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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lessingstudien.

zuschieben, die ihm ganz fern lagen. Denn nur zu leicht findet man in solchen
Dingen etwas, sobald man es nur recht ernstlich finden will. Dagegen wird
man bei Lessing mit Fug darauf hinweisen dürfen, daß man sich ihm gegenüber
nicht genug hüten kann von Zufälligkeiten zu reden, da die Reflexion -- die
Kritik, wie er selbst sagte -- in seinen dichterischen Werken entschieden vorwaltet.
Auch Emilia macht davon keine Ausnahme, von deren erstem Entwürfe er, sich
selbst verspottend, schrieb, daß er alle sieben Tage sieben Zeilen weiterrücke (an
Nicolai, 21. Januar 1758).

Aber mag man doch über die angeführten Stellen urtheilen, wie man will --
es stünde schlimm um den Dichter, wenn auf ihnen zuletzt das Verständniß von
Emilias Verhältniß zu Appiani beruhte. Auch ohne diese Stellen wird man
jenes Verhältniß nicht anders bestimmen können, als es im vorigen auf Grund
der betreffenden Scenen des zweiten Actes geschehen ist. Von dem gewonnenen
Resultate aus gilt es nun auch das Verhältniß Emilias zum Prinzen zu be¬
stimmen.

Um es gleich von vornherein mit wenigen Worten zu sagen: ich glaube
daß der Dichter auf den Eindruck, welchen der Prinz auf Emilia bei ihrer ersten
Begegnung im Hause des Kanzlers Grimaldi gemacht hat, die ganze Entwick¬
lung des Dramas gebaut hat. Dieser Eindruck ist für Emilia nahezu über¬
wältigend gewesen. Er hat ihre Sinne vollkommen gefangen genommen, ihr
ein ganz neues Empfindungsleben aufgeschlossen, er hat -- wie es Rötscher
ausdrückt -- in Emilia das Weib in ihrem geheimsten Empfinden ergriffen.
Die ganze Tragweite dieses Vorgangs ist Emilien zu dem Zeitpunkte, an welchem
die Handlung des Stückes einsetzt, selbst noch nicht klar, seine Wirkungen äußern
sich nur halb unbewußt bei einzelnen Gelegenheiten. Der Tod Appianis, welcher
sie rettungslos in die Hände des Prinzen liefert, erhellt ihr mit fürchterlicher
Deutlichkeit den sittlichen Abgrund, an welchem sie steht, und diese Erkenntniß
ruft den verzweifelten Wunsch nach dem Tode bei ihr wach. So sind, mit
Lessing zu reden, "Charakter und Unglück" fest aneinander gekettet, eins ist in
dem andern gegründet, oder um die Sprache unsrer neuern Aesthetiker anzu¬
wenden: der Tod Emilias, den sie selbst herbeiwünscht, ist nicht ein unverschuldetes
Loos, sondern die verdiente Sühnung ihrer Schuld. Zum Beweise dafür wird
es vor allem nöthig sein, wie vorher auf Appiani, so jetzt auf den Charakter
des Prinzen einen Blick zu werfen.

Der Prinz ist mit richten eine innerlich völlig corrumpirte Erscheinung,
vielmehr allem Schönen und Edeln zugänglich, mit offnem Kopf und warmem
Herzen, aber ihm fehlt der sittliche Halt, die Energie eines reinen Willens, und
so besteht sein Grundfehler in jener unglückseligen Halbheit, die ihn weder groß


Lessingstudien.

zuschieben, die ihm ganz fern lagen. Denn nur zu leicht findet man in solchen
Dingen etwas, sobald man es nur recht ernstlich finden will. Dagegen wird
man bei Lessing mit Fug darauf hinweisen dürfen, daß man sich ihm gegenüber
nicht genug hüten kann von Zufälligkeiten zu reden, da die Reflexion — die
Kritik, wie er selbst sagte — in seinen dichterischen Werken entschieden vorwaltet.
Auch Emilia macht davon keine Ausnahme, von deren erstem Entwürfe er, sich
selbst verspottend, schrieb, daß er alle sieben Tage sieben Zeilen weiterrücke (an
Nicolai, 21. Januar 1758).

Aber mag man doch über die angeführten Stellen urtheilen, wie man will —
es stünde schlimm um den Dichter, wenn auf ihnen zuletzt das Verständniß von
Emilias Verhältniß zu Appiani beruhte. Auch ohne diese Stellen wird man
jenes Verhältniß nicht anders bestimmen können, als es im vorigen auf Grund
der betreffenden Scenen des zweiten Actes geschehen ist. Von dem gewonnenen
Resultate aus gilt es nun auch das Verhältniß Emilias zum Prinzen zu be¬
stimmen.

Um es gleich von vornherein mit wenigen Worten zu sagen: ich glaube
daß der Dichter auf den Eindruck, welchen der Prinz auf Emilia bei ihrer ersten
Begegnung im Hause des Kanzlers Grimaldi gemacht hat, die ganze Entwick¬
lung des Dramas gebaut hat. Dieser Eindruck ist für Emilia nahezu über¬
wältigend gewesen. Er hat ihre Sinne vollkommen gefangen genommen, ihr
ein ganz neues Empfindungsleben aufgeschlossen, er hat — wie es Rötscher
ausdrückt — in Emilia das Weib in ihrem geheimsten Empfinden ergriffen.
Die ganze Tragweite dieses Vorgangs ist Emilien zu dem Zeitpunkte, an welchem
die Handlung des Stückes einsetzt, selbst noch nicht klar, seine Wirkungen äußern
sich nur halb unbewußt bei einzelnen Gelegenheiten. Der Tod Appianis, welcher
sie rettungslos in die Hände des Prinzen liefert, erhellt ihr mit fürchterlicher
Deutlichkeit den sittlichen Abgrund, an welchem sie steht, und diese Erkenntniß
ruft den verzweifelten Wunsch nach dem Tode bei ihr wach. So sind, mit
Lessing zu reden, „Charakter und Unglück" fest aneinander gekettet, eins ist in
dem andern gegründet, oder um die Sprache unsrer neuern Aesthetiker anzu¬
wenden: der Tod Emilias, den sie selbst herbeiwünscht, ist nicht ein unverschuldetes
Loos, sondern die verdiente Sühnung ihrer Schuld. Zum Beweise dafür wird
es vor allem nöthig sein, wie vorher auf Appiani, so jetzt auf den Charakter
des Prinzen einen Blick zu werfen.

Der Prinz ist mit richten eine innerlich völlig corrumpirte Erscheinung,
vielmehr allem Schönen und Edeln zugänglich, mit offnem Kopf und warmem
Herzen, aber ihm fehlt der sittliche Halt, die Energie eines reinen Willens, und
so besteht sein Grundfehler in jener unglückseligen Halbheit, die ihn weder groß


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[0309] Lessingstudien. zuschieben, die ihm ganz fern lagen. Denn nur zu leicht findet man in solchen Dingen etwas, sobald man es nur recht ernstlich finden will. Dagegen wird man bei Lessing mit Fug darauf hinweisen dürfen, daß man sich ihm gegenüber nicht genug hüten kann von Zufälligkeiten zu reden, da die Reflexion — die Kritik, wie er selbst sagte — in seinen dichterischen Werken entschieden vorwaltet. Auch Emilia macht davon keine Ausnahme, von deren erstem Entwürfe er, sich selbst verspottend, schrieb, daß er alle sieben Tage sieben Zeilen weiterrücke (an Nicolai, 21. Januar 1758). Aber mag man doch über die angeführten Stellen urtheilen, wie man will — es stünde schlimm um den Dichter, wenn auf ihnen zuletzt das Verständniß von Emilias Verhältniß zu Appiani beruhte. Auch ohne diese Stellen wird man jenes Verhältniß nicht anders bestimmen können, als es im vorigen auf Grund der betreffenden Scenen des zweiten Actes geschehen ist. Von dem gewonnenen Resultate aus gilt es nun auch das Verhältniß Emilias zum Prinzen zu be¬ stimmen. Um es gleich von vornherein mit wenigen Worten zu sagen: ich glaube daß der Dichter auf den Eindruck, welchen der Prinz auf Emilia bei ihrer ersten Begegnung im Hause des Kanzlers Grimaldi gemacht hat, die ganze Entwick¬ lung des Dramas gebaut hat. Dieser Eindruck ist für Emilia nahezu über¬ wältigend gewesen. Er hat ihre Sinne vollkommen gefangen genommen, ihr ein ganz neues Empfindungsleben aufgeschlossen, er hat — wie es Rötscher ausdrückt — in Emilia das Weib in ihrem geheimsten Empfinden ergriffen. Die ganze Tragweite dieses Vorgangs ist Emilien zu dem Zeitpunkte, an welchem die Handlung des Stückes einsetzt, selbst noch nicht klar, seine Wirkungen äußern sich nur halb unbewußt bei einzelnen Gelegenheiten. Der Tod Appianis, welcher sie rettungslos in die Hände des Prinzen liefert, erhellt ihr mit fürchterlicher Deutlichkeit den sittlichen Abgrund, an welchem sie steht, und diese Erkenntniß ruft den verzweifelten Wunsch nach dem Tode bei ihr wach. So sind, mit Lessing zu reden, „Charakter und Unglück" fest aneinander gekettet, eins ist in dem andern gegründet, oder um die Sprache unsrer neuern Aesthetiker anzu¬ wenden: der Tod Emilias, den sie selbst herbeiwünscht, ist nicht ein unverschuldetes Loos, sondern die verdiente Sühnung ihrer Schuld. Zum Beweise dafür wird es vor allem nöthig sein, wie vorher auf Appiani, so jetzt auf den Charakter des Prinzen einen Blick zu werfen. Der Prinz ist mit richten eine innerlich völlig corrumpirte Erscheinung, vielmehr allem Schönen und Edeln zugänglich, mit offnem Kopf und warmem Herzen, aber ihm fehlt der sittliche Halt, die Energie eines reinen Willens, und so besteht sein Grundfehler in jener unglückseligen Halbheit, die ihn weder groß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/309>, abgerufen am 28.12.2024.