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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die Reformationen in der christlichen Welt.

zurückweisen und mit dem Satze sich gegenseitig entgegentreten: limoo Danach
se äovg. tsröntss. Es fehlt uns beiden Seiten vielfach an der ersten Bedingung
eines gesunden Friedens: dem Vertrauen zum ehrlichen guten Wollen und
Meinen des Andern. Und zu alledem ist der Abfall vom kirchlichen wie von
allem religiösen Glauben größer, qualitativ und quantitativ viel bedeutender
als zu den Zeiten unsrer Väter und Großväter; die Gemeinde, die zu dem
neuen Glauben von D. Fr. Strauß schwört, ist an manchen Stätten, wo die
Durchschnittscultur das große Wort führt, um ein Gutes zahlreicher als die
Schaaren, die unter den, sei es liberalen, sei es orthodoxen, Lehr- oder Prediger¬
kanzeln sich zusammenfinden. Wer unter solchen Umständen in unsern Tagen
von einer werdenden und zum Abschluß kommenden Reformation zu reden wagt,
ist wahrlich, so scheint es, der Lügenpropheten einer, die da rufen Friede, Friede,
und ist doch kein Friede.

Allein durch alle diese unliebsamen Erscheinungen der neuesten Gegenwart
läßt sich derjenige, der auf einer höhern Warte steht und an die unwider¬
stehliche, siegreiche Macht der echt christlichen Wahrheit glaubt, seine frohe Zu¬
versicht nimmermehr verkümmern und erschüttern, geschweige rauben und ertödten.
Wohl hat die römisch-katholische Kirche jetzt erst mit eiserner Consequenz ihren
mittelalterlichen Riesenbau mit seinen festgefugten Steinen bis unter das Dach
fertig gebracht und eine scheinbar unzerstörbare Zwingburg aufgeführt, und
desselben Erfolgs wähnt die Reaction in der evangelischen Kirche sich rühmen
und erfreuen zu dürfen. Aber wenn irgendwo wird sich in beiden Fällen das
Sprichwort bewahrheiten, daß der Bogen bricht, wenn er zu stark gespannt wird.

Die Brüche an beiden Bogen sind allerwärts so augenscheinlich und so
drohend, daß ein Umschwung, wo nicht eine Katastrophe nicht ausbleiben kann.
So viel ist jedenfalls gewiß, daß die denkenden Christen aller Confessionen
es satt haben, sich an die Wand drücken und dnrch Machtspruche einer eng¬
herzigen Minderheit -- denn die im sittlich religiösen Urtheil ungebildete Plebs
ist nicht zu rechnen -- ihre Existenzberechtigung in der Kirche decretiren zu
lassen. Sie sind und wollen sein und bleiben Glieder ihrer religiösen Gemein¬
schaft, wollen Sitz und Stimme in ihr haben. Sie lassen die Todten ihre
Todten begraben, für sich selbst aber fordern sie Licht und Luft in dem Ban
ihrer Kirche, das will sagen, ein von Symbolen zwangfreies, auf klaren und
einfachen Schriftworten beruhendes Glaubensbekenntniß, etwa in der Art und
Formulirung, wie sie von der frühern Generalsynode in Berlin festgestellt war.
Denn eine Gemeinde erfordert das Christenthum, und ohne Glaubensbekenntniß
ist der Bestand einer Gemeinde nicht denkbar.

So wenig aber als die neumodische Reaction in der katholischen und
evangelischen Kirche lassen wir uns bange machen durch den scheinbaren Sieg


Die Reformationen in der christlichen Welt.

zurückweisen und mit dem Satze sich gegenseitig entgegentreten: limoo Danach
se äovg. tsröntss. Es fehlt uns beiden Seiten vielfach an der ersten Bedingung
eines gesunden Friedens: dem Vertrauen zum ehrlichen guten Wollen und
Meinen des Andern. Und zu alledem ist der Abfall vom kirchlichen wie von
allem religiösen Glauben größer, qualitativ und quantitativ viel bedeutender
als zu den Zeiten unsrer Väter und Großväter; die Gemeinde, die zu dem
neuen Glauben von D. Fr. Strauß schwört, ist an manchen Stätten, wo die
Durchschnittscultur das große Wort führt, um ein Gutes zahlreicher als die
Schaaren, die unter den, sei es liberalen, sei es orthodoxen, Lehr- oder Prediger¬
kanzeln sich zusammenfinden. Wer unter solchen Umständen in unsern Tagen
von einer werdenden und zum Abschluß kommenden Reformation zu reden wagt,
ist wahrlich, so scheint es, der Lügenpropheten einer, die da rufen Friede, Friede,
und ist doch kein Friede.

Allein durch alle diese unliebsamen Erscheinungen der neuesten Gegenwart
läßt sich derjenige, der auf einer höhern Warte steht und an die unwider¬
stehliche, siegreiche Macht der echt christlichen Wahrheit glaubt, seine frohe Zu¬
versicht nimmermehr verkümmern und erschüttern, geschweige rauben und ertödten.
Wohl hat die römisch-katholische Kirche jetzt erst mit eiserner Consequenz ihren
mittelalterlichen Riesenbau mit seinen festgefugten Steinen bis unter das Dach
fertig gebracht und eine scheinbar unzerstörbare Zwingburg aufgeführt, und
desselben Erfolgs wähnt die Reaction in der evangelischen Kirche sich rühmen
und erfreuen zu dürfen. Aber wenn irgendwo wird sich in beiden Fällen das
Sprichwort bewahrheiten, daß der Bogen bricht, wenn er zu stark gespannt wird.

Die Brüche an beiden Bogen sind allerwärts so augenscheinlich und so
drohend, daß ein Umschwung, wo nicht eine Katastrophe nicht ausbleiben kann.
So viel ist jedenfalls gewiß, daß die denkenden Christen aller Confessionen
es satt haben, sich an die Wand drücken und dnrch Machtspruche einer eng¬
herzigen Minderheit — denn die im sittlich religiösen Urtheil ungebildete Plebs
ist nicht zu rechnen — ihre Existenzberechtigung in der Kirche decretiren zu
lassen. Sie sind und wollen sein und bleiben Glieder ihrer religiösen Gemein¬
schaft, wollen Sitz und Stimme in ihr haben. Sie lassen die Todten ihre
Todten begraben, für sich selbst aber fordern sie Licht und Luft in dem Ban
ihrer Kirche, das will sagen, ein von Symbolen zwangfreies, auf klaren und
einfachen Schriftworten beruhendes Glaubensbekenntniß, etwa in der Art und
Formulirung, wie sie von der frühern Generalsynode in Berlin festgestellt war.
Denn eine Gemeinde erfordert das Christenthum, und ohne Glaubensbekenntniß
ist der Bestand einer Gemeinde nicht denkbar.

So wenig aber als die neumodische Reaction in der katholischen und
evangelischen Kirche lassen wir uns bange machen durch den scheinbaren Sieg


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[0154] Die Reformationen in der christlichen Welt. zurückweisen und mit dem Satze sich gegenseitig entgegentreten: limoo Danach se äovg. tsröntss. Es fehlt uns beiden Seiten vielfach an der ersten Bedingung eines gesunden Friedens: dem Vertrauen zum ehrlichen guten Wollen und Meinen des Andern. Und zu alledem ist der Abfall vom kirchlichen wie von allem religiösen Glauben größer, qualitativ und quantitativ viel bedeutender als zu den Zeiten unsrer Väter und Großväter; die Gemeinde, die zu dem neuen Glauben von D. Fr. Strauß schwört, ist an manchen Stätten, wo die Durchschnittscultur das große Wort führt, um ein Gutes zahlreicher als die Schaaren, die unter den, sei es liberalen, sei es orthodoxen, Lehr- oder Prediger¬ kanzeln sich zusammenfinden. Wer unter solchen Umständen in unsern Tagen von einer werdenden und zum Abschluß kommenden Reformation zu reden wagt, ist wahrlich, so scheint es, der Lügenpropheten einer, die da rufen Friede, Friede, und ist doch kein Friede. Allein durch alle diese unliebsamen Erscheinungen der neuesten Gegenwart läßt sich derjenige, der auf einer höhern Warte steht und an die unwider¬ stehliche, siegreiche Macht der echt christlichen Wahrheit glaubt, seine frohe Zu¬ versicht nimmermehr verkümmern und erschüttern, geschweige rauben und ertödten. Wohl hat die römisch-katholische Kirche jetzt erst mit eiserner Consequenz ihren mittelalterlichen Riesenbau mit seinen festgefugten Steinen bis unter das Dach fertig gebracht und eine scheinbar unzerstörbare Zwingburg aufgeführt, und desselben Erfolgs wähnt die Reaction in der evangelischen Kirche sich rühmen und erfreuen zu dürfen. Aber wenn irgendwo wird sich in beiden Fällen das Sprichwort bewahrheiten, daß der Bogen bricht, wenn er zu stark gespannt wird. Die Brüche an beiden Bogen sind allerwärts so augenscheinlich und so drohend, daß ein Umschwung, wo nicht eine Katastrophe nicht ausbleiben kann. So viel ist jedenfalls gewiß, daß die denkenden Christen aller Confessionen es satt haben, sich an die Wand drücken und dnrch Machtspruche einer eng¬ herzigen Minderheit — denn die im sittlich religiösen Urtheil ungebildete Plebs ist nicht zu rechnen — ihre Existenzberechtigung in der Kirche decretiren zu lassen. Sie sind und wollen sein und bleiben Glieder ihrer religiösen Gemein¬ schaft, wollen Sitz und Stimme in ihr haben. Sie lassen die Todten ihre Todten begraben, für sich selbst aber fordern sie Licht und Luft in dem Ban ihrer Kirche, das will sagen, ein von Symbolen zwangfreies, auf klaren und einfachen Schriftworten beruhendes Glaubensbekenntniß, etwa in der Art und Formulirung, wie sie von der frühern Generalsynode in Berlin festgestellt war. Denn eine Gemeinde erfordert das Christenthum, und ohne Glaubensbekenntniß ist der Bestand einer Gemeinde nicht denkbar. So wenig aber als die neumodische Reaction in der katholischen und evangelischen Kirche lassen wir uns bange machen durch den scheinbaren Sieg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/154>, abgerufen am 27.12.2024.