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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lessingstndien,

endlich entrinnt sie ihm und eilt in die Arme ihrer Mutter, um dieser ihr ge¬
ängstetes Herz auszuschütten.

Und nun folgt jene meisterhafte Scene zwischen Mutter und Tochter. Noch
wogen bei dieser die Empfindungen, die sie eben bewegt haben, auf und ab.
Ihre furchterhitzte Phantasie hat den Prinzen mit ins Haus treten sehen, mit die
Treppe hinaufsteigen hören, und erst in den Armen der Mutter fühlt sie sich
sicher. Dann beginnt sie zuerst sich selbst anzuklagen als Mitschuldige fremden
Lasters und endlich uns Drängen der Mutter den Hergang in abgerissenen Sätzen
zu erzählen. Als sie den Eindruck schildern will, welchen der Anblick des Prinzen
auf sie ausgeübt, da glaubt sie ihr einfaches: "Und da ich mich umwandte und
da ich ihn erblickte" werde der Mutter genügen, denn so sehr hat der Gedanke
an den Prinzen in diesem Augenblick ihr Herz und Sinne eingenommen, daß
für sie jetzt kein andrer "er" da ist, als der Prinz. "Wen, meine Tochter?"
fragt die Mutter. "Rathen Sie, meine Mutter, rathen Sie. -- Ich glaubte
in die Erde zu sinken. -- Ihn selbst"' -- erwiedert Emilia, indem sie es noch
immer vermeidet, den Namen zu nennen, welchen die Scham ihr auszusprechen
verbietet. Und erst auf die erneute Frage der Claudia: "Weil ihn selbst?" ge¬
winnt sie es über sich, den Prinzen zu nennen.

Woher diese unbegreifliche Verwirrung, diese namenlose Angst vor dem ihr
fast fremden und unbekannten Manne? Wie ist es zu erklären, daß sie ihrer
nicht mächtig genug war, ihm in einem Blicke alle die Verachtung zu bezeigen,
die er verdiente? Woher sonst, als weil sie sich nicht sicher vor ihm wußte?
Andernfalls gehört sie in eine Klasse mit denen, die aus ihrer Tugend ein
Schaustück machen, welches sie vor jedem Hauche, jedem unheiligen Worte zu
beschützen suchen, als wenn der Rost auch ächtes Metall fressen könnte, und die
eben dadurch zeigen, daß ihr Metall unächt ist.

Fremdes Laster also hat sie wider ihren Willen zur Mitschuldigen gemacht.
Und doch kommt sie sich nach den beruhigenden Worten der arglosen thörichten
Mutter in ihrer Furcht fast lächerlich vor und sagt sich selbst verspottend: "Was
für ein albernes furchtsames Ding ich bin! -- Nicht, meine Mutter? -- Ich
hätte mich noch Wohl anders dabei nehmen könne", und würde mir ebenso wenig
etwas vergeben haben." Sagen diese Worte nicht das gerade Gegentheil von dem
ans, was wir soeben aus dem übrigen Benehmen Emilias schlössen? Scheint
der Prinz nun nicht ihrem Herzen wieder ganz fern zu stehen? Nein, ich glaube,
alles was wir der Absicht des Dichters gemäß aus diesen Worten schließen
können, ist vielmehr nur, daß jene sündliche Schwäche wider ihr eignes besseres
Bewußtsein, wider ihr reineres Wollen noch so sehr bei ihr im Aufkeimen begriffen
ist, daß sie zu Zeiten in einem plötzlichen Umschlag ihrer Seelenstimmung das


Lessingstndien,

endlich entrinnt sie ihm und eilt in die Arme ihrer Mutter, um dieser ihr ge¬
ängstetes Herz auszuschütten.

Und nun folgt jene meisterhafte Scene zwischen Mutter und Tochter. Noch
wogen bei dieser die Empfindungen, die sie eben bewegt haben, auf und ab.
Ihre furchterhitzte Phantasie hat den Prinzen mit ins Haus treten sehen, mit die
Treppe hinaufsteigen hören, und erst in den Armen der Mutter fühlt sie sich
sicher. Dann beginnt sie zuerst sich selbst anzuklagen als Mitschuldige fremden
Lasters und endlich uns Drängen der Mutter den Hergang in abgerissenen Sätzen
zu erzählen. Als sie den Eindruck schildern will, welchen der Anblick des Prinzen
auf sie ausgeübt, da glaubt sie ihr einfaches: „Und da ich mich umwandte und
da ich ihn erblickte" werde der Mutter genügen, denn so sehr hat der Gedanke
an den Prinzen in diesem Augenblick ihr Herz und Sinne eingenommen, daß
für sie jetzt kein andrer „er" da ist, als der Prinz. „Wen, meine Tochter?"
fragt die Mutter. „Rathen Sie, meine Mutter, rathen Sie. — Ich glaubte
in die Erde zu sinken. — Ihn selbst"' — erwiedert Emilia, indem sie es noch
immer vermeidet, den Namen zu nennen, welchen die Scham ihr auszusprechen
verbietet. Und erst auf die erneute Frage der Claudia: „Weil ihn selbst?" ge¬
winnt sie es über sich, den Prinzen zu nennen.

Woher diese unbegreifliche Verwirrung, diese namenlose Angst vor dem ihr
fast fremden und unbekannten Manne? Wie ist es zu erklären, daß sie ihrer
nicht mächtig genug war, ihm in einem Blicke alle die Verachtung zu bezeigen,
die er verdiente? Woher sonst, als weil sie sich nicht sicher vor ihm wußte?
Andernfalls gehört sie in eine Klasse mit denen, die aus ihrer Tugend ein
Schaustück machen, welches sie vor jedem Hauche, jedem unheiligen Worte zu
beschützen suchen, als wenn der Rost auch ächtes Metall fressen könnte, und die
eben dadurch zeigen, daß ihr Metall unächt ist.

Fremdes Laster also hat sie wider ihren Willen zur Mitschuldigen gemacht.
Und doch kommt sie sich nach den beruhigenden Worten der arglosen thörichten
Mutter in ihrer Furcht fast lächerlich vor und sagt sich selbst verspottend: „Was
für ein albernes furchtsames Ding ich bin! — Nicht, meine Mutter? — Ich
hätte mich noch Wohl anders dabei nehmen könne», und würde mir ebenso wenig
etwas vergeben haben." Sagen diese Worte nicht das gerade Gegentheil von dem
ans, was wir soeben aus dem übrigen Benehmen Emilias schlössen? Scheint
der Prinz nun nicht ihrem Herzen wieder ganz fern zu stehen? Nein, ich glaube,
alles was wir der Absicht des Dichters gemäß aus diesen Worten schließen
können, ist vielmehr nur, daß jene sündliche Schwäche wider ihr eignes besseres
Bewußtsein, wider ihr reineres Wollen noch so sehr bei ihr im Aufkeimen begriffen
ist, daß sie zu Zeiten in einem plötzlichen Umschlag ihrer Seelenstimmung das


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[0311] Lessingstndien, endlich entrinnt sie ihm und eilt in die Arme ihrer Mutter, um dieser ihr ge¬ ängstetes Herz auszuschütten. Und nun folgt jene meisterhafte Scene zwischen Mutter und Tochter. Noch wogen bei dieser die Empfindungen, die sie eben bewegt haben, auf und ab. Ihre furchterhitzte Phantasie hat den Prinzen mit ins Haus treten sehen, mit die Treppe hinaufsteigen hören, und erst in den Armen der Mutter fühlt sie sich sicher. Dann beginnt sie zuerst sich selbst anzuklagen als Mitschuldige fremden Lasters und endlich uns Drängen der Mutter den Hergang in abgerissenen Sätzen zu erzählen. Als sie den Eindruck schildern will, welchen der Anblick des Prinzen auf sie ausgeübt, da glaubt sie ihr einfaches: „Und da ich mich umwandte und da ich ihn erblickte" werde der Mutter genügen, denn so sehr hat der Gedanke an den Prinzen in diesem Augenblick ihr Herz und Sinne eingenommen, daß für sie jetzt kein andrer „er" da ist, als der Prinz. „Wen, meine Tochter?" fragt die Mutter. „Rathen Sie, meine Mutter, rathen Sie. — Ich glaubte in die Erde zu sinken. — Ihn selbst"' — erwiedert Emilia, indem sie es noch immer vermeidet, den Namen zu nennen, welchen die Scham ihr auszusprechen verbietet. Und erst auf die erneute Frage der Claudia: „Weil ihn selbst?" ge¬ winnt sie es über sich, den Prinzen zu nennen. Woher diese unbegreifliche Verwirrung, diese namenlose Angst vor dem ihr fast fremden und unbekannten Manne? Wie ist es zu erklären, daß sie ihrer nicht mächtig genug war, ihm in einem Blicke alle die Verachtung zu bezeigen, die er verdiente? Woher sonst, als weil sie sich nicht sicher vor ihm wußte? Andernfalls gehört sie in eine Klasse mit denen, die aus ihrer Tugend ein Schaustück machen, welches sie vor jedem Hauche, jedem unheiligen Worte zu beschützen suchen, als wenn der Rost auch ächtes Metall fressen könnte, und die eben dadurch zeigen, daß ihr Metall unächt ist. Fremdes Laster also hat sie wider ihren Willen zur Mitschuldigen gemacht. Und doch kommt sie sich nach den beruhigenden Worten der arglosen thörichten Mutter in ihrer Furcht fast lächerlich vor und sagt sich selbst verspottend: „Was für ein albernes furchtsames Ding ich bin! — Nicht, meine Mutter? — Ich hätte mich noch Wohl anders dabei nehmen könne», und würde mir ebenso wenig etwas vergeben haben." Sagen diese Worte nicht das gerade Gegentheil von dem ans, was wir soeben aus dem übrigen Benehmen Emilias schlössen? Scheint der Prinz nun nicht ihrem Herzen wieder ganz fern zu stehen? Nein, ich glaube, alles was wir der Absicht des Dichters gemäß aus diesen Worten schließen können, ist vielmehr nur, daß jene sündliche Schwäche wider ihr eignes besseres Bewußtsein, wider ihr reineres Wollen noch so sehr bei ihr im Aufkeimen begriffen ist, daß sie zu Zeiten in einem plötzlichen Umschlag ihrer Seelenstimmung das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/311>, abgerufen am 14.01.2025.