtigen Selbstgespräche
zu verfolgen, die Gesundheit seiner socialen Betrachtungen sehr gefährdet." Alles
das traf bei Dickens in seinem UouMuolcl Voräs zu. Er gelaugte zuletzt aus
Ueberfluß an Menschenliebe und Mangel an Staatswissenschaft zur Bewunderung
des Bonapartismus.

"Nun, was ist die öffentliche Meinung denn?" fragt Bücher S. 242 seiner
Schrift. "Wo steht sie? Wie ist sie zu ermitteln? In welchem Augenblick ist sie
festzustellen? Steckt sie etwa in der Mehrzahl der Blätter oder der Abzüge? Ist
sie an den Meetings zu erkennen oder in der Unterhaltung?" Die Engländer weisen
bei solchen Fragen ans die Reformbill und die Aufhebung der Kornzölle hin. Aber
mit Recht macht Bucher darauf aufmerksam, daß in beiden Fällen zwei sehr bestimmte
und einander gerade entgegengesetzte öffentliche Meinungen sich geltend zu machen
suchten. "So wäre," fährt er fort, "öffentliche Meinung vielleicht das, was die
Majorität will? Am Jahre 1332 gemessen, ja, an 1346, nein. Die Reformbill
hatte die Unterstützung der Arbeiter. Diese, die Mittelklassen und die Whigs
bildeten die Majorität. Dagegen hatte die Aufhebung der Kornzölle nicht die Mehr¬
heit des Volkes für sich," die meisten Landwirthe, die meisten Geistlichen und die
Masse der städtischen Arbeiter waren gegen die Forderung des Manchesterthums,
und bei allgemeinem Stimmrechte wäre die Maßregel nicht durchzusetzen gewesen.
Man kann auch nicht mit Recht behaupten, Erscheinungen wie die Aufhebung der
Kornzölle sprächen für die Kraft und Vernunft der öffentlichen Meinung, und
Majorität oder nicht, sie siege -- in England wenigstens -- durch die Macht der
Wahrheit. Denn dabei bleibt sie erst recht eine unbekannte Größe, nur potenzirt
dnrch das Vertrauen, daß sie Recht habe, ein Vertrauen, das erst die Erfahrung
rechtfertigen muß. Schon der Ausdruck "Meinung" verräth das Unbestimmbare
des Inhalts.

So hätte also Cade Recht mit seinem bittern Ausrufe?*) Oder Palmerston
mit seiner Rede vom 11. Juni 1329, wo er sagte: Es giebt in der Natur nur
eine bewegende Kraft, den Geist, alles andere ist passiv und trüge. In mensch¬
lichem Dingen ist diese Kraft die Meinung, in politischen Dingen die öffentliche
Meinung, und wer sich dieser Kraft bemächtigen kann, wird mit ihr den Arm von
Fleisch und Bein unterwerfen und seinen Zwecken dienstbar machen. Staatsmänner,
die es verstehen, sich die Leidenschaften, die Interessen und die Meinungen der
Menschen zu Nutze zu machen, sind im Stande, ein Uebergewicht zu erreichen und
einen entscheidenden Einfluß auf die menschlichen Geschicke auszuüben, außer allem
Verhältnisse zu der Kraft und den Hilfsquellen des Staates, den sie regieren."

"Ist deun aber die öffentliche Meinung wirklich nichts als ein blinder Briareus,
den irgend ein Pfifficus tanzen läßt?" fragt der Verfasser. Seine Antwort lautet:
"Es sieht oft genug so aus, aber je unbefangner wir das Hohle und Unberechtigte
anerkennen, desto leichter werden wir das Wahre und Berechtigte in der offene-



*) König Heinrich VI., 2. Theil, 4. Anfz. "Blies mein je eine Feder so leicht hin und
her als diesen Pöbelhaufen."
Der Parlamentarismus in England,

Politik, wenigstens dem Namen nach, fern und besprachen nur gesellschaftliche Re¬
formen. „Es ist aber klar, daß Erörterungen gesellschaftlicher Zustände ohne Ein¬
gehen auf die staatlichen im günstigsten Falle sehr an der Oberfläche bleiben müsse»,
daß schon die nnerlänterte Aufstellung und Einschärfung des Gegensatzes zwischen
Staat und Gesellschaft irre führt, daß der Schriftsteller selbst unaufhörlich auf das
politische Gebiet abschweifen muß, und daß die Nothwendigkeit, solche Gednuken-
reihen entweder ganz liegen zu lassen oder nur in einem flüchtigen Selbstgespräche
zu verfolgen, die Gesundheit seiner socialen Betrachtungen sehr gefährdet." Alles
das traf bei Dickens in seinem UouMuolcl Voräs zu. Er gelaugte zuletzt aus
Ueberfluß an Menschenliebe und Mangel an Staatswissenschaft zur Bewunderung
des Bonapartismus.

„Nun, was ist die öffentliche Meinung denn?" fragt Bücher S. 242 seiner
Schrift. „Wo steht sie? Wie ist sie zu ermitteln? In welchem Augenblick ist sie
festzustellen? Steckt sie etwa in der Mehrzahl der Blätter oder der Abzüge? Ist
sie an den Meetings zu erkennen oder in der Unterhaltung?" Die Engländer weisen
bei solchen Fragen ans die Reformbill und die Aufhebung der Kornzölle hin. Aber
mit Recht macht Bucher darauf aufmerksam, daß in beiden Fällen zwei sehr bestimmte
und einander gerade entgegengesetzte öffentliche Meinungen sich geltend zu machen
suchten. „So wäre," fährt er fort, „öffentliche Meinung vielleicht das, was die
Majorität will? Am Jahre 1332 gemessen, ja, an 1346, nein. Die Reformbill
hatte die Unterstützung der Arbeiter. Diese, die Mittelklassen und die Whigs
bildeten die Majorität. Dagegen hatte die Aufhebung der Kornzölle nicht die Mehr¬
heit des Volkes für sich," die meisten Landwirthe, die meisten Geistlichen und die
Masse der städtischen Arbeiter waren gegen die Forderung des Manchesterthums,
und bei allgemeinem Stimmrechte wäre die Maßregel nicht durchzusetzen gewesen.
Man kann auch nicht mit Recht behaupten, Erscheinungen wie die Aufhebung der
Kornzölle sprächen für die Kraft und Vernunft der öffentlichen Meinung, und
Majorität oder nicht, sie siege — in England wenigstens — durch die Macht der
Wahrheit. Denn dabei bleibt sie erst recht eine unbekannte Größe, nur potenzirt
dnrch das Vertrauen, daß sie Recht habe, ein Vertrauen, das erst die Erfahrung
rechtfertigen muß. Schon der Ausdruck „Meinung" verräth das Unbestimmbare
des Inhalts.

So hätte also Cade Recht mit seinem bittern Ausrufe?*) Oder Palmerston
mit seiner Rede vom 11. Juni 1329, wo er sagte: Es giebt in der Natur nur
eine bewegende Kraft, den Geist, alles andere ist passiv und trüge. In mensch¬
lichem Dingen ist diese Kraft die Meinung, in politischen Dingen die öffentliche
Meinung, und wer sich dieser Kraft bemächtigen kann, wird mit ihr den Arm von
Fleisch und Bein unterwerfen und seinen Zwecken dienstbar machen. Staatsmänner,
die es verstehen, sich die Leidenschaften, die Interessen und die Meinungen der
Menschen zu Nutze zu machen, sind im Stande, ein Uebergewicht zu erreichen und
einen entscheidenden Einfluß auf die menschlichen Geschicke auszuüben, außer allem
Verhältnisse zu der Kraft und den Hilfsquellen des Staates, den sie regieren."

„Ist deun aber die öffentliche Meinung wirklich nichts als ein blinder Briareus,
den irgend ein Pfifficus tanzen läßt?" fragt der Verfasser. Seine Antwort lautet:
„Es sieht oft genug so aus, aber je unbefangner wir das Hohle und Unberechtigte
anerkennen, desto leichter werden wir das Wahre und Berechtigte in der offene-



*) König Heinrich VI., 2. Theil, 4. Anfz. „Blies mein je eine Feder so leicht hin und
her als diesen Pöbelhaufen."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/322>, abgerufen am 28.12.2024.