Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das vergangene: ^ahr.

sich über die Parteien zu stellen und sich die Majorität von Fall zu Fall zusuchen,
wo sie zu finden ist. Sodann aber kann ein nüchternes Auge unmöglich verkennen,
daß eine Persönlichkeit von dem genialen Blicke und der gewaltigen Energie
des Fürsten Bismarck nicht in den Rahmen eines für gewöhnliche Portefenille-
träger, für Leute, die das Parlament für sich denken lassen, gezimmerten con-
stitutionellen Systems paßt, daß er vielmehr eine historisch gewordene Macht
repräsentiert, der man sich so weit als irgend möglich anzuschließen und unter¬
zuordnen hat. Die Herren von der "großen liberalen Partei" -- groß bis jetzt
nur auf dem Papiere -- begriffen dies einst und handelten darnach gleich
denen, welchen sie nunmehr den Rücken gewandt haben. Sie schlössen wie diese
Compromisse, und sie hatten es nicht zu bereuen; denn nur durch verständige
Nachgiebigkeit erreichte die nationalliberale Mittelpartei die ihr werthvollen Re¬
formen, die sie in Gemeinschaft mit dem Fürsten durchsetzte. Aber seit 1877
ist dies wesentlich anders geworden, und als der Reichskanzler erkennen mühte,
daß die Nationalliberalen immer weniger Neigung kundgaben, mit den gemäßig¬
ten Konservativen seine Partei zu sein, war es natürlich, daß er sich Unter¬
stützung für seine Pläne in andern Lagern suchte; und daß die Herren, die
jetzt das Nationale nicht mehr betonen und bloß noch Liberale sein wollen,
dies übel empfanden, begreift sich ebenfalls. Wer büßt gern an Macht und
Einfluß ein? Aber für die Wähler dieser Politiker existiert das Bedürfniß
von Parteigrößen nicht. Wenn die Achtundzwanzig von den neuen Wahlen
ein Additionsexempel erhofften, so kann es leicht ein Snbtractionsexempel geben.
Die Altliberalen wußten davon ein Lied zu singen, die Fortschrittler gleicher¬
maßen, und die Nationalliberalen waren auch schon zahlreicher als in der
letzten Periode. Der Instinkt des Volkes ist nun einmal zuweilen klüger als
die Fractionsweisheit seiner Vertreter.

Die Herbstsession des preußischen Landtags hatte wenig, was der Erwäh¬
nung in einem Berichte, der nur der Hauptsachen gedenken soll, werth wäre.
Die Jnterpellation der Fortschrittspartei in Betreff der Stellung der Regierung
zu der Antisemiten-Petition war kein glücklicher Gedanke und hat der Bewegung
gegen die Juden keineswegs ein Ende gemacht. Im Gegentheile, die letztere ist
damit nur mehr in die Öffentlichkeit getreten und in weitere Kreise gedrun¬
gen. Auch waren die Redner, welche die Sache Israels führten, mit ihren
Argumenten aus dem alten Eisen, denen, welche die gegentheilige Ansicht vertraten
und dabei ins Leben, in die Thatsachen griffen, durchaus nicht überlegen. Die Be-
rathung des Cultusetats führte, wie hergebracht, wieder zu eiuer großen Cultur¬
kampfsdebatte, die indeß nicht viel Neues zu Tage förderte. Der conservative
Cultusminister erfuhr von Seiten des Centrums dieselbe Kritik und hatte dieselben
unerfüllbaren Forderungen abzulehnen wie sein liberaler Vorgänger. Erfreu-


Das vergangene: ^ahr.

sich über die Parteien zu stellen und sich die Majorität von Fall zu Fall zusuchen,
wo sie zu finden ist. Sodann aber kann ein nüchternes Auge unmöglich verkennen,
daß eine Persönlichkeit von dem genialen Blicke und der gewaltigen Energie
des Fürsten Bismarck nicht in den Rahmen eines für gewöhnliche Portefenille-
träger, für Leute, die das Parlament für sich denken lassen, gezimmerten con-
stitutionellen Systems paßt, daß er vielmehr eine historisch gewordene Macht
repräsentiert, der man sich so weit als irgend möglich anzuschließen und unter¬
zuordnen hat. Die Herren von der »großen liberalen Partei" — groß bis jetzt
nur auf dem Papiere — begriffen dies einst und handelten darnach gleich
denen, welchen sie nunmehr den Rücken gewandt haben. Sie schlössen wie diese
Compromisse, und sie hatten es nicht zu bereuen; denn nur durch verständige
Nachgiebigkeit erreichte die nationalliberale Mittelpartei die ihr werthvollen Re¬
formen, die sie in Gemeinschaft mit dem Fürsten durchsetzte. Aber seit 1877
ist dies wesentlich anders geworden, und als der Reichskanzler erkennen mühte,
daß die Nationalliberalen immer weniger Neigung kundgaben, mit den gemäßig¬
ten Konservativen seine Partei zu sein, war es natürlich, daß er sich Unter¬
stützung für seine Pläne in andern Lagern suchte; und daß die Herren, die
jetzt das Nationale nicht mehr betonen und bloß noch Liberale sein wollen,
dies übel empfanden, begreift sich ebenfalls. Wer büßt gern an Macht und
Einfluß ein? Aber für die Wähler dieser Politiker existiert das Bedürfniß
von Parteigrößen nicht. Wenn die Achtundzwanzig von den neuen Wahlen
ein Additionsexempel erhofften, so kann es leicht ein Snbtractionsexempel geben.
Die Altliberalen wußten davon ein Lied zu singen, die Fortschrittler gleicher¬
maßen, und die Nationalliberalen waren auch schon zahlreicher als in der
letzten Periode. Der Instinkt des Volkes ist nun einmal zuweilen klüger als
die Fractionsweisheit seiner Vertreter.

Die Herbstsession des preußischen Landtags hatte wenig, was der Erwäh¬
nung in einem Berichte, der nur der Hauptsachen gedenken soll, werth wäre.
Die Jnterpellation der Fortschrittspartei in Betreff der Stellung der Regierung
zu der Antisemiten-Petition war kein glücklicher Gedanke und hat der Bewegung
gegen die Juden keineswegs ein Ende gemacht. Im Gegentheile, die letztere ist
damit nur mehr in die Öffentlichkeit getreten und in weitere Kreise gedrun¬
gen. Auch waren die Redner, welche die Sache Israels führten, mit ihren
Argumenten aus dem alten Eisen, denen, welche die gegentheilige Ansicht vertraten
und dabei ins Leben, in die Thatsachen griffen, durchaus nicht überlegen. Die Be-
rathung des Cultusetats führte, wie hergebracht, wieder zu eiuer großen Cultur¬
kampfsdebatte, die indeß nicht viel Neues zu Tage förderte. Der conservative
Cultusminister erfuhr von Seiten des Centrums dieselbe Kritik und hatte dieselben
unerfüllbaren Forderungen abzulehnen wie sein liberaler Vorgänger. Erfreu-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149000"/>
          <fw type="header" place="top"> Das vergangene: ^ahr.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_23" prev="#ID_22"> sich über die Parteien zu stellen und sich die Majorität von Fall zu Fall zusuchen,<lb/>
wo sie zu finden ist. Sodann aber kann ein nüchternes Auge unmöglich verkennen,<lb/>
daß eine Persönlichkeit von dem genialen Blicke und der gewaltigen Energie<lb/>
des Fürsten Bismarck nicht in den Rahmen eines für gewöhnliche Portefenille-<lb/>
träger, für Leute, die das Parlament für sich denken lassen, gezimmerten con-<lb/>
stitutionellen Systems paßt, daß er vielmehr eine historisch gewordene Macht<lb/>
repräsentiert, der man sich so weit als irgend möglich anzuschließen und unter¬<lb/>
zuordnen hat. Die Herren von der »großen liberalen Partei" &#x2014; groß bis jetzt<lb/>
nur auf dem Papiere &#x2014; begriffen dies einst und handelten darnach gleich<lb/>
denen, welchen sie nunmehr den Rücken gewandt haben. Sie schlössen wie diese<lb/>
Compromisse, und sie hatten es nicht zu bereuen; denn nur durch verständige<lb/>
Nachgiebigkeit erreichte die nationalliberale Mittelpartei die ihr werthvollen Re¬<lb/>
formen, die sie in Gemeinschaft mit dem Fürsten durchsetzte. Aber seit 1877<lb/>
ist dies wesentlich anders geworden, und als der Reichskanzler erkennen mühte,<lb/>
daß die Nationalliberalen immer weniger Neigung kundgaben, mit den gemäßig¬<lb/>
ten Konservativen seine Partei zu sein, war es natürlich, daß er sich Unter¬<lb/>
stützung für seine Pläne in andern Lagern suchte; und daß die Herren, die<lb/>
jetzt das Nationale nicht mehr betonen und bloß noch Liberale sein wollen,<lb/>
dies übel empfanden, begreift sich ebenfalls. Wer büßt gern an Macht und<lb/>
Einfluß ein? Aber für die Wähler dieser Politiker existiert das Bedürfniß<lb/>
von Parteigrößen nicht. Wenn die Achtundzwanzig von den neuen Wahlen<lb/>
ein Additionsexempel erhofften, so kann es leicht ein Snbtractionsexempel geben.<lb/>
Die Altliberalen wußten davon ein Lied zu singen, die Fortschrittler gleicher¬<lb/>
maßen, und die Nationalliberalen waren auch schon zahlreicher als in der<lb/>
letzten Periode. Der Instinkt des Volkes ist nun einmal zuweilen klüger als<lb/>
die Fractionsweisheit seiner Vertreter.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_24" next="#ID_25"> Die Herbstsession des preußischen Landtags hatte wenig, was der Erwäh¬<lb/>
nung in einem Berichte, der nur der Hauptsachen gedenken soll, werth wäre.<lb/>
Die Jnterpellation der Fortschrittspartei in Betreff der Stellung der Regierung<lb/>
zu der Antisemiten-Petition war kein glücklicher Gedanke und hat der Bewegung<lb/>
gegen die Juden keineswegs ein Ende gemacht. Im Gegentheile, die letztere ist<lb/>
damit nur mehr in die Öffentlichkeit getreten und in weitere Kreise gedrun¬<lb/>
gen. Auch waren die Redner, welche die Sache Israels führten, mit ihren<lb/>
Argumenten aus dem alten Eisen, denen, welche die gegentheilige Ansicht vertraten<lb/>
und dabei ins Leben, in die Thatsachen griffen, durchaus nicht überlegen. Die Be-<lb/>
rathung des Cultusetats führte, wie hergebracht, wieder zu eiuer großen Cultur¬<lb/>
kampfsdebatte, die indeß nicht viel Neues zu Tage förderte. Der conservative<lb/>
Cultusminister erfuhr von Seiten des Centrums dieselbe Kritik und hatte dieselben<lb/>
unerfüllbaren Forderungen abzulehnen wie sein liberaler Vorgänger. Erfreu-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0016] Das vergangene: ^ahr. sich über die Parteien zu stellen und sich die Majorität von Fall zu Fall zusuchen, wo sie zu finden ist. Sodann aber kann ein nüchternes Auge unmöglich verkennen, daß eine Persönlichkeit von dem genialen Blicke und der gewaltigen Energie des Fürsten Bismarck nicht in den Rahmen eines für gewöhnliche Portefenille- träger, für Leute, die das Parlament für sich denken lassen, gezimmerten con- stitutionellen Systems paßt, daß er vielmehr eine historisch gewordene Macht repräsentiert, der man sich so weit als irgend möglich anzuschließen und unter¬ zuordnen hat. Die Herren von der »großen liberalen Partei" — groß bis jetzt nur auf dem Papiere — begriffen dies einst und handelten darnach gleich denen, welchen sie nunmehr den Rücken gewandt haben. Sie schlössen wie diese Compromisse, und sie hatten es nicht zu bereuen; denn nur durch verständige Nachgiebigkeit erreichte die nationalliberale Mittelpartei die ihr werthvollen Re¬ formen, die sie in Gemeinschaft mit dem Fürsten durchsetzte. Aber seit 1877 ist dies wesentlich anders geworden, und als der Reichskanzler erkennen mühte, daß die Nationalliberalen immer weniger Neigung kundgaben, mit den gemäßig¬ ten Konservativen seine Partei zu sein, war es natürlich, daß er sich Unter¬ stützung für seine Pläne in andern Lagern suchte; und daß die Herren, die jetzt das Nationale nicht mehr betonen und bloß noch Liberale sein wollen, dies übel empfanden, begreift sich ebenfalls. Wer büßt gern an Macht und Einfluß ein? Aber für die Wähler dieser Politiker existiert das Bedürfniß von Parteigrößen nicht. Wenn die Achtundzwanzig von den neuen Wahlen ein Additionsexempel erhofften, so kann es leicht ein Snbtractionsexempel geben. Die Altliberalen wußten davon ein Lied zu singen, die Fortschrittler gleicher¬ maßen, und die Nationalliberalen waren auch schon zahlreicher als in der letzten Periode. Der Instinkt des Volkes ist nun einmal zuweilen klüger als die Fractionsweisheit seiner Vertreter. Die Herbstsession des preußischen Landtags hatte wenig, was der Erwäh¬ nung in einem Berichte, der nur der Hauptsachen gedenken soll, werth wäre. Die Jnterpellation der Fortschrittspartei in Betreff der Stellung der Regierung zu der Antisemiten-Petition war kein glücklicher Gedanke und hat der Bewegung gegen die Juden keineswegs ein Ende gemacht. Im Gegentheile, die letztere ist damit nur mehr in die Öffentlichkeit getreten und in weitere Kreise gedrun¬ gen. Auch waren die Redner, welche die Sache Israels führten, mit ihren Argumenten aus dem alten Eisen, denen, welche die gegentheilige Ansicht vertraten und dabei ins Leben, in die Thatsachen griffen, durchaus nicht überlegen. Die Be- rathung des Cultusetats führte, wie hergebracht, wieder zu eiuer großen Cultur¬ kampfsdebatte, die indeß nicht viel Neues zu Tage förderte. Der conservative Cultusminister erfuhr von Seiten des Centrums dieselbe Kritik und hatte dieselben unerfüllbaren Forderungen abzulehnen wie sein liberaler Vorgänger. Erfreu-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/16
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/16>, abgerufen am 27.12.2024.