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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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diesen Punkt einen klaren Blick zu gewinnen, ist es nöthig, daß wir vorher das
Verhältniß Emilias zu Appiani an der Hand des Wenigen, was unser Stück
darüber sagt, hauptsächlich aber unter psychologischer Berücksichtigung der Charaktere
beider ins Auge fassen.

"Die jungfräulichen Heroinen und Philosophinnen sind gar nicht nach meinem
Geschmack" schreibt Lessing mit Beziehung auf unser Stück am 10. Februar 1772
an seinen Bruder, und er fügt hinzu: "Ich kenne an einem unverheirateten
Mädchen keine höhere Tugenden als Frömmigkeit und Gehorsam." Hier haben
wir einen authentischen Aufschluß über deu Charakter der Heldin, der auch ge¬
eignet ist, über ihr Verhältniß zu ihrem Verlobten Licht zu verbreiten. Mau
hat an diesem Verhältniß schon kurz nach dem Erscheinen des Stückes gemäkelt.
Caroline Flachsland schrieb im Juni 1772 an Herder: "Aber mich dünkt, Lessing
hat nie geliebt, wenigstens nicht tief in der Seele," und Herder antwortete ihr:
"Nur freilich Weiber würdig schildern werdet Ihr dem guten Manne kaum zu¬
geben und ich glands selbst." (Aus Herders Nachlaß III, 285 u. 301). Auch
andere Beurtheiler haben verlangt, daß das liebende Paar mehr im Vordergrunde
des Interesses stehen sollte. (So Mauvillou in der auscrles. Bibl. der neuesten
deutschen Literatur II. (1772) 166.) Ich glaube aber, Lessing hat mit gutem
Gründe das Verhältniß von Seiten Emilias als ein so kühles dargestellt. Er
wollte sich dadurch die Möglichkeit offen halten, daß die Erscheinung des Prinzen
einen tiefen Eindruck auf das Herz Emiliens machen könne. Seine Emilia durfte
noch gar nicht geliebt haben, als sie Appiani die Hand zum Verlöbniß reichte,
um dann einem fremden Manne gegenüber von dem ihr bisher unbekannten
Feuer, welches ihr selbst -- gebunden wie sie nun einmal war -- als ein ver¬
brecherisches erscheinen mußte, nur um so mächtiger und unwiderstehlicher ergriffen
zu werden. In kindlichem Gehorsam und in blindem Vertrauen zu der Einsicht
ihrer Eltern hat sie, ohne ihr eignes Herz zu befragen und recht zu kennen,
in die Heirat mit dem Grafen gewilligt, sich vielleicht anch eingeredet, daß das
Gefühl der unbegrenzten Hochachtung, welches sie vor der sittlichen Manneswürde
in Appiani empfinden muß, Liebe sei.

Eben aus dieser Auffassung ist auch die Anlage von Appianis Charakter
zu erklären. Appiani ist ein Sonderling voller Schwermuth und Tiefsinn,
-- einen "Empfindsamen" nennt ihn Marinelli --, von edler Sittlichkeit durch¬
drungen und in sofern charaktcrstark, aber ohne die wahre Willensfestigkeit, etwas
angekränkelt von der Rousseauschen Naturschwärmerei seiner Zeit und der Bethäti¬
gung männlicher Kraft im praktischen Leben abhold, dabei ein Mann, der ähnlich wie
Tellheim und Odoardo in seiner "stolzen Bescheidenheit" sich nirgends aufdrängen
mag und schon deshalb das Hofleben haßt. In Odoardo, der beim Prinzen


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diesen Punkt einen klaren Blick zu gewinnen, ist es nöthig, daß wir vorher das
Verhältniß Emilias zu Appiani an der Hand des Wenigen, was unser Stück
darüber sagt, hauptsächlich aber unter psychologischer Berücksichtigung der Charaktere
beider ins Auge fassen.

„Die jungfräulichen Heroinen und Philosophinnen sind gar nicht nach meinem
Geschmack" schreibt Lessing mit Beziehung auf unser Stück am 10. Februar 1772
an seinen Bruder, und er fügt hinzu: „Ich kenne an einem unverheirateten
Mädchen keine höhere Tugenden als Frömmigkeit und Gehorsam." Hier haben
wir einen authentischen Aufschluß über deu Charakter der Heldin, der auch ge¬
eignet ist, über ihr Verhältniß zu ihrem Verlobten Licht zu verbreiten. Mau
hat an diesem Verhältniß schon kurz nach dem Erscheinen des Stückes gemäkelt.
Caroline Flachsland schrieb im Juni 1772 an Herder: „Aber mich dünkt, Lessing
hat nie geliebt, wenigstens nicht tief in der Seele," und Herder antwortete ihr:
„Nur freilich Weiber würdig schildern werdet Ihr dem guten Manne kaum zu¬
geben und ich glands selbst." (Aus Herders Nachlaß III, 285 u. 301). Auch
andere Beurtheiler haben verlangt, daß das liebende Paar mehr im Vordergrunde
des Interesses stehen sollte. (So Mauvillou in der auscrles. Bibl. der neuesten
deutschen Literatur II. (1772) 166.) Ich glaube aber, Lessing hat mit gutem
Gründe das Verhältniß von Seiten Emilias als ein so kühles dargestellt. Er
wollte sich dadurch die Möglichkeit offen halten, daß die Erscheinung des Prinzen
einen tiefen Eindruck auf das Herz Emiliens machen könne. Seine Emilia durfte
noch gar nicht geliebt haben, als sie Appiani die Hand zum Verlöbniß reichte,
um dann einem fremden Manne gegenüber von dem ihr bisher unbekannten
Feuer, welches ihr selbst — gebunden wie sie nun einmal war — als ein ver¬
brecherisches erscheinen mußte, nur um so mächtiger und unwiderstehlicher ergriffen
zu werden. In kindlichem Gehorsam und in blindem Vertrauen zu der Einsicht
ihrer Eltern hat sie, ohne ihr eignes Herz zu befragen und recht zu kennen,
in die Heirat mit dem Grafen gewilligt, sich vielleicht anch eingeredet, daß das
Gefühl der unbegrenzten Hochachtung, welches sie vor der sittlichen Manneswürde
in Appiani empfinden muß, Liebe sei.

Eben aus dieser Auffassung ist auch die Anlage von Appianis Charakter
zu erklären. Appiani ist ein Sonderling voller Schwermuth und Tiefsinn,
— einen „Empfindsamen" nennt ihn Marinelli —, von edler Sittlichkeit durch¬
drungen und in sofern charaktcrstark, aber ohne die wahre Willensfestigkeit, etwas
angekränkelt von der Rousseauschen Naturschwärmerei seiner Zeit und der Bethäti¬
gung männlicher Kraft im praktischen Leben abhold, dabei ein Mann, der ähnlich wie
Tellheim und Odoardo in seiner „stolzen Bescheidenheit" sich nirgends aufdrängen
mag und schon deshalb das Hofleben haßt. In Odoardo, der beim Prinzen


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[0307] Lcssingstudicn. diesen Punkt einen klaren Blick zu gewinnen, ist es nöthig, daß wir vorher das Verhältniß Emilias zu Appiani an der Hand des Wenigen, was unser Stück darüber sagt, hauptsächlich aber unter psychologischer Berücksichtigung der Charaktere beider ins Auge fassen. „Die jungfräulichen Heroinen und Philosophinnen sind gar nicht nach meinem Geschmack" schreibt Lessing mit Beziehung auf unser Stück am 10. Februar 1772 an seinen Bruder, und er fügt hinzu: „Ich kenne an einem unverheirateten Mädchen keine höhere Tugenden als Frömmigkeit und Gehorsam." Hier haben wir einen authentischen Aufschluß über deu Charakter der Heldin, der auch ge¬ eignet ist, über ihr Verhältniß zu ihrem Verlobten Licht zu verbreiten. Mau hat an diesem Verhältniß schon kurz nach dem Erscheinen des Stückes gemäkelt. Caroline Flachsland schrieb im Juni 1772 an Herder: „Aber mich dünkt, Lessing hat nie geliebt, wenigstens nicht tief in der Seele," und Herder antwortete ihr: „Nur freilich Weiber würdig schildern werdet Ihr dem guten Manne kaum zu¬ geben und ich glands selbst." (Aus Herders Nachlaß III, 285 u. 301). Auch andere Beurtheiler haben verlangt, daß das liebende Paar mehr im Vordergrunde des Interesses stehen sollte. (So Mauvillou in der auscrles. Bibl. der neuesten deutschen Literatur II. (1772) 166.) Ich glaube aber, Lessing hat mit gutem Gründe das Verhältniß von Seiten Emilias als ein so kühles dargestellt. Er wollte sich dadurch die Möglichkeit offen halten, daß die Erscheinung des Prinzen einen tiefen Eindruck auf das Herz Emiliens machen könne. Seine Emilia durfte noch gar nicht geliebt haben, als sie Appiani die Hand zum Verlöbniß reichte, um dann einem fremden Manne gegenüber von dem ihr bisher unbekannten Feuer, welches ihr selbst — gebunden wie sie nun einmal war — als ein ver¬ brecherisches erscheinen mußte, nur um so mächtiger und unwiderstehlicher ergriffen zu werden. In kindlichem Gehorsam und in blindem Vertrauen zu der Einsicht ihrer Eltern hat sie, ohne ihr eignes Herz zu befragen und recht zu kennen, in die Heirat mit dem Grafen gewilligt, sich vielleicht anch eingeredet, daß das Gefühl der unbegrenzten Hochachtung, welches sie vor der sittlichen Manneswürde in Appiani empfinden muß, Liebe sei. Eben aus dieser Auffassung ist auch die Anlage von Appianis Charakter zu erklären. Appiani ist ein Sonderling voller Schwermuth und Tiefsinn, — einen „Empfindsamen" nennt ihn Marinelli —, von edler Sittlichkeit durch¬ drungen und in sofern charaktcrstark, aber ohne die wahre Willensfestigkeit, etwas angekränkelt von der Rousseauschen Naturschwärmerei seiner Zeit und der Bethäti¬ gung männlicher Kraft im praktischen Leben abhold, dabei ein Mann, der ähnlich wie Tellheim und Odoardo in seiner „stolzen Bescheidenheit" sich nirgends aufdrängen mag und schon deshalb das Hofleben haßt. In Odoardo, der beim Prinzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/307>, abgerufen am 28.12.2024.